Wie bereits unter dem vorherigen Punkt Der Paradiesapfel - ein Obst mit langer Geschichte dargestellt, lässt sich die Frucht der Sünde in der Antike nicht eindeutig definieren. Angeregt durch die mittelalterliche Paradiesszene wurde es für die Bühnenrequisite notwendig, dem Baum der Erkenntnis Früchte beizugeben, die Eva pflücken konnte. Durch die klimatischen Verhältnisse in Westeuropa eingeschränkt, konnte nicht auf Granatäpfel oder Feigen zurückgegriffen werden.
Aus praktischen Gründen trat der Apfel in den Vordergrund. Als sich die Paradiesszene aus den komplexen und umfangreichen Weihnachts-, Passions-, Oster- und Fronleichnamsspielen löste und die Aufführungspraxis sich in den häuslichen Bereich verlagerte, wurden die Paradiesspiele als eigenständige Einheit bevorzugt in den Hl. Nächten zwischen Weihnachten und Dreikönigsfest von wandernden Schauspielern aufgeführt. Die einzige Requisite des Paradiesbaums konnte durch die Winterszeit bedingt mit einer heimatlichen Lagerfrucht bestückt werden: Die Wahl fiel auf einen (roten) Apfel.
In der älteren volkssprachlichen Literatur finden sich Hinweise auf die paradiesische Frucht, wobei die Beschreibungen vage bleiben und sich selten auf eine bestimmte Art oder gar Sorte eingrenzen lassen. Im Folgenden wurden einige botanische Werke aus dem Bestand unserer Universitätsbibliothek durchgesehen, die nur einen Einblick in die verwirrende Diskussion um den Paradiesapfel geben und nicht eine umfassende pomologischen Auswertung zum Ziel haben sollen.
Es fällt auf, dass in keinem unserer Pflanzenbücher der Granatapfel mit dem Paradies in Verbindung gebracht wird, obgleich dieser meist behandelt wird. Als sündige Frucht wird in den älteren Werken ein Apfel angenommen, wobei Bezüge zum Garten Eden durch Namen und erklärende Bemerkungen auf weitere paradiesische Gewächse und Bewohner schließen lassen.
Bei der Beschreibung von Äpfeln findet man am häufigsten die Bezeichnung „Paradiesapfel“, wobei damit weniger eine Sortenbezeichnung gemeint ist als vielmehr ein volkstümlicher Name. Meist werden darunter rote oder rotbackige Äpfel verstanden, die erst zur Weihnachtszeit ihre späte Reife erreichen.
Hieronymus Bock erklärt ausführlich in seinem Pflanzenbuch das Aussehen und den pharmazeutischen Nutzen des Granatapfels, bringt ihn aber nicht mit dem Garten Eden in Verbindung. Unter der Aufzählung von Apfelsorten finden sich die Paradeys öpfel, jedoch ohne nähere Beschreibung. Wie aus seinen einleitenden Worten zu entnehmen ist, wäre ein jeder überfordert, wollte er alle Apfelsorten bestimmen und beschreiben. Dem Apfel misst er nur geringe medizinische Bedeutung zu und empfiehlt anderweitige Verwendung: Von der Krafft und Würckung: Kalter und feuchter Natur seind vast alle öffel / dienen vil mehr inn die kuchen / dann inn die Apotecken. (f. 367 v) Wesentlich aufschlussreicher ist die beigefügte Graphik: Der Apfelbaum präsentiert sich als Paradiesbaum, der nach Volksmeinung Blüten und Frucht zugleich tragen müsse. (Ebenso bei Lonitzer.) Diese Idee geht nach Höfler auf die germanische Vorstellung zurück, dass um die Winter-Sonnwende bestimmte Pflanzen, darunter auch der Apfelbaum, zu blühen beginnen. Wie lebendig dieser Glaube war, in dem Apfelbaum ein Stück Paradies vor sich zu haben, lässt sich an zwei Beispielen erkennen, die zum Beweis aufgezeichnet wurden: Der Bischof von Bamberg wollte im Winter 1426 zwei blühende Apfelbäume gesehen haben, wenige Jahre später Johannes Nider in der Umgebung von Nürnberg noch einen weiteren. In der Literatur findet sich der Zusammenhang zu dem Adamsbaum, der mit Papierblumen verziert und mit Naschwerk versehen, durch Schütteln „abgeblüht“ wurde. Ein Nürnberger Chronist beschreibt Ende des 18. Jahrhunderts den Brauch, zu Weihnachten Apfelbäume neben anderen Obst- und Laubbäumen in Wasser ins Haus zu stellen. (Spamer, Werner)
Eine Frucht fällt in dem Bockschen Holzschnitt auf: ein länglicher Apfel, der die Form einer umgekehrten Birne hat. Diese Gestaltung ist nicht auf eine Ungeschicklichkeit des Künstlers zurückzuführen, sondern in der Vorstellung begründet, dass paradiesische Früchte diese ungewöhnliche Form hätten. (Vgl. auch Ulisse Aldrovandi: Dendrologiae naturalis scilicet arborum historiae libro duo. Frankfurt 1671. S. 252f.)
Sickler bezweifelt in seinem Teutschen Obstgärtner die Identifizierung des Roten Stettiners mit dem sogenannten Paradiesapfel oder Adamsapfel (auch „rothen Herren-Apfel“), wie ihn Mayer in seiner Pomona franconia 1801 vornahm. Dennoch kann er nicht den Gegenbeweis antreten, da er nicht über diese Sorte verfügt. Er nimmt an, dass auch eine Verwechslung zum Herbst- und Winterkalville vorliegen kann. (Bd. 5, S. 225 ff.) Eine Alternative zu Mayers Paradiesapfel schlägt Sickler nicht vor.
Christ führt in seiner Pomologie weder unter dem Herbst- und Winterkalville noch unter dem roten Stettiner einen Paradiesapfel, stattdessen nennt er den rothe[n] Winter-Paradiesapfel: Dieser sei eine seltene Sorte, die in Westfalen um Münster beheimatet sei. Seine Schale sei schwärzlichroth, Fleisch rosenfarben bis zum Kerngehäuse mit einigem Rosenparfüm. (Bd. 1, S. 341 f., Tafel13, Nr. 262) Er bietet zudem unter dem neuen Namen Hochzeitsapfel eine Wintersorte an, die bislang unter weiße[m] Paradiesapfel (Nr. 287) geführt worden war. Diesem sehr ähnlich sei der doppelt weiße Paradiesapfel (Nr. 288). Die Schale sei wachsgelb und pranget auf der Sonnenseite mit dem schönsten Roth (Bd. 1, S. 375 f.); beide Äpfel seien lagerbar bis tief in den Winter.
Eine ganz andere Meinung vertritt Diehl in seinem Versuch einer systematischen Beschreibung in Deutschland vorhandener Kernobstsorten: Er weiß um die Zuordnung des Paradiesapfels zu dem Rothen Stettiner (Bd. 1, S.- 243 ff.), dem sog. Gestreiften Paradiesapfel (Bd. 4, S. 39ff.), Großen, rothen Winterparadiesapfel ( Bd. 9, S. 231 ff.) oder einer spätreifenden rotschaligen Calvillesorte (Bd.3, S. 1 ff.) seiner Kollegen. Den wahrhaften Paradiesapfel erkennt Diehl in dem frühreifenden wilden gelben Johannisapfel. Ihm ist dieser kleinwüchsige Apfelbaum aus Frankreich unter der Bezeichnung Pomme de Paradis bekannt. Als Tafelobst eigne sich nach Diehl dieser Apfel nicht, vielmehr sei er eine wertvolle Unterlage für die Veredelung von kleinwüchsigen Formen. In Frankreich werde diese Sorte ausschließlich als Stammbildner für Spalierobst und Spindelbaume verwendet. (Bd. 6, S. 284 ff.) Seinen Namen habe der Paradiesapfel durch die Anlage seiner Samenkammern in Kreuzform erhalten. (Bd. 9, S. 231 ff.) Dementsprechend lehnt Diehl auch bei Knoop den Zomer Paradys Appel (Koop, Tafel IV) und den Dubblende rode Winter Paradys-Appel (Knoop, Tab. XII) ab.
Krünitz führt in seiner Oekonomisch-technologische Encyklopädie einen Paradiesapfelbaum (Pyrus Malus paradisiaca), den er nach Diehl mit dem oben geschriebenen Johannis-Apfelbaum gleichsetzt. Dieser Zwergapfelbaum sei im südlichen Russland häufiger anzutreffen, aber auch in Deutschland in wildem Zustand. Da seine Triebe sehr zart und fein seien, stamme er wohl ursprünglich aus südlichen Regionen. Vom Holzapfelbaum sei er jedoch durch seine süßen, wenn auch kleinen Früchte zu unterscheiden, die früh reifen und von mildem Geschmack seien. Es herrsche Unsicherheit, ob er eine eigene Art darstelle. (Bd. 83, S. 171) Unter dem Eintrag Paradiesapfel nennt Krünitz drei Identifikationsmöglichkeiten: 1. den beschriebenen Johannisapfel, 2. den rothen Paradiesapfel (vgl. Christ) und 3. eine Art der Cedratfrucht, die auch Judenapfel genannt werde. (vgl. Der Adamsapfel- ein Kuriosum). Verlinkung zu 3.5 Einen Eintrag später klärt er auf, dass in einigen Regionen unter dem Paradiesbaum ein Oehlbaum zu verstehen sei. Krünitz kennt noch Paradiesrosinen, die einen vortrefflichen Geschmack hätten. Dieser mutet ihm anscheinend paradiesisch an, als Anbaugebietet hingegen nennt er die Gegend um Bologna. (Bd. 107, 442.)
Lonitzer nennt in seinem Kräuterbuch als weitere paradiesische Gewächse Paradieß-Körner, die er botanisch als Cardamonsamen (Grana Paradisi) bestimmt. Die Beziehung rührt wohl daher, dass er die Wuchsform der größeren Variante von Feigen ableitet, die in der jüdisch-christlichen Symbolik (Verlinkung zu 2.4) ebenfalls als Früchte Edens gelten. (Lonitzer: Cap. 388, 541.) Diese Samen sollen mit zerstoßenem Paradiesholz gegen einen verstimmten Magen helfen. Der Botaniker erklärt, wie das unter heutiger Bezeichnung bekannte Agarholz zu seinem Namen kam: Paradißholtz hat den Nahmen / dieweil etliche haben fabuliert / daß solches Holtz im Paradiß allein wachse / und mit den Wassern / so auß dem Paradiß fliesse / heraus komme. (Lonitzer: Kap. 388, S. 543.) Lonitzer führt über Pflanzen hinaus den Paradiesvogel (Paradisea Avis) als Geschöpf Edens an, dessen Heimat lange unbekannt war und seine unvergleichliche Schönheit nur auf das Paradies zurückzuführen sei. Die Mutmaßungen über den Vogel gingen so weit, dass man annahm, er befinde sich die ganze Zeit im Fluge, da er keine Füße hätte. Der Bearbeiter Lonitzers, Peter Uffenbach, stellte diesen Irrtum richtig und fügte eine neue Grafik ein. (Kap. 24, S. 662.)
Später sollte die Banane als Paradiesfeige (lat. musa paradisiaca) sich in die Reihe der Früchte des Gartens Edens einreihen, weil sie nach Erasmus Franz 1668, in Scheiben geschnitten, einen T-förmigen Raum zwischen den Samenständen freigebe, der auf das Kreuz Christi hindeute. Außerdem wüchse sie nicht an einem Baum, sondern an einer Staude, so dass Adam und Eva sie leicht hätten erreichen können. (Nach Schrott: S. 66.) Matthioli (Verlinkung zu 4.3) bezeichnet die Bananen als Frucht der Musen. (S. 80.)
Schließlich ist noch der in Österreich und Südtirol geläufige Paradeiser zu nennen, der allerdings in unseren alten Pflanzenbüchern als Liebes- oder Goldapfel (Pomme d’amour bzw. Pomme d’Or) seinen Platz findet.