Kollektivwissenschaftliche Inhalte sind v.a. zwischen Kulturwissenschaften und Soziologie anzusiedeln. Sie beschäftigen sich mit den verschiedenen Formen von Kollektivität, mit den Diskursen, in denen diese thematisiert werden, und mit den Prozessen, aus denen Kollektive hervorgehen und durch die sie strukturiert, miteinander verbunden oder gegeneinander abgegrenzt werden (nähere Informationen s. unten unter "Wieso sich mit Kollektivität beschäftigen?")
Das Studium der Kollektivwissenschaft fördert den Erwerb von grundlegenden Analysekompetenzen sowohl in Bezug auf das alltägliche Zusammenleben (z.B. in Freundesgruppen, Arbeitsteams) als auch auf das Verständnis vieler, weitgreifender gesellschaftlicher Entwicklungen (z.B. Nationalismen, Ungleichheit) - und wie beides miteinander zusammenhängt.
Die Forschungsstelle bietet universitäre Lehre an und zwar in drei Bereichen:
Ab dem Wintersemester 2024/25 wird es möglich sein, Kollektivitätsstudien/Collectivity Studies im B.A.-Nebenfach zu studieren. Mehr Informationen dazu finden Sie hier.
In der Regel sind alle unseren Lehrveranstaltungen offen für Studierende aller Fachbereiche im Rahmen des freien Wahlbereichs. Gerne bieten wir unsere Veranstaltungen auch zum Import an. Sprechen Sie uns bei Interesse einfach an (s.u.). Eine Übersicht über die aktuell angebotenen Lehrveranstaltungen finden Sie hier.
Wenn Sie weitere Informationen zu unserer Lehre wünschen oder Veranstaltungen importieren möchten, schreiben Sie uns an: jan.marschelke[at]ur.de
Oder Sie suchen womöglich zunächst noch eine Antwort auf diese Frage:
Wir mögen im Zeitalter der Individualisierung leben. Dennoch sind Kollektive allgegenwärtig. Sie treten als unfreiwillige Schicksalskollektive oder selbst gewählte Interessenskollektive auf. Mein Geschlecht, meine Generation, meine Familie und Nationalität konnte ich mir nicht aussuchen, wohl aber meinen Freundeskreis und meine Mitgliedschaft im Fußballclub sowie meine Teilnehme an sozialen Bewegungen (fridays for future).
Unsere Aktivitäten und unseren sozialen Status teilen wir mit vielen anderen Menschen. Daraus entstehen Kollektive wie Vegetarier, Golfspieler, Akademiker, Handwerker, Kommunisten. Sie zeichnen sich durch bestimmte Praktiken, Kulturen, Werte und Weltsichten aus. Aber keines allein bestimmt meine Identität als Individuum: Da ich vielen Kollektiven angehöre, wird sie durch meine Mehrfachmitgliedschaften (Multikollektivität) bestimmt. Und all die mehrfachzugehörigen Individuen verbinden und vermischen die kollektiven Praktiken, Kulturen, Werte und Weltsichten. Dieser kollektive Reichtum, der hergebrachte Grenzziehungen wie die zwischen Ethnien oder Nationen durchschreitet und überwindet, wird oft aus den Augen verloren, und der bei uns ankommende Geflüchtete wird nur als „fremd“ und Syrer wahrgenommen.
Kollektive entstehen durch einerseits echte Gemeinsamkeiten, die aber andererseits durch behauptete Zuschreibungen ergänzt werden. Dass ich „Deutscher“ bin, zeigt mein Pass, doch er verbürgt nicht meine Pünktlichkeit. Solche wiederkehrende Zuschreibungen stellen Pauschalurteile dar, deren bekannteste Form Stereotypen sind. Sie werden häufig diskriminierend eingesetzt. Pauschalurteile gestalten unseren Erkenntnisalltag und sind sozial wirksam. Es liegt an ihnen, dass ich als jugendlicher Fahranfänger höhere Kfz-Steuer bezahle, dass mir der Türsteher den Zutritt zur Disco verweigert oder ich nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen werde. Pauschalurteile, Stereotypen und die übergreifenden Phänomene, zu denen sie gehören – z.B. Sexismus, Rassismus und Nationalismus –, sind Zentralthemen der Kollektivwissenschaft.