„Speak wordy to me” – diese nahe am Nonsens vorbeischrammende Wortscherbe der Frankfurter Buchmesse nötigt uns dann doch ein augenzwinkerndes Lächeln mit Blick auf die wachsende Vielfalt bemüht innovativer, vielfach schablonierter begrifflicher Orientierungs- und Verkaufshilfen im unübersichtlichen Kosmos der aktuellen Literaturproduktionen ab: Von „New adult“ über „Dark Academia“, „Cli-Fi“, „Cozy Mystery“ bis zu „LGBTQ+Fiction“ reichen die hybriden Begriffsprägungen.
Das Mission statement der Buchmesse endet mit dem politischen Bekenntnis zur „bibliodiversity“. „Was sonst?“, könnte man meinen, mit Blick auf die größte internationale Versammlung von über 4.000 Ausstellern, die für sich beanspruchen, in universeller Breite die Literaturproduktionen aus aller Damen und Herren Länder vorstellzustellen. Die Zeiten „volkseigener Druckereibetriebe“ mit staatlich gesteuertem Verlagsprogramm und ideologisch vorgegebenem Dirigismus sind gottlob zumeist lange vorbei. Und doch gibt es ähnliche Phänomene der Marktverengung auch unter kapitalistischen Vorzeichen, wenn Großverlage und Großbuchhandlungen ihren Einfluss über hohe Verkaufszahlen von Mainstreamprodukten geltend machen. In Anlehnung an das Konzept der Biodiversität, der biologischen Vielfalt in der Natur, adressiert der Kunstbegriff der „Bibliodiversität” die Vielfalt und Pluralität der veröffentlichten Inhalte in der Buch- und Verlagsbranche – ganz zu Recht – als Voraussetzung für die Vitalität und Resilienz der Literaturbranche, auch im Bereich des kunsthistorischen Sachbuchs und der anderen Wissenschaftspublikationen. Seit den 1990er-Jahren wurde die „bibliodiversity“ programmatisch – und sicher mit guten Gründen – vor allem in lateinamerikanischen Ländern wie Chile profiliert, von dort in globale Diskurse überführt. Die Pariser ‚Bibliothèque Interculturelle pour le Futur’ griff 1999 den Terminus auf. Im Mai 2002 formierte sich der programmatisch gegen die „stromlinienförmige Massenproduktion“ gerichtete Verband der International Alliance of Independent Publishers, deren Sprecherin, die australische Autorin Susan Hawthorne, 2014 auf 53 unpaginierten Seiten ein kämpferisch temperamentvolles Manifest der „Bibliodiversity“ publizierte.(1) Inzwischen firmiert der 21. September als „Tag der Bibliodiversität“. Das ‚bibliodiverse’ Ziel in Hawthornes Manifest fordert mehr Raum für „the risky, the innovative, the controversial, the marginal and the imaginative voices”. Das ist heute aktueller denn je, nicht zuletzt unter den Vorzeichen einer postkolonialen Förderung bislang marginalisierter Stimmen. Die Forderung nach Bibliodiversität bezieht sich auch auf die kritische Untersuchung von Kunst durch die Linse der postkolonialen Theorie, die globalen Diskussionen über Dekolonisierung, die kulturelle Repräsentation und Identität in der Kunstgeschichte, Untersuchungen zu den Auswirkungen des Kolonialismus auf die Kunstproduktion, die Sammlungspraxis und die Darstellung nicht-westlicher Kulturen, wie auf Wissenschaftler aus ehemals kolonialisierten Ländern, die die Kunstgeschichte aus alternativen Perspektiven betrachten. Diesem Bekenntnis sehen wir uns auch im Journal für Kunstgeschichte umfassend verpflichtet.
Wieder bietet das Journal für Kunstgeschichte vielfältige Lektüreanregungen:
Stefan Trinks untersucht in seiner Habilitationsschrift die symbolische Bedeutung
gewebter Textilien in der Kunstgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Auf
590 Seiten verfolgt Kunibert Bering die mehr als zweitausendjährige Rezeption des
Mythos Rom in der Stadt, wobei Architektur, Ikonografie und historische Selbstinszenierung ineinandergreifen. Simonetta Rondinò liefert neue Zuschreibungen und Korrekturen zum Werk des römischen Barockkünstlers Carlo Maratti. Die Rezeptionsgeschichte zur Kunst von Joseph Mallord William Turner wird in Turner. Ein
Lesebuch eingekreist, wobei die technische und thematische Komplexität von Turners
Werk in einer umfassenden Sammlung zeitgenössischer und moderner Kritiken
sichtbar wird. Die Publikation Brancusi eröffnet thematisch strukturierte Perspektiven
für die Auseinandersetzung mit dem Künstler, seiner Technik und den tiefen
Verbindungen zwischen seiner Kunst und dem „Wesen der Dinge“. Das Künstlerbuch
von Marcel van Eeden, 1898, liefert am Beispiel der Reise von Hans Thomas in
die Niederlande eine aktuelle Fallstudie zur Methodik künstlerischer Forschung aus
der Verbindung von Fotografien und Texten. Zur Wiederentdeckung des Künstlers
und Landschaftsmalers Otto Schauer regt Bärbel Manitz mit einer anlässlich des
100. Geburtstages vorgelegten Publikation an. Mit Hans Uhlmann steht eine weitere
Figur der deutschen Nachkriegskunst im Fokus eines Ausstellungskatalogs, der
einen umfassenden Überblick über Leben und Werk gibt. Die Publikation Friedl
Dicker-Brandeis vermittelt eine umfängliche Darstellung und Einordnung der Werke
in die Sammlungsbestände der Universität für angewandte Kunst in Wien und eröffnet
eine neue Perspektive auf den Dialog zwischen aktuellen Positionen und historischem
Kontext. Das Buch Afrofuturism: A History of Black Futures untersucht die
Konzepte des ‚Afrofuturismus’ in Kunst, Literatur, Museum und Aktivismus. Der
Bildband von Bernhard Lang schließlich dokumentiert in ästhetisch verstörend
schönen Fotografien die erschreckenden Spuren globaler Umweltzerstörung aus der
Luftperspektive, textlich begleitet von Christof Mauch.
Wir danken unseren Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und Stella Geiger,
unterstützt von Annika Bless und Hannah Semsarha, für die Mithilfe bei der
redaktionellen Bearbeitung.
Birgit Ulrike Münch Christoph Wagner
(1) Susan Hawthorne, Bibliodiversity. A Manifesto for Independent Publishing, North Melbourne 2014.
Das Vorwort und Inhaltsverzeichnis zum Download.