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Journal 3/2024

Vorwort der Herausgeber | Journal für Kunstgeschichte 3/2024

Switch off!

Über Selbstverständlichkeiten redet man selten: zum Beispiel darüber, dass jeder Rezension ein komplexer Lektüreprozess vorausgeht. Wissenschaftliches Arbeiten und Verstehen, wissenschaftliche Diskurse setzen unaufhebbar Sprach- und Lesekompetenzen bei allen Beteiligten und auf allen Qualifikationsebenen voraus. Das fängt mit den Einführungsübungen im ersten Studiensemester der Studienanfänger:innen an und zieht sich bis hin zu Habilitationsvorträgen und natürlich darüber hinaus als Grundanforderung durch ein ganzes Forscher:innenleben. Kunstgeschichte heißt ‚Anschauung zur Sprache bringen‘! Und das heißt immer auch Lesen!

Umso mehr alarmieren die jüngsten Nachrichten, die uns aus Dänemark erreichen, bislang einem europäischen Vorzeigeland der Digitalisierung auf allen Verwaltungsebenen und Ausbildungswegen. ‚Laptop statt Buch‘, das schien jahrelang die schlagwortartig verkürzte Devise, wenn es darum ging, die Kompassnadel für die richtige didaktische Richtung einzunorden, wenn es darum ging, nachfolgende Generationen in ihrer intellektuellen Ausbildung ‚zukunftssicher‘ zu machen. Umso mehr alarmiert es nun, wie umfassend neueste psychologische Studien unter anderem von der Universität Süddänemark in Odense die psychischen Kollateralschäden dieser umfassenden Digitalisierung aller Lebens- und Lernbereiche von Kindern und Jugendlichen kartografieren, beginnend mit Konzentrationsstörungen, unterentwickelten sozialen Kompetenzen, dem gewachsenen Risiko für psychische Auffälligkeiten und Störungen und eben einer rapide abnehmenden Lesekompetenz. Auch in Schweden vermutet man inzwischen, dass die nicht zuletzt in Zeiten der Corona Pandemie zwangsläufig vorangetriebene Schuldigitalisierung Jugendlichen vielleicht sogar mehr schadet, als dass sie ihnen nutzt.

Inzwischen formiert sich unter dem Namen „Switch off“ ein politisches Bündnis bis hinauf zur dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, um ein kritisches Bewusstsein für die Gefährdungen und Spielregeln und Grenzen für den Einsatz technischer Geräte zu formulieren und damit Kinder und Jugendliche vor den Auswüchsen und negativen Begleiterscheinungen einer omnipräsenten digitalen Welt zu warnen. Reumütig spricht Fredriksen in der dänischen Zeitung Politiken von einem ‚riesigen Experiment‘, das man mit der Digitalisierung ‚in den Kinderzimmern‘ unternommen habe, ‚ohne dessen Tragweite zu verstehen‘. Abhilfe schafft: Bücher lesen!

Was heißt dies für Universitäten? Das Problem einer abnehmenden Lesekompetenz ist mitnichten auf Dänemark und auch nicht auf Jugendliche in Schulen begrenzt. Auch im universitären Alltag werden inzwischen ein umfangreiches Lektürepensum, die Anforderungen eines genauen Quellenstudiums, oder ein kritisch-diskursives Erschließen eines publizierten Forschungsstandes nicht mehr als selbstverständlicher und willkommener Einstieg in die Welt der Wissenschaft wahrgenommen, sondern erstaunlich oft als Handikap erlebt. Diese Diagnose mag – auch dem äußeren Anschein nach – nicht als larmoyante Klage einer technikfeindlichen oder gar rückwärtsgewandten geisteswissenschaftlichen Fächerkultur abgekanzelt werden, denn die Kunstgeschichte hat sich noch nie in ein solches Residuum abdrängen lassen: die Arbeit mit digitalen Arbeitstechniken, Datenbanken, webbasierten Recherchemöglichkeiten, E-Publikationsformen und so fort sind längst als unverzichtbare Arbeitsinstrumente zum selbstverständlichen Alltag einer digitalen Kunstgeschichte und Teil des akademisch-universitären Ausbildungsprogramms von Studierenden geworden, aber: all dies ersetzt nicht das Lesen.

Das Journal bietet auch in dieser Ausgabe ein breites Spektrum an Lektürefrüchten und Leseanregungen, verbunden mit Denkanstößen für weiterführende methodologische Diskussionen, beginnend mit Peter Seilers detaillierter Forschungsdiskussion zu Felix Thürlemanns Publikation Der Blick des Pan und den dort vorgelegten Vorschlägen zur kunsthistorischen Zuschreibung der Heemskerck-Skizzenbücher. Um künstlerische Selbstinszenierung und gesellschaftliche Reflexion in der Bildgattung des Selbstporträt geht es in Uwe M. Schneedes Darstellung, die von Vincent van Gogh bis zu Marina Abramović reicht. In ihrer Analyse der Renaissance eröffnet Ulinka Rublack Perspektiven auf das modegeschichtliche Erscheinungsbild der Menschen und zeigt Verbindungen zwischen historischer und gegenwärtiger Modekultur auf. Costanza Barbieri zeigt sich von den astrologischen Zusammenhängen im gemalten Horoskop des Agostino Chigi in der Villa Farnesina fasziniert. Regina Freyberger eröffnet mit ihrem Katalog zur Ausstellung im Städel Museum Frankfurt eine neue Sichtweise auf Käthe Kollwitz und präsentiert hierfür über 110 Werke der Künstlerin. Winfried Nerdingers ambitionierte Gesamtdarstellung der Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert schaut über die bloße Analyse der Baukunst hinaus, und behandelt architektonische Entwicklungen im Kontext gesellschaftlicher und historischer Prozesse, von der Bauwirtschaft bis zur Denkmalpflege, wobei gängige kunsthistorische Ansätze infrage gestellt werden. Die Kunsthalle München präsentiert von Februar bis Oktober 2024 die erste deutsche Einzelausstellung von Viktor&Rolf. Die Schau und der Katalog würdigen über 30 Jahre kreative Schaffenskraft der niederländischen Designer, die den Anspruch haben, Mode und Kunst zu vereinen. Gabriele Klein untersucht in Pina Bausch und das Tanztheater praxeologisch die Übersetzungsprozesse im Tanztheater Wuppertal, indem sie durch Analyse und Theoriebildung die künstlerischen, sozialen und ästhetischen Dimensionen von Pina Bauschs Choreografien und deren Rezeption erforscht. Schließlich beleuchtet Robert Fleck in Kunst und Ökologie das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Natur im Kontext der zeitgenössischen Gesellschaft. Seine facettenreiche Analyse zeigt, wie Kunst auf ökologische Herausforderungen reagiert und neue Perspektiven eröffnet. Wir danken unseren Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und unseren Mitarbeiterinnen, Stella Geiger, unterstützt von Annika Bless und Hannah Semsarha für ihre vertrauensvolle redaktionelle Unterstützung.

Birgit Ulrike Münch                                                              Christoph Wagner


Das Vorwort und das Inhaltsverzeichnis zum Download.


  1. Fakultät für Philosophie, Kunst-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften