Text und Kon-Text.
Strukturen der Editionsgeschichte von Texten der mittelalterlichen Philosophie
und ihrer Nachbardisziplinen
Die Überlieferung philosophischer und philosophie-relevanter Texte des Mittelalters ist einerseits eine handschriftliche und andererseits eine von Editionen. Das Projekt widmet sich der Editionsgeschichte: Durch deren umfassende Aufarbeitung kann erstmals unter anderem gezeigt werden:
1. welche Konjunkturverläufe die Interessen an bestimmten Texten genommen haben
2. in welche Werkkontexte bestimmte Texte im Verlauf dieser Editionsgeschichte eingeordnet worden sind.
Durch diese diachrone Perspektive soll zudem erstmals die Überlieferungsstruktur zur Darstellung gebracht werden:
1. Wie verhalten sich die gedruckten zu den ungedruckten Texten
2. In welchem Verhältnis stehen die authentischen zu den pseudepigraphischen Texten eines Autors.
Solche Fragen sind bisher in der philosophischen Mediävistik nicht verfolgt worden, sollen aber jetzt durch eine auf Grund erheblicher bibliographischer Vorarbeiten ermöglichte Aufarbeitung der editorischen Überlieferung und die Berücksichtigung der jeweiligen Stadien der Editionsgeschichte bewältigt werden.
Die Doppelrelation von Text zu Autor und damit zu einem jeweiligen Œuvre (Kon-Text) ist starken, aber doch zugleich spezifischen Schwankungen unterworfen. Gerade für die bedeutendsten Autoren gilt: Die in aller Regel am häufigsten unternommenen Gesamtausgaben sind hochgradig durchsetzt mit nicht authentischen Werken. Nicht die Zäsur durch die Korrektur der Zuschreibung, sondern die Rezeptionsgeschichte als Ganze – aber auch die vielen Teileditionen – gilt es im Interesse der historischen Perspektive einer umfassenden Editionsgeschichte zu vergegenwärtigen. Denn die gelungene – manchmal auch die kontrovers bleibende – Identifizierung eines Autors macht die Vorgeschichte gerade nicht belanglos, weil Texte immer mit einer Bedeutungszumessung gelesen und ediert werden und diese Bedeutungszumessung ist eben durch jene Doppelrelation zu Autor und Gesamtwerk bestimmt.
Das gigantische Material an Daten zu Viten, Werken und zur Bibliographie der Editionsgeschichte soll dabei anstelle eines konventionellen Nachschlagewerks in eine erheblich ertüchtigte Internet- Datenbank überführt werden, die der Forschung zugleich umfassende Recherchemöglichkeiten (Berücksichtigung aller relevanten bibliographischen Merkmale) bietet und darüber hinaus unschwer ergänzt bzw. korrigiert werden kann. Dieses Format ermöglicht es auch, Kurztexte (Briefe, Carmina, Predigten, etc.) und im umfassenden Sinne anonyme Texte zu berücksichtigen: www.alcuin.de
In einer Monographie sollen die Resultate der erforschten Überlieferungsstrukturen zum einen für die Philosophie des Mittelalter insgesamt dargestellt, zum anderen an einer repräsentativen Reihe von verschiedenen Typen von Autoren vergegenwärtigt werden. Im Verlauf der Editionsgeschichte mittelalterlicher Texte haben sich nicht nur einzelne Zuordnungen von Text geändert, sondern auch der Begriff des Autors. Er wird von einem Urheber und unter Umständen einer als besonders wichtig bzw. verbindlich angesehen Gestalt zu einem Autor, der eine bestimmte Intention – oder mehrere Intentionen – verfolgt und einen bestimmten Stil des Denkens und Schreibens entwickelt. Welches Bild konnte man sich ehedem angesichts von unkritischen Werk-Ausgaben von einem Autor machen – oder war ein solche gar nicht das Problem?
Prof. em. Dr.
Rolf Schönberger
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