„Das Forschungsprojekt zur Thematik der historischen Narratologie und Raumchronistik wurde durch die DFG für drei Jahre gefördert. Projektbeginn war der 01.07.2021.
Das Projekt soll Interesse für bislang in der Germanistik vernachlässigte Texte wecken: Es bezieht sich vor dem Hintergrund der Herauslösung von Raumchronistik aus der Universalchronistik auf ein Korpus von bayerischen Raumchroniken aus der Übergangsphase zwischen Mittelalter und Moderne, d.h. Kloster-, Stadt- und insbesondere Landeschroniken, und untersucht es mit narratologischen Mitteln im Hinblick auf Prozesse historischer Identitätsbildung und Geschichtskonstruktion. Im Fokus stehen die im 15. Jh. in deutscher Prosa verfassten 'Bayerischen Landeschroniken' des Andreas von Regensburg, Ulrich Fuetrer, Hans Ebran von Wildenberg und Veit Arnpeck. Diese werden sowohl untereinander als auch mit Texten - teils Vorlagen, teils konkurrierenden Versionen - aus anderen Kontexten mit entsprechend anderen Raumhorizonten, Konzepten von Zeitgliederung und Formen der Interaktion von Raum und Zeit verglichen.
Der Vergleich setzt an bei der Erzählung vom gentilen bzw. dynastischen 'Herkommen', in der sich die Identität der Akteure konstituiert, und bei den Erzählungen von Kloster- und Stadtgründungen, in denen sich diese Identität im Lauf der Zeit auf dem Territorium der wittelsbachischen Herrscherdynastie vergegenständlicht.Durch das Kriterium der Zuordnung bzw. des Verhältnisses der Akteure zur Dynastie der Wittelsbacher - einschließlich des von ihr genealogisch vereinnahmten Kaisers Karl d. Gr. - sind sowohl die Herkunftserzählung und die Gründungserzählungen aufeinander bezogen als auch die Gründungserzählungen selbst untereinander vernetzt. Daher bietet sich die Narrativierung derartiger fundierender Akte für eine zugleich mikro- und makrostrukturelle Vergleichsanalyse an.
Die narratologische Fragestellung bezieht sich auf die Perspektive, die die Verfasser beim Erzählen von der Geschichte des Landes im Blick auf die Organisation von Zeit und Raum jeweils einnehmen, und auf die weitreichenden Auswirkungen, die diese Perspektive auch auf die Konzeption der Akteure, die Affinität zu Erzählschemata und die narrative Kohärenzbildung überhaupt hat. Von besonderem Interesse ist es dabei, die Position zu ermitteln, die die Landeschronisten innerhalb des Prozesses einer Verräumlichung von Geschichte bei der Ausbildung der modernen Kartenperspektive neben der Itinerarperspektive jeweils einnehmen. Die narratologische Fragestellung verbindet sich aber ebenfalls mit der Frage nach der jeweiligen Position der Verfasser innerhalb der politischen Konstellationen des Landes. Daraus resultiert schließlich auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen beidem: Inwiefern haben die politischen Konstellationen des wittelsbachischen Territoriums in der Landeschronistik narratologisch greifbare Modernisierungsimpulse begünstigt und dazu beigetragen, dass Aventin schon wenige Jahrzehnte nach der Wende zum 16. Jh. feststellen konnte, ein Chronica sei nichts anderes als ein mappa auf ein tisch?“