In einer gemeinsamen Videokonferenz des GRK zusammen mit dem Forschungskolloquium der Lehrstühle für Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie für Europäische Geschichte an der UR referierte am 17.06.2020 Dr. Leonardo Ridolfi (post-doctoral fellow am Department of Economics and Statistics an der Università degli studi di Siena, davor: Sant'Anna School of Advanced Studies, Pisa). Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Entwicklung des materiellen Lebensstandards in französischen Städten vom Mittelalter bis zur Neuzeit auf Basis von Löhnen und Preisen sowie den Arbeitszeiten und -umständen unterschiedlicher Berufsgruppen in der longue durée - quasi von Ludwig IX. bis zu Napoleon III.
Ridolfis erster Vortrag im Kreis der Regensburger Wirtschafts- und Sozialhistoriker/innen liegt gut 2 Jahre zurück und befasste sich mit der Reallohnentwicklung in Frankreich auf Basis von städtischer Quellenüberlieferung. 2020 griff sein Vortrag nun einen Aspekt auf, der nicht zuletzt in tagesaktuellen Diskursen zu Diversitätsfragen Beachtung erfährt: genderbezogene Unterschiede bei Arbeit und Auskommen.
Wirtschafshistoriker/innen wie Jörg Baten, Alexandra de Pleijt oder Dorothée Crayen vermuten nämlich einen positiven kausalen Zusammenhang zwischen gender equality und ökonomischem Wachstum, der sich bereits in der historischen Entwicklung von Wohlstand(sverteilung) im Vergleich europäischer Regionen manifestieren würde, und zwar aufgrund impliziter Auswirkungen auf das Fortpflanzungsverhalten und die Genese von „Humankapital“, also Bildung und technischem Fortschritt.
Traditionell geht man von einem beinahe klischeehaften Muster aus: im protestantisch geprägten Nordwesten Europas fände man durchgehend ein höheres Maß an weiblicher Erwerbsarbeit und Autonomie, für Südeuropa hingegen würden sich vermehrt patriarchale Strukturen und dadurch bedingt eine stärker ausgeprägte und länger fortwährende gender inequality konstatieren lassen.
Jüngere Forschungen hinterfragen allerdings, oftmals über die empirische Analyse lokaler Daten, die Allgemeingültigkeit solcher Annahmen. Stattdessen vermutet man regional und epochal fragmentierte Entwicklungen, die u.a. auch zwischen Metropolen und agrarisch geprägtem Umland bzw. nach den jeweils vorherrschenden Leitbranchen divergieren. Leonardo Ridolfi untersucht diesbezüglich relevante Faktoren der gender equality für den Südwesten Frankreichs (Nouvelle-Aquitaine, insbesondere Bayonne) anhand von archivalischer Überlieferung zu Körpergrößen (über Hospitalregister und Passdaten, die seit Ludwig XI. mit einer Unterbrechung von lediglich 4 Jahren während der Französischen Revolution vorliegen), sektoraler Frauenerwerbstätigkeit und Literazität (über die Quantifizierung der Unterschriftsfähigkeit auf Dokumenten). Die Zwischenergebnisse dieser Studie wird die Fachöffentlichkeit demnächst als working paper rezipieren können.
Wieder erwies es sich die diverse Zusammensetzung der Zuhörendengruppe – von Ökonometriker/innen bis zu Kulturhistoriker/inne/n, Theolog/inn/en, Archäolog/inn/en... – als überaus positiv. Trotz der komplexen statistischen Modellierungen, die auch im heterogenen Methodenspektrum der Wirtschaftsgeschichte nicht unbedingt zum Standardrepertoire zählen, brachten die daraus resultierenden Beobachtungen zu Anthropologie, Literazität und Beschäftigungsmustern nachdenkenswerte Aspekte für fast alle Interessenschwerpunkte im GRK, auch wenn methodologische Debatten dazugehören und bei einer künftigen Fortsetzung gemensam mit Leonardo Ridolfi weiter vertieft werden.
Das DFG-GRK 2337 „Metropolität in der Vormoderne“ dankt dem Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Prof. Dr. Mark Spoerer, Mitglied im Trägerkreis des Graduiertenkollegs), dem Lehrstuhl für Europäische Geschichte sowie der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Erster Vorsitzender: Prof. Dr. Mark Spoerer) für die Mitorganisation dieses komplexen und anregenden, interdisziplinär durchaus anschlussfähigen Vortrags!