Die Verse des humanistischen Dichters gehen weit über eine bloße Beschreibung des Bildinhalts hinaus. Sie sind als eigenständige, in sich geschlossene Komposition zu werten. Fügt man alle Gedichte aneinander, so ergeben sie eine fortlaufende, in sich stimmige Erzählung der Marienvita.
Der abgedruckte Text ist zunächst unabhängig von den Holzschnitten Dürers entstanden, wie inhaltliche Inkongruenzen beweisen: So hütet z. B. Joachim auf dem Feld nicht Rinder, sondern bei Dürer Schafe. Auch die Länge der Gedichte wurde in der Regel auf 12 elegische Distichen beschränkt, um ein ebenmäßiges Erscheinungsbild zu gewährleisten. Speziell für die Buchausgabe wurden die Überschriften eingefügt, die dezidiert auf den Bildinhalt Bezug nehmen.
Auch wenn sich Chelidonius an kanonische und apokryphe Bibeltexte oder das zeitgenössische Marienepos des Giovanni Battista Spagnoli orientieren konnte, so war er dennoch durch die ikonographische Anforderung der Buchausgabe vor eine neue Aufgabe gestellt: In den literarischen Vorlagen nahmen bestimmte Stationen des Marienlebens nicht die gleiche Bedeutung wie in der bildlichen Tradition ein.
Unser Weihnachtsmotiv bietet hierfür ein gutes Beispiel: In den Marienviten wird zwar die Anbetung der heiligen drei Könige erwähnt, eine besondere epische Ausführlichkeit wie z. B. bei Mariä Verkündigung ist jedoch in der Literatur nicht überliefert. Dagegen hat die Anbetung der Weisen in der bildenden Kunst einen ungleich höheren Stellenwert.
Chelidonius füllt diese magere Erzähltradition durch Belehrungen und exegetische Ausführungen auf. Er bezieht zu wichtigen dogmatischen Themen seiner Zeit Stellung: der Jungfräulichkeit der Mutter Gottes, der unbefleckten Empfängnis und der Zwei-Naturen-Lehre. In humanistischer Manier christianisiert er die antike Mythologie: Jupiter wird zu Gottvater, der ganze Olymp zum Himmel nach christlicher Vorstellung und die Mutter Gottes zur Parthenice Mariana stilisiert.