Während sich seine Spielkameraden in die weiße Pracht auf Schlitten und Skiern stürzten, betrachtete der Farmer Wilson Alwyn Bentley (1865-1931) aus Vermont schon als Jugendlicher stundenlang Schneekristalle unter einem Mikroskop in einer zugigen Scheune.
Am 15. Januar 1885 gelang ihm in einem selbst entwickelten Verfahren, Schneekristalle unter einem Mikroskop zu fotografieren. Seine Leidenschaft, die anfänglich auf dem Lande für Unverständnis sorgte, hielt bis zu seinem Tod an. Bentley hinterließ mehr als 5.000 Aufnahmen von Schneekristallen, von denen er 2.400 in seinem morphologischen Buch „Snow Crystals“ 1931 veröffentlichte. Seine Fotoplatten werden heute im Buffalo Museum of Science verwahrt. Bentley versuchte sich – wie andere vor ihm – an einer Systematik der Schneekristalle. (Text: Versuch einer Systematik)
Die Behauptung, dass Bentley als Erstem gelang, Schneeflocken zu fotografieren, darf mittlerweile als widerlegt betrachtet werden. Bereits sechs Jahre zuvor hatte Johann Heinrich Ludwig Flögel (1834-1918), ein deutscher Jurist und Naturwissenschaftler, am 1. Februar 1879 in 46-facher Vergrößerung zwei Schneekristalle („Schneetafeln“) abgelichtet. Unter seinen Fotografien notierte er akribisch Zeit, Temperatur, Vergrößerung sowie Aussehen: „2 Schneetafeln mit Blumencolorithartigen Strahlen, Vergrößerung 46fach. Diese Tafeln fielen aus heiterem Himmel auf die ausgelegte Platte und waren so klein, dass sie mit blossem Auge kaum gesehen kaum gesehen [kaum gesehen: doppelt, wohl Fehler] werden konnten. Auch das parasitisch auf der einen Tafel sitzende viel kleinere Täfelchen zeigt die Blumenblattform. Gehört zu den seltensten Vorkommnissen!“ (Originaltext zu Nr. 12, der ersten Fotografie von Schneekristallen, zitiert nach Wikipedia).
No two snowflakes are alike.
(Wilson Bentley, 1922)
Durch die vielfältigen Einflüsse, die auf die Schneekristalle bei ihrer komplexen Bildung einwirken, kann davon ausgegangen werden, dass die komplizierten Gebilde als unikal zu betrachten sind. Die hohe kombinatorische Möglichkeit der vielen Einzelmerkmale schließt die Identität zweier Schneekristalle nahe zu aus. Dennoch findet sich in der Literatur der Hinweis, dass – logischerweise – zwei Schneekristalle identisch wachsen können, wenn sie exakt den gleichen Bedingungen unterworfen sind. Nancy Knight (National Center for Atmospheric Research, Colorado) veröffentlichte 1988 Fotos, auf denen vermeintlich identische Schneekristalle unter dem Mikroskop zu erkennen waren. Unabhängig von der Definition, ab wann man von einer Gleichheit sprechen darf, lassen sich bei genauerer Untersuchung auf molekularer Ebene im Kristallgitter winzige Abweichungen feststellen. Selbst bei kleinsten hexagonalen Plättchen, also der einfachsten Form eines Schneekristalls, muss von minimalen Abweichungen ausgegangen werden. Die Aussage Bentleys behält daher ihre Gültigkeit. Nancy Knight hingegen befand ihre Arbeit durch die Presse missverstanden, indem die Formulierung alike gegen no two alike sensationsgierig ausgespielt und ähnlich und mit identisch unzulässig gleich gesetzt worden wären.
Kenneth Libbrecht gelang es, unter kontrollierten Laborbedingungen „identical-twin“ Schneekristalle zu züchten. Er verwendet bewusst diesen Begriff, um die frühere Diskussion um Identität zu vermeiden: „No two alike? Not any more... This page describes some „identical-twin” snowflakes I have been making in the lab. I use this term because, like identical-twin people, these snow crystal twins are clearly very similar to one another, although they are not precisely identical.“ Im Gegensatz zu seinen Designer-Schneekristallen, wie er seine gezüchteten Kristalle nennt, spricht er bei natürlichen Schneekristallen von auffallender Ähnlichkeit, sie seien von „nearly the same shape”.
Das umfangreiche Vermächtnis des Schneekristallfotografen Bentley zieht auch heute noch nicht nur Naturwissenschaftler in ihren Bann: Mehrere Bildbände wurden verlegt, eine biographische Erzählung und sogar ein Bilderbuch („Snowflake Bentley“) verfasst, das kleinen Forschern vermittelt, wie wichtig es ist, an Träumen festzuhalten.