Kein Land in Südosteuropa polarisiert die Geister so sehr wie Serbien. Während der Jugoslawienkriege der 1990er Jahre sahen westliche Beobachter das Land als Hauptschuldigen für das Blutvergießen in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo; seither werfen sie Serbien eine mangelnde Bereitschaft vor, sich mit den im serbischen Namen begangenen Kriegsverbrechen auseinanderzusetzen. Serbische Nationalisten, aber auch eine Minderheit im Westen empören sich dagegen über die "Dämonisierung" des Landes, in den letzten Jahren wird diese Position massiv von Russland gestützt. Die Polarisierung hat durchaus historische Vorläufer – die Geister schieden sich bereits am gewaltsamen Dynastiewechsel im Jahr 1903, am Attentat auf den österreichen Thronfolger durch einen jungen bosnischen Serben im Jahr 1914 und an der serbischen Rolle bei der Schaffung Jugoslawiens 1918. Die einwöchige Exkursion setzt sich mit diesem Erbe auseinander und führt uns in drei Städte, die für unterschiedliche Elemente des serbischen historischen Erbes stehen: die Metropole Belgrad, das islamisch und osmanisch geprägte Novi Pazar und das ehemals habsburgische Novi Sad.
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Wenn man den Flughafen am Rande Belgrads verlässt und Richtung Altstadt fährt, fallen dem aufmerksamen Betrachter als erstes nationalistische Graffitis sowie zwei verschiedene Schriftsysteme auf. Kyrillisch und lateinische Buchstaben sind über Werbungen, Straßennamen- und schilder uneinheitlich verteilt. Am Stadtrand trifft man auf sozialistische Wohnblocks, bevor man beim Überqueren der Save die Belgrade Waterfront erblickt. Ein gentrifiziertes, modernes Hochhausviertel, dass sich sowohl vom Baustil als auch von der Bauhöhe radikal vom übrigen Stadtbild abhebt und ein umstrittenes Prestigeprojekt der Vučić-Regierung ist. Dubiose Geschäftspartner, Investitionen aus dem Ausland und der Ausschluss der Bevölkerung aus dem Planungsprozess zeigen die Problematik des Bauvorhabens. Falls man von hier über das Regierungsviertel in die Altstadt schlendert, kann man nicht nur die beschädigten Gebäude der über zwei Jahrzehnte zurückliegenden NATO-Bombardierung begutachten, sondern beim genaueren Hinsehen auch die politischen Brüche Serbiens in den Straßen Belgrads erspähen. Ein Blick auf die, teils mehrfach umbenannten, Straßennamen sowie die oft mehrmals übersprühten Graffiti genügt.
Spricht man mit den Menschen Serbiens über die Vergangenheit ihres Landes oder betrachtet man seine Orte und Institutionen, die der Erinnerung gewidmet sind, wird schnell klar, dass es nicht nur eine Kultur der Erinnerung gibt, sondern viele verschiedene. Oder anders ausgedrückt, selbst „in den homogensten Kulturen“ hat man es nie „mit nur einer einzigen Erinnerungsgemeinschaft zu tun“ (Erll, 2008). Diese versuchen den Diskurs zu beeinflussen genau wie auch die politischen Akteure und andere Institutionen. Deutlich erlebt man das an öffentlichen Orten der Erinnerung, wie dem KZ Staro Sajmište, Museen oder auch einfach an der Tatsache, dass Straßennamen je nach politischer und gesellschaftlicher Lage umbenannt wurden. An diesen Erinnerungsorten wird die Erinnerungskultur gepflegt, dort wird aber auch am stärksten versucht Einfluss auf die Erinnerung der Gesellschaft zu nehmen.
Serbien mit seiner Lage auf dem Balkan ist schon seit jeher Ort von Einflüssen und teils gegensätzlichen Interessen aus benachbarten Räumen. Durch die Beziehungen zu anderen Mächten - sei es die auf slawischer Bruderschaft beruhende Freundschaft mit Russland oder das ambivalente Verhältnis zu Westeuropa - werden auch Konflikte nicht ausgespart. Wie entwickelt sich diese Positionierung heute, und welche Akteure versuchen, Einfluss zu nehmen?
Die enge und freundschaftliche Beziehung Serbiens und Russlands hat eine lange, wenn auch nicht widerspruchsfreie Tradition. Die Spuren davon findet man z.B. in dem Vermächtnis russischer weißer Exilanten, die nach der Oktoberrevolution nach Jugoslawien kamen. Oder darin, dass russische Freiwillige in den Jugoslawienkriegen der 1990er auf der serbischen Seite mitkämpften. Und auch heute noch gilt Serbien als eines der russophilsten Länder Europas.
Während sich die Vučić-Regierung im Bezug auf den Ukraine-Krieg einer kalkulierten Realpolitik verschrieben hat, um die aktuelle globale Krise zu bewältigen, wird die Verbundenheit der serbischen Bevölkerung zu Russland zur Zeit einem Stresstest unterzogen. Es stellt sich daher die Frage, ob die serbisch-russische Solidarität noch tragfähig, oder wie weit diese neu zu evaluieren ist.
Ferner versucht Deutschland, durch die parteinahen Stiftungen Einfluss auf den serbischen Staat sowie die Zivilgesellschaft vor Ort zu nehmen. In dieser von Steuerzahler*innen finanzierten Auslandsarbeit verfolgen die einzelnen Büros ganz unterschiedliche Ansätze – bei unserem Besuch bei der Friedrich-Ebert-, Heinrich-Böll- und Konrad-Adenauer-Stiftung sprachen wir mehr über Misserfolge als Fortschritte.
Wie schon im Vielvölkerstaat Jugoslawien, gibt es auch noch im heutigen Serbien verschiedene religiöse Gruppen. Neben der orthodoxen Bevölkerungsmehrheit findet man vor allem im Norden Serbiens, der Region Vojvodina, Spuren des Katholizismus und im südserbischen Sandzak eine muslimische Bevölkerungsmehrheit und osmanische Architektur. Dies ist ein historisches Zeugnis für die einstige Präsenz der großer Imperien auf dem Balkan – so auch dem heutigen Serbien. Das orthodoxe Byzanz, das muslimisch geprägte Osmanische Reich, und das katholische Habsburger Reich hinterließen damit bis heute lesbare Traditionen. Die Spuren des Osmanischen Reichs zeigen sich dabei beispielsweise auch in der serphadisch geprägten jüdischen Gemeinde, welche als Folge von Vertreibung und Fluchtbewegungen schließlich, unter anderem, im heutigen Serbien ansässig wurde. Heutzutage werden neben der Orthodoxie von Seiten des serbischen Staates unter anderem auch der Katholizismus, der Islam und das Judentum als traditionelle Glaubensgemeinschaften anerkannt. Seit vielen Jahrhundert wurde Religion zu einem zentralen Instrument politischer Mobilisierung und nationaler Identitätsbildung, was im mehrheitlich orthodox geprägten Serbien bis heute durchaus zu Konflikten mit den anderen religiösen Gruppierungen führt.