Reisen durch Eis und Schnee wurden jahrhundertelang als lebensgefährliche Unternehmungen geschildert. So galt es, vor allem die verschneiten Berge zu meiden: Unvorhersehbare Situationen wie das Steckenbleiben in Schneemassen, Orientierungslosigkeit im Schneesturm, Tod durch Erfrieren sowie Lawinenabgänge ließen Reisen zu waghalsigen Expeditionen und existentiellen Grenzerfahrungen werden. In der Antike ging die warnende Kunde, dass Hannibal die Hälfte seiner Truppen bei der winterlichen Alpenüberquerung verloren habe. Noch in der Neuzeit rief der Anblick von Schneefeldern so viel Angst hervor, dass den Reisenden übel wurde: Augen wurden verbunden und die Vorhänge der Kutsche zugezogen.
Der Blick auf die wilde, ungebändigte Natur änderte sich erst im 18. Jahrhundert durch philosophische, literarische und naturwissenschaftliche Ansätze. Die Natur wurde nicht nur als Studien- und Beobachtungsobjekt im ästhetischen oder wissenschaftlichen Sinn, sondern vielmehr als Raum des inneren Erlebens wahrgenommen. Naturwissenschaft (z. B. Geographie, Botanik, Geologie, etc.) und Gefühlskultur stehen dabei nicht unbedingt in einem gegensätzlichen, sondern vielmehr komplementären Verhältnis zueinander. Die wissenschaftliche Entzauberung der Natur (z. B. Vermessung und damit Messbarkeit der Berge) eröffnete zugleich die Vorstellung einer metaphysischen Schöpferkraft. Das individuelle Empfinden entspringt damit nicht einer Realitätsflucht, sondern einer Verbindung zwischen innerer und äußerer Welt in dem Wissen um eine höhere Macht: Der romantische Zugang ist dialogisch zwischen Mensch und Natur angelegt. Albrecht von Haller hatte bereits 1729 in seinem Gedicht „Die Alpen“ eine literatur-ästhetische Perspektive in Form des Unerreichbaren, Nichtfassbaren und Übermenschlichen der Natur aufgezeigt und den Weg für eine spätere empirisch-sensualistische Annäherung bereitet.
In der Romantik gegen Ende des 18. Jahrhunderts suchte man das Phänomen des Sublimen nicht nur durch passive Kunst- und Literaturrezeption zu erfahren, sondern dieses durch aktives Naturerleben und subjektive Erfahrung in einen produktiven Prozess zu verwandeln. Auch Naturwissenschaftler konnten sich nicht diesem Gefühlszustand entziehen, wenn sie in Steinen und Kristallen Urgeheimnisse des Erdreichs in romantischem Sinn vermuteten.
Der ambivalente Reiz am Überwältigenden und Wechselhaften ging einher mit dem Angsteinflößenden, was Kant als „vermischte Empfindung“ bezeichnete. Die Erhabenheit des Gebirges drückt sich damit nicht nur in seiner sinnlich unfassbaren Dimension, sondern auch durch seine existenzvernichtende Urgewalt aus, der etwas Unheimliches und Schaudererregendes anhaftet. Vor diesem Hintergrund ist der Schritt zu Edmund Burkes „delightful horror“ in seiner Vorstellung des Erhabenen (sublime) in der Mitte des 19. Jahrhunderts nur noch ein kleiner: “Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime […].”
Die Verknüpfung von „obscurity and suspense“ sollte nicht nur der Gothic Novel ihren literarischen Ausdruck finden, sondern durch die Lust am Entsetzlichen (im Sinne der Erhabenheit) die dunkle und paradoxe Seite des Metaphysischen hervorheben.
Durch die Verbreitung von romantischer Landschaftsbeschreibung, naturkundlichen Betrachtungen und monumentaler Bergkulissen auf Ölgemälden wurde das Interesse der Städter geweckt, sich zur Sommerfrische ins Gebirge zu begeben, um zu kuren, an gemäßigten Wanderungen teilzunehmen oder sich in der Kunst zu versuchen, um sich der Grenzerfahrung des Erhabenen auszusetzen. Anfänglich wurden die verschneiten Regionen für derartige Unternehmungen gemieden: Neben der Sommerfrische wurde in der kalten Jahreszeit der „Urlaub vom Winter“ gepflegt, d. h. die Flucht in wärmere Gegenden mit mildem Klima.
Carl Roux: Was einem Alles mit einem Hornvieh passieren kann! Münchener Bilderbogen Nr. 481. Jg. 21. 1868/69. Nachlass Franz Langlotz. Universitätsbibliothek Regensburg.
Salongemüter genügte bereits der Gletscher von Chamonix, der sich vom Gipfel des Mont Blanc bis zu dem gleichnamigen Dorf als Eismeer (mer de glace) ergoss: Auch das Ehepaar Shelley begeisterte sich an diesem Ehrfurcht einflößendem Naturspektakel. Mary Shelley arbeitete ihre Reiseeindrücke ebenso wie die aktuell geführte Diskussion über die Nordpassage durch den Pazifik („arctic fever“) in ihren Schauerroman „Frankenstein or the modern Prometheus“ ein, der nach mehreren Überarbeitungen vor zweihundert Jahren seine endgültige Gestalt (1818) annahm.
Es mag verwundern, warum wir ausgerechnet dieses literarische, leider medial zumeist verfremdete Werk als literarisches Beispiel wählen: Die Spiegelung von grenzüberschreitendem Verhalten und erhabenem Grauen findet ihren Ausdruck in einer lebensbedrohenden, unermesslichen Weite aus Eis und Schnee. Die Erzählung über den Schweizer Arzt Viktor Frankenstein wird durch Briefe eines Expeditionsleiters an seine Schwester gerahmt, der unter allen Umständen - auch unter Gefahr für sich und seine Mannschaft – eine Passage zum Nordpol finden möchte. Als sein Schiff von Eismassen bedrängt wird, hält er in seinem Forschungswahn unbeirrt fest, bis ihm der gerettete Fremde, Frankenstein, seine Geschichte erzählt und ihn zum Umdenken bewegt: „I was easily led by the sympathy which he evinced, to use the language of my heart; to give utterance to the burning ardour of my soul; and to say, with all the fervour that warmed me, how gladly I would sacrifice my fortune, my existence, my every hope, to the furtherance of my enterprise. One man’s life or death were but a small price to pay for the acquirement of the knowledge which I sought; for the domination I should acquire and transmit over elemental foes of our race. […] - [Frankenstein:] „Unhappy man! Do you share my madness? […] Hear me, - let me reveal my tale, and you will dash the cup from your lips!“
In der Binnenerzählung nimmt das Treffen Frankensteins mit seiner Kreatur nach dem Schöpfungsprozess eine Wende im Roman ein: Frankenstein erkennt seine einstige Hybris, menschliche Materie in Form eines Homunculus gottgleich erschaffen zu wollen. Anstelle eines Menschen als Krone der Schöpfung im christlichen Sinn hat er ein mordendes, abstoßendes Wesen erschaffen. In den lebensfeindlichen Gletscherwüsten von Chamonix versucht Frankenstein seine Seelenruhe aus Kindertagen zu wiederfinden, erfährt jedoch in einem unerwarteten Zusammentreffen mit seinem Geschöpf, dass er ein lernendes und empfindendes Wesen geschaffen hat, das nicht durch Veranlagung, sondern durch Umwelt und Umstände böse geworden ist. Die Grenze von Schuld und Unschuld verschwimmt bei beiden Protagonisten. Die innere seelische Zerrissenheit um Qual und Schuld verbindet Frankenstein mit seiner Kreatur und findet in den Schilderungen des Eismeeres von Chamonix im Sinne des Erhabenen ihre Entsprechung. Die medizinisch-experimentelle Überwindung der Naturgesetze wirft Frankenstein letztendlich auf elementare, metaphysische Fragen des Schöpferakts zurück: die scheinbar menschliche Überlegenheit erweist sich als Scheitern der menschlichen Vernunft und destruktives Handeln im Größenwahn.
[S. 147 f.] Sometimes I could cope with the sullen despair that overwhelmed me: but sometimes the whirlwind passions of my soul drove me to seek, by bodily exercise and by change of place, some relief from my intolerable sensations. It was during an access of this kind that I suddenly left my home, and bending my steps towards the near Alpine valleys, sought in the magnificence, the eternity of such scenes, to forget myself and my ephemeral, because human, sorrows. My wanderings were directed towards the valley of Chamounix. I had visited it frequently during my boyhood. Six years had passed since then: I was a wreck – but nought had changed in those savage and enduring scenes. […]
[S. 148] The weight upon my spirit was sensibly lightened as I plunged yet deeper in the ravine of Arve. The immense mountains and precipices that overhung me on every side – the sound of the river raging among the rocks, and the dashing of the waterfalls around, spoke of a power mighty as Omnipotence – and I ceased to fear, or to bend before any being less almighty than that which had created and ruled the elements, here displayed in their most terrific guise. Still, as I ascended higher, the valley assumed a more magnificent and astonishing character. Ruined castles hanging on the precipices of piny mountains; the impetuous Arve, and the cottages every here and there peeping forth from among the trees, formed a scene of singular beauty. But it was augmented and rendered sublime by the mighty Alps, whose white and shining pyramids and domes towered above all, as belonging to another earth, the habitations of another race of beings.
[…] [S. 149] Immense glaciers approached the road; I heard the rumbling thunder of the falling avalanche, and marked the smoke of its passage. Mont Blanc, the supreme and magnificent Mont Blanc, raised itself from the surrounding aiguilles, and its tremendous dôme overlooked the valley.
[…] Chapter [X S. 151] I stood beside the sources of the Arveiron, which take their rise in a glacier, that with slow pace is advancing down from the summit of the hills, to barricade the valley. The abrupt sides of vast mountains were before me; the icy wall of the glacier overhung me; a few shattered pines were scattered around; and the solemn silence of this glorious presence-chamber of imperial Nature was broken only by the brawling waves, or the fall of some vast fragment, the thunder sound of the avalanche, or the cracking, reverberated along the mountains, of the accumulated ice, which, through the silent working of immutable laws, was ever and anon rent and torn, as if it had been but a plaything in their hands. These sublime and magnificent scenes afforded me the greatest consolation that I was capable of receiving. They elevated me from all littleness of feeling; and although they did not remove my grief, they subdued and tranquillised it.