Diane Schürmeier
"Russisch-Jüdische Theatersymbiose: A. M. Granovskij"
Das Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Inszenierungsästhetik und der daraus hervorgehenden Interkulturalität des jiddischsprachigen Staatlichen Jüdischen Theaters (Gosudarstvennyj evrejskij teatr / GosET) in Moskau, das von 1920 bis 1928 von Aleksej Michajlovič Granovskij geleitet wurde.
Mit Granovskij begegnet uns eine Figur zwischen (ost)jüdischer, deutscher und russischer Kultur. Sowohl die biografischen Daten als auch die geschichtlichen sowie sozio-kulturellen Zusammenhänge des jiddischen Theaters unter Granovskij sind relativ gut erfasst. Wenig Beachtung fand bisher seine Theaterästhetik im Kontext der in dieser Zeit so wichtigen russischen Theateravantgarde und ihre mögliche Bedeutung für ein spezifisch jüdisches Selbstverständnis.
Hineingeboren ist A.M. Granovskij in eine assimilierte russisch-jüdische Familie als Avraham Azarkh (1890-1937), er verbringt seine Kindheit und Jugend in Riga. Dort ergeben sich erste Berührungspunkte mit der deutschen Kultur. Während seiner Studienzeit in Petersburg (1910-1911), München (1911-1912) und Berlin (1913) lernt er sowohl das Mejerchol’dsche Experimentiertheater des Formalen, der Abstraktion, der Groteske intensiv kennen als auch das symbolistische, auf Pantomime, Licht, Musik und Tanz aufbauende „Welttheater“ eines Max Reinhardt. Mit diesem europäischen Hintergrund und einem profunden Wissen um die unterschiedlichen nationalen Theatertraditionen trifft der assimilierte Jude Granovskij, der des Jiddischen selbst zunächst nicht mächtig ist, auf die Erzählungen und Dramen der jiddischen ‚Klassiker‘ Abram Goldfadn (1840-1908), Sholem-Alejchem (1859-1916), Jizchok Leib Peretz (1852-1915) und Mendele-Mojcher Sforim (1836-1917). Diese haben, obgleich auf ganz unterschiedliche Art und Weise, Leben und Geschichten der Juden im östlichen Europa, die zwischen Tradition und Assimilation, zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Umgebung leben, zum Thema.
In seinen Inszenierungen nun lässt Granovskij die russische und westeuropäische Theateravantgarde mit der jüdischen Tradition in einen einzigartigen Dialog treten, der in dieser Arbeit untersucht wird. Das Forschungsthema ist mit Blick auf den Kulturraum in der Slavistik angesiedelt. Auch die Sprache Russisch, derer sich A.M. Granovskij und viele seiner Schauspieler hauptsächlich bedienten, bekräftigt dies. Durch die Sprache Jiddisch jedoch, in der das GosET allabendlich in Moskau spielte, kann eine Beschäftigung mit diesem Theater nur in engem Zusammenhang mit der Jiddistik stehen.
Zwar ist der Untersuchungsgegenstand formal getrennt in diese zwei Disziplinen, künstlerisch-ästhetisch jedoch organisch miteinander verwoben. In diesem Verständnis kann das Thema im Grenzbereich zwischen slavischen und jiddischen Studien angesiedelt werden, was zugleich eine große Herausforderung darstellt.