Ein Vortrag von Dr Sean Griffin vom Department of Russian des Dartmouth College in Hanover, New Hampshire - einer der renommiertesten Forschungsinstitutionen dieses Fachgebiets in Nordamerika – eröffnete am 23. Oktober 2019 das Forschungskolloquium des DFG-GRK 2337 „Metropolität in der Vormoderne".
Auf methodisch breiter Basis beschäftigt sich der Philologe und Historiker nach seiner Promotion im Fach Slavistik (2014 an der UCLA) mit russischer sowie ukrainischer Gegenwartskultur, als auch weiterhin intensiv mit der Frühzeit der Rus und deren politischen und sozio-kulturellen Verflechtungen mit dem byzantinischen Imperium.
Im GRK-Kolloquium diskutierte Griffin seine 2019 bei Cambridge University Press veröffentlichte Monographie: den Band "The Liturgical Past in Byzantium and Early Rus", der aus seinem Dissertationsthema zur “Byzantine Liturgy and the Primary Chronicle [=Nestorchronik]” hervorgegangen ist.
Zum Einstieg spannte Sean Griffin den Bogen von seinem erweitertem Verständnis der orthodoxen Liturgie als machtstrategisch und erinnerungskulturell wirksamem Instrument vom Mittelalter zur Zeitgeschichte, indem er anekdotisch auf die Enthüllung der 16 Meter hohen St. Vladimir-Statue in unmittelbarer Nähe des Kreml hinwies, die Anfang November 2016 in Anwesenheit des russischen Präsidenten Putin und des orthodoxen Kirchenoberhaupts, des Patriarchen Kyrill, stattfand und angesichts des russisch-ukrainischen Konflikts von der internationalen Öffentlichkeit kontrovers aufgenommen worden war. Denn vor dem Licht der Tatsache, dass die Christianisierung des ostslawischen Raums im Jahr 988 durch den Heiligen Vladimir (ukr. Volodymyr) in der Stadt Kiev erfolgte, reklamieren heute sowohl die Russische Föderation, als auch die Ukraine den Rurikiden als mythische Gründungsfigur.
Griffin betrachtet diese machtstrategisch motivierte Symbolpolitik als praxeologische Kontinuität, die sich als wiederholt vorkommendes Narrativ auf Basis älterer Mythen schon in der Nestorchronik zeige: ein Vergleich der Prozessionen zur Verehrung des Heiligen Konstantin und dessen Mutter Helena in Byzanz offenbart Parallelen zur Verehrung des später kanonisierten Kiever Fürsten Vladimir und dessen Vorfahrin Olga. Die Kirche der Rus habe sich diesen Mythos quasi angeeignet, was Griffin über eine detaillierte Quellenanalyse, etwa der Nestorchronik, herausstellt. Ganz ähnliche geschichts- bzw. erinnerungspolitische Mechanismen dienten also sowohl 2016 als auch bereits im 10. Jahrhundert als Mittel zur Durchsetzung eines Herrschaftsanspruchs.
Um nachvollziehen zu können, auf welchen Wegen die byzantinischen Riten nach der Christianisierung des ostslawischen Raums im Interesse der Kiever Fürsten auch realpolitisch wirksam wurden, stellt Griffin die Frage nach dem Ursprung ihrer Rezeption in der Rus. Anhand von Kirchenbüchern zeichnet er eine chronologische Entwicklungslinie von Konstantinopel über verschiedene Klöster am Marmara-Meer und schließlich das Bulgarische Reich bis nach Kiev als Geschichte eines Wissenstransfers über das transportable Medium Buch nach. Die frühesten Bücher, die Kiev in slavonischer Übersetzung aus dem Westbalkan erreichten, stimmen offenbar so genau mit jenen aus Konstantinopel überein, dass Griffin einigen lokalen Varianzen zum Trotz zur Bewertung der Rus als „liturgische Kolonie von Byzanz“ kommt.
Die in Messbüchern erhaltene spezifisch ostslawische Liturgie interpretiert Sean Griffin als Beispiel einer in der lateinischen Kirche schon länger verwendeten Speicher-Technologie für Wissen betreffend des religiös-kulturellen Alltagslebens. Bibel(übersetzungen) erreichten erst relativ spät nach der Christianisierung die Rus. Der sozialhistorische Aussagegehalt der von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen täglich praktizierten Riten, wie sie den Kirchenbüchern entnommen werden können, sei von Geschichtswissenschaft und Philologie nicht selten übersehen worden: beispielsweise lieferten Narrative, die hinter dem Textinhalt und hinter der Auswahl bestimmter Hymen stünden, Schlaglichter für eine Neuinterpretation von Vorgängen während der Christianisierungsperiode der Rus. Einschränkend wies der Referent auf dieser Methode inhärente Herausforderungen beim konkreten Quellenstudium hin, z.B. im Hinblick auf die Edition, Transkription und Übersetzung.
Nichtsdestotrotz biete die Analyse liturgiewissenschaftlicher Quellen Einblicke den Prozess geschichtspolitischer Mythenbildung. Durch konkrete Quellenbeispiele illustrierte Griffin das dafür notwendige Handwerkszeug symbolischer Kommunikation. Über die materielle Kultur zeige sich eine enge Verzahnung zwischen Liturgie und Historiographie. Mit Verweis auf Elemente der Bildenden Kunst in römisch-imperialer Tradition erläuterte Griffin an Ausschnitten aus der Nestorchronik seine Auffassung der Konstruktion von „Geschichte“ als Narrativ im Dienste machtpolitischer Interessen in der Frühzeit der Rus.
Hinsichtlich der Aussageintention hätte sich Kiev dennoch am Diktum „worshippers first, historians second“ orientiert, wie sich aus der relativ dichten Überlieferungslage ableiten lasse: so kommt man von der byzantinischen Traditionslinie der Liturgie (etwa den eingangs erwähnten Festprozessionen für Konstantin und Helena), bezieht diese auf zeitaktuelle Begebenheiten und machtpolitische Konstellationen (i.e. die Christianisierung des ostslawischen Raums mit und durch dessen Protagonisten – viele Quellen befassen sich beispielsweise mit den Heiligen Olga, Vladimir, Boris und Gleb aus der rurikidischen Herrscherdynastie) – und integriert diese wiederum in die Liturgie, wie sie von Kiev aus in die gesamte Rus ausstrahlte. In einem abstrakten Modell bezeichnet Sean Griffin diesen Dreisprung von der byzantinischen Liturgie über die lokale Historiographie hin zur in der Rus praktizierten Liturgie als „liturgic loop“.
Durch die Emphase der Kontinuitätslinie vom Herrscherhaus zu kanonisierten Heiligen, die sich in der Parallele zwischen Konstantin und Helena sowie Vladimir und Olga spiegelt, geht die politisch-ideologische Konstruktion einer spirituell legitimierten Herrscherdynastie in die Alltagserfahrung breiter gesellschaftlicher Gruppen über. Hingegen war die Rezeption kirchlicher Bücher nur einer relativ kleinen Gruppe von Experten, oft sekludiert in mönchischen Gemeinschaften, vorbehalten gewesen. In diesem Sinne sei die „Russifizierung“ der liturgischen Vergangenheit für unterschiedliche Personenkreise verschieden schnell verlaufen.
Durch die Aufnahme lokaler Heiliger aus der Fürstendynastie und deren textueller wie visueller Repräsentation im Buchhandwerk, in der Ikonographie und Architektur formte, so das Fazit von Sean Griffin, die ostkirchliche Liturgie die allgemeine Wahrnehmung der jüngeren Geschichte der Rus und ihrer Protagonisten vom 10. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts.
Anschließend an Sean Griffins Vortrag wurden im Kreis der GRK-Mitglieder und Zuhörer mit Osteuropaschwerpunkt (CITAS) zunächst das Phänomen einer diachron und synchron verbreitet scheinenden Korrelation von “heiligen” Dynastie mit autokratischer Machtfülle und die dahinterliegenden Mechanismen politischer Kommunikation diskutiert. Daneben wurde die Frage nach nordisch-skandinavischen Elementen der in Kiev praktizierten Liturgie aufgeworfen. Deren Einfluss sei jedoch weniger nach der Christianisierung der Rus zum Tragen gekommen, sondern hätte sich stärker innerhalb der paganen Rus entfaltet gehabt.
Des Weiteren wurde diskutiert, bis zu welchem Grad die „Autochthonisierung“ der byzantinischen Liturgie als Imitation verstanden werden könne, und ob mit der Stilisierung eines „dritten Roms“ eine bewusste Differenzierung von der griechischen Tradition einhergegangen sei, die von der Bevölkerung im religiösen und politischen Zentrum Kiev, aber auch in der ostslawischen Peripherie, habe nachvollzogen werden können. Unabhängig davon sei in beiden Metropolen – Konstantinopel und Kiev – bei den Eliten ein aktives Bewusstsein über die Instrumentalisierbarkeit der Liturgie als, wie Griffin es nennt, „Propagandatechnologie“ zu konstatieren.
Durch die liturgie-, kirchen- und kunsthistorischen, aber gleichzeitig auch politologischen, sprach- und kulturwissenschaftlichen sowie sozialhistorischen Implikationen seines Vortrags zu "God and Governance: Byzantine Liturgical Technologies in Early Rus" wurden Kernaspekte des Forschungsprogramms des GRK 2337 zur Metropolität berührt. Das Kolleg dankt Dr Sean D. Griffin für die Denkanstöße des Eröffnungsvortrags im Forschungskolloquium des WS 2019/20!