Folgende Tagung hat die Forschungsstelle im Jahr 2023 ausgerichtet:
Organisatoren: Prof Dr. Mark-Oliver Carl (Uni Oldenburg), Dr. Jan-C. Marschelke (Uni Regensburg)
Veranstalter: Forschungsstelle Kultur- und Kollektivwissenschaft
Zeit: Freitag, 10.11.2023, 09:30-18:00 h
Ort: Haus der Begegnung, Hinter der Grieb 8, 93047 Regensburg
Anmeldung: bitte bis spätestens 02.11.2023 an jan.marschelke@ur.de. Die Teilnahme ist kostenlos.
Die Intensivkonferenz lotet Schnittmengen, Synergien und Reibungsflächen zwischen Kognitiver Schematheorie und dem Kollektivparadigma aus. Die kognitive Schematheorie, erstmals umrissen in Kants Kritik der reinen Vernunft und ausformuliert durch den Pädagogen Piaget, gehört inzwischen zum theoretischen Inventar so unterschiedlicher Disziplinen wie der Künstlichen Intelligenzforschung, der kognitiven Anthropologie, der Lese- und Entwicklungspsychologie und diversen Literatur-, Medien- und Kulturtheorien. Eng verwandte theoretische Konzepte sind das sozial- und politikwissenschaftliche Frame-Konzept sowie das Konzept des Stereotyps. Das Zusammenspiel von Schemata und (bei der Rezeption aufgebauten oder im Gedächtnis gespeicherten) Repräsentationen einzelner Texte wurde schon in den 1930er-Jahren von Bartlett untersucht und bildet das Fundament einer lesepsychologischen Forschungstradition in der Nachfolge von van Dijk / Kintsch, die nicht nur die Critical Linguistic Studies, sondern auch viele Fachdidaktiken und ihre konstruktivistischen Modelle des Verstehen-Lernens geprägt hat. Kulturelle Varianz kognitiver Schemata steht seit dem „cultural turn“ in der Schematheorie in den 1980ern im Mittelpunkt. Eine explizite Inbezugsetzung von Kollektivparadigma und Schematheorie ist bisher jedoch kaum versucht worden.
Sie nimmt wichtige Fragen aus neuer Perspektive in den Blick: Lässt sich das kollektivwissenschaftliche Konzept der ‚Standardisierung‘ kognitionspsychologisch als Schemaetablierung bzw. kulturellen Modellaufbau fassen? Welchen Beitrag können die Kollektivwissenschaften dann zum Verständnis des individuellen Erwerbs kultureller Modelle und dessen sozialer und institutioneller Prägung leisten? Schließlich sind es regelmäßig kollektive Settings in denen Lernen im Allgemeinen und Schemaerwerb insbesondere stattfindet: Sei es die Familie, die Schulklasse oder das Seminar. Noch grundsätzlicher könnte man fragen: Welchen Beitrag leistet Kollektivität zu menschlichem Erkennen? Der Einfluss von Kollektivität ist einerseits offensichtlich, andererseits fehlt es aber an einer systematischen Auseinandersetzung damit. Ältere sozialpsychologische Ansätze wie das Konformitätsexperiment von Simon Asch wären hier ebenso konsultierbar wie die community-of-practice-Beiträge von Lave/Wenger, gerade auch in ihren aktualisierten, praxeologischen Varianten.
Bei der Diskussion dieser Fragen darf nicht vergessen werden, dass Schemata nicht unmittelbar zwischen Menschen ausgetauscht, gelehrt oder gelernt werden, sondern nur vermittels (jeweils erst zu konstruierender) Repräsentationen von Kommunikationsgegenständen, weshalb die Kommunikations- und Medienwissenschaften und ihre eigenen Kultur- und Verstehenstheorien ebenfalls in die Diskussion mit einzubeziehen sind. Gerade diese mediale Ebene scheint in den aktuellen kollektivwissenschaftlichen Publikationen noch nicht systematisch berücksichtigt worden zu sein. Noch weitergehend geht es auch um die Frage, inwieweit Kollektivität nicht selbst etwas ist, das in Form kognitiver Schemata erlernt und dann praktisch angewandt wird. Wobei Kollektivität – man denke etwa an das Zusammenspiel in Sportmannschaften – womöglich auch in einer Weise erlernt werden kann, die so körperlich ist, dass die dezidiert kognitive Schemaperspektive ergänzt werden müsste. Inwiefern dies durch Konzepte der embodied cognition in einer für die Kollektivwissenschaften sinnvoll nutzbaren Weise gefasst werden kann, ist ebenfalls zu diskutieren.
Diese Diskussionen sollen auf der Tagung im interdisziplinären Dialog zwischen Philosoph*innen, Literaturwissenschaftler*innen und -didaktiker*innen, Soziolog*innen, Kultur-, Kommunikations- und Kollektivwissenschaftler*innen geführt werden. Dabei werden in aufeinander folgenden Zeitblöcken die Themenschwerpunkte „Kollektivität und Erkenntnis“, „Schemata und Repräsentationen von Kollektiven“ sowie „Lernkollektive“ verhandelt.
(Jürgen Grimm, Wien)