Anders als Kepler widmet Descartes dem Niederschlagsphänomen Schnee nicht eine eigene Schrift, sondern bespricht diese Naturerscheinung neben Regen und Hagel im sechsten Kapitel seines Essays Les Météores, zumal die hexagonale Form des Schneekristalls „eines der außergewöhnlichsten Wunder der Natur geblieben“ sei. (Zit. n. Zittel: Météores. S. 33)
Diese Abhandlung wurde von Descartes nicht als selbstständiges Werk publiziert, sondern als angewandte „Probe“ für eine neue philosophische Methode zur Erforschung der Natur, den Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, & chercher la verité dans les sciences. Plus La dioptrique, les météores et la géométrie, qui sont des essais de cete méthode (1637):
Aber ich will Ihnen wohl gestehen, daß die ganze Absicht, in der ich dieses Mal drucken lasse, nur besteht, den Weg für die Physik vorzubereiten und auszuforschen. Ich trage zu diesem Zweck die allgemeine Methode vor, die ich in Wirklichkeit nicht lehre; ich versuche aber Proben von ihr in den drei folgenden Abhandlungen zu geben, die ich mit dem Gespräch, in dem davon die Rede ist, vereinige und für die ich als erstes ein aus der Philosophie und Mathematik gemischtes Thema wähle [die Dioptrik], als zweites ein reich philosophisches [die Meteore] und als ein drittes ein rein mathematisches [die Geometrie].
(Auszug aus einem Brief an einen Unbekannten, zit. n. Zittel: Météores. S. 18.)
Es mag heutige Leser wundern, welcher Zusammenhang zwischen diesen scheinbar heterogenen Themen innewohnt und welchen Stellenwert die Schneekristalle einnehmen. Der Grund ist in der Bedeutung der sogenannten „Meteore“ (griech. μετέωρος: in der Luft schwebend“) zu suchen: Noch bis in das 19. Jahrhundert wurden unter dem Begriff alle Arten von Leucht- und Wettererscheinungen subsumiert, die sich zwischen Erde und Mond abspielen. Darunter fielen Sternschnuppen, Kometen, Regenbögen, Gewitter, Wolken, Niederschläge in Form von Regen, Eis, Schnee und Erdbeben, da letztere ein atmosphärisches Leuchten verursachen können. Die Meteorologie sollte ebenso Kondensationsvorgänge erklären sowie Eigenschaften und Struktur der Erdoberfläche bis hin zu ihren kleinesten Teilchen, u. a. auch den Aufbau von Mineralien. Im Gegensatz zu den berechenbaren Planetenbahnen (vgl. die Keplerschen Gesetze) war für den sublunaren Bereich keine mathematisch-physikalische Darstellbarkeit gefunden worden.
So versuchte die Meteorologie mit Hilfe exakter Beobachtung und akribischer Dokumentation überprüfbare Thesen aufzustellen, Analogien zu erkennen und die aus empirischen Daten gewonnenen Erkenntnisse auf verwandte Fragestellungen anzuwenden: Noch 140 Jahre später fügte der Emmeramer Mönch Placidus Heinrich seinen Observationes meteorologicae demographische Notizen für Regensburg (Geburts- und Sterbestatistiken) und Zeitungsausschnitte über bemerkenswerte Naturereignisse wie Überschwemmungen und Erdbeben bei. Möchte man den damaligen Forschungsbereich der Meteorologie in heutige Disziplinen fassen, muss man weit ausholen: In ihr finden sich Bereiche der Elementarphysik, Kosmologie, Klimatologie, Ethnographie ebenso wie der Chemie, Geologie, Hydrologie, Kristallographie, Optik und der (heute wesentlich enger umrissenen) Meteorologie wieder.
Descartes verfolgte in seinen Météores ein anderes Ziel als Kepler, dessen Abhandlung er sich (neben Gassendis Studien) schicken ließ. Ihn sollten die Entstehungsprozesse und -bedingungen der Schneekristalle innerhalb einer Wolke und deren langer Weg zur Erde beschäftigen.
Gerade bei Descartes’ Studien über Schnee, Eis und Regen scheinen seine postulierten Untersuchungsmethoden mittels Vernunft ins Wanken zu geraten, da sich die atmosphärischen Phänomene einem mathematisch-deduktiven Zugang durch die Vielzahl von Einflüssen entziehen. Der Philosoph und Naturwissenschaftler verblüfft seine Leser durch die narrative und bildhafte Gestaltung seines Essays. Anstelle einer Beweisführung mittels physikalisch-mathematischer Formeln lässt er seine Leser an seiner eigenen sinnlichen Wahrnehmung in einem Erlebnisbericht teilhaben: Am 4. Februar 1635 hatte er in Kopenhagen die Gelegenheit, einen Eisregen zu beobachten. Zwei Jahre später sollte es endlich unter starken Temperaturschwankungen schneien, um eine Beschreibung von Schneekristallen liefern zu können. Als Ich-Erzähler teilt Descartes nicht nur deren genaue Form, sondern auch seine Empfindungen bei seinen Überlegungen mit.
Descartes bietet dem Leser in einem Tableau zehn verschiedene Kristallformen für Schnee an: Jeder Einzeldarstellung wird ein Buchstabe zur eindeutigen Identifizierung zugeordnet, auf die mehrfach im Textverlauf verwiesen werden soll. Die beigefügten Bilder gehen über die Funktion einer Veranschaulichung der Niederschlagsart weit hinaus: Der Franzose fordert den Leser immer wieder auf, seine präzisen, millimetergetreuen Dokumentationen, deren druckgraphische Umsetzung er überwacht hatte, anzusehen und seine Beobachtungen an den Bildern überprüfen. Die gleiche Darstellung wird sich innerhalb weniger Seiten noch zweimal zur weiteren Verifizierung der textuellen Inhalte wiederholen. Die visuelle Rezeption erhebt durch ihren zweifelnden Prüfungscharakter die exakt dokumentierte, sinnliche Beobachtung des Philosophen zu einer rational geleiteten Methode: Denn der Wert einer Hypothese muss sich schließlich an der vorausgegangenen Exploration bewahrheiten. Descartes entwickelt gewissermaßen mit dem Leser gemeinsam durch narratives Fortschreiten seine Überlegungen, indem er dessen Imagination durch Bilder beeinflusst.
Descartes versteht seine Grafik nicht als eine Klassifikation von Schneekristallen, sondern als bloße phänomenologische Erfassung, wie sich die Kristallformen sich Laufe des erzählenden Berichts in seiner Wahrnehmung verändern: So wohnt der Darstellung ein veränderndes, zeitliches Moment inne.
Auch in seiner Sprache spart Descartes nicht an bildhaften Vergleichen, um die Kristallformen dem Leser näher zu bringen: Sie hätten Ausläufer wie Zahnräder, sähen wie Sterne aus und würden sogar Rosen oder Schwertlinien gleichen. (Zittel: Theatrum. S. 219 ff.)
Mit dieser kombinatorischen Methode kommt Descartes auch heutigen Erkenntnissen sehr nahe: Der Entstehungsort von Schneekristallen sei innerhalb einer Wolke zu suchen, die in sich keine homogenen Bedingungen biete. Sie könne Wassertröpfchen und Eisplättchen mit sich führen, wobei in ihren oberen Schichten mehr Eis als in den unteren zu finden seien. Winde würden durch Verformung der Wolken für ständige Veränderungen (Temperatur und Luftdruck) sorgen, unter denen sich Schneekristalle (neben Regen und Hagel) bilden können.
Wie Kepler scheidet Descartes Hagel und Graupel von Schnee durch ihre Entstehungsbedingungen: Eis bildet sich durch gefrorene Tröpfchen (also Wasser); Schnee entsteht durch resublimierten Wasserdampf bei niedrigen Temperaturen. Descartes führt auch Mischformen ein, die Rückschlüsse auf ihre Entstehungsorte und -bedingungen zulassen, wenn z. B. ein Hagelkorn in sich Schneekristalle trägt oder ein Hagelkorn an seiner äußeren Hülle mit Schneekristallen fiedrig besetzt ist. (Zittel: Météores. S. 151 ff.)
Er geht in seinen Überlegungen so weit, dass Schneeflocken durch eine innere Temperaturdifferenz in Hagelkörper zerspringen können. Descartes interpretiert die höhere Dichte des flüssigen Aggregatszustands und die damit einhergehende geringere Oberfläche als Komprimierung, so dass eine Schneeflocke, die kalten Winden ausgesetzt ist, in ihren „Poren“ mehr Wärme trägt und diese – nach Innen geleitet – eine Komprimierung im Zentrum bewirkt, während die Enden der Dendriten durch eine tiefere Temperatur an den Spitzen nicht dem Komprimierungsprozess folgen können und daher als Eisteilchen abbrechen müssen.
Besonders fasziniert Descartes die Verbindungsstruktur zwischen Schneekristallen, sich zu voluminösen, lockeren Schneeflocken zu formen, während den Hagelkörnern diese Möglichkeit durch ihre Beschaffenheit fehlt: Die verschiedenen Formen dieses Hagels haben aber nichts Interessantes oder Bemerkenswertes an sich im Vergleich zu diesen des Schnees, der sich aus den kleinen Knoten oder Knäuel aus Eis bildet, die der Wind als Schichten anordnet, sowie ich es oben bereits beschrieben habe.
(Zittel: Météores. S. 159.)
Für die sechstrahlige Symmetrie des Schneekristalls (vor allem seiner Dendriten) kann Descartes anders als Kepler keine fundamentale Erklärung geben und lediglich auf eine natürliche Ordnung verweisen: Und dort [in der Wolke] mußten sie sich so angeordnet haben, daß jedes von ihnen nach dem gleichen Plan von sechs weiteren umgeben wird – der gewöhnlichen Ordnung folgend.
(Zittel: S. 166 f.)
Descartes schreibt allerdings den Mechanismus des Rückkopplungseffekts für die Bildung von Dendriten dem höheren Bindungsbestreben der Teilchen in der äußeren Peripherie (im Gegensatz zu dem zentralen Körperchen) und der Temperaturdifferenz innerhalb des Gebildes zu. Schneekristalle verbinden sich seiner Meinung nach durch Anschmelzen und erneutes Gefrieren an den Dendriten. Auch wenn diese durch ihre Entstehungsbedingungen völlig unterschiedlich ausgeformt sein können, unterliegen sie alle dem gleichen Verhalten.
Der Naturwissenschaftler erkennt als eigene Kristallform das hexagonale Plättchen: „Doch sie waren so perfekt hexagonal geschnitten, mit sechs derart geraden Seiten und sechs so gleichen Winkeln, daß es für Menschen unmöglich ist, etwas so Exaktes herzustellen.“ Dennoch wäre es zu weit gegriffen, hierin Ursprünge einer Klassifikation erkennen zu wollen, da Descartes als Grundform des Schneekristalls die dendritische hexagonale Form annimmt: Warme Winde hätten lediglich die äußeren „Härchen“ schmelzen lassen, die fiedrige Form durch das Schmelzwasser gefüllt und das ursprünglich weiße „Knäuel“ kräftig zu einem durchsichtigen Plättchen zusammengedrückt.
Ebenso bemerkt Descartes nadelartige Kristallformen als „zarte Säulen“ (Zittel: S. 173) sowie die natürliche Möglichkeit von zwölf Dendriten, (wobei diese aus einer zentrischen Verwachsung von zwei sechsarmigen Kristallen hervorgehen, was Descartes aber natürlich nicht wissen konnte…)
Während Descartes noch sorgsam den Druck seiner Erstauflage überwachen konnte, brach die spätere editorische Praxis diesen notwendigen Sinnzusammenhang zwischen Bild und Text auf. Die in den Text eingefügten Abbildungen wurden durch Anhang am Ende des Buchblocks beigefügt, verfälscht und/oder unvollständig wiedergegeben. Auch das Textkorpus wurde von Eingriffen nicht verschont: Essays wurden ganz oder teilweise weggelassen. Die praktische Anwendung der vorangestellten neuen Methode ging somit ins Leere und sollte deren Erfassung und Beurteilung zumindest erschweren, wenn nicht gar vereinseitigen.
Schon wenige Jahre später (1644) sollte Frans von Schooten die Akribie der beigefügten Darstellungen bei seiner Edition in lateinischer Sprache nicht mehr nachvollziehen. Auch wenn im Gegensatz zu etlichen anderen Bildern keine Zuweisungen vertauscht wurden, sind doch Unterschiede in dem Tableau der Schneekristalle zu bemerken. Der „Musterkristall“ für die sechsstrahlige Symmetrie, mit dem Buchstaben K bezeichnet, fällt nun durch eigenwillige, asymmetrische Zacken auf. Die feinen Dendriten der Kristalle R werden in phantasievolle Sterne umgestaltet, die fiedrigen Kristalle werden um eine Vielzahl von Ausläufern bereichert. Zudem werden die exakten Größenverhältnisse (auch innerhalb des Kristalls zwischen Zentrum und Peripherie) aufgegeben.
Der Cartesianer Henricus Regius (1598-1679) druckte in seiner Philosophia naturalis (1654) eine verstümmelte Form des Schneekristall-Tableaus ab und interpretierte die Schneekristalle in Form von Eisblumen, die sich im Winter an Fensterscheiben bilden, graphisch höchst eigenwillig:
Auch unsere heutige Zeit verstellt dem Leser den Weg zu Descartes, wenn großformatige, zusammengefaltete Abbildungen bei der Digitalisierung nicht ausgeklappt gescannt werden und nur die Neuartigkeit der kombinatorischen Methode erahnen lassen… (Ausgabe von 1724, nach S. 168, siehe Flyer: Embodied Cognition, oder: Von der Schwierigkeit, Descartes zu lesen).