Vom 3. bis 6. Oktober hatten 15 Geschichtsstudierende der Universität Regensburg im Rahmen einer Exkursion des Lehrstuhls für Europäische Geschichte unter dem Motto „Das jüdische Prag. Studien zur Erinnerungskultur der Neuzeit“ die Möglichkeit, die jüdische Geschichte Prags und die damit verknüpfte Erinnerungskultur nicht nur zu studieren, sondern auch zu erleben. Finanziell unterstützt wurde die Exkursion durch die Bayerisch-Tschechische Hochschulagentur. Die fachliche Betreuung übernahmen der Lehrstuhlinhaber Prof. Liedtke, der ausgewiesener Spezialist für jüdische Geschichte ist, sowie Christin Hansen, die mit ihrem Forschungsschwerpunkt in Erinnerungskultur und Erinnerungsorten, einen weiteren Aspekt des Exkursionsprogrammes abdeckte.
Zur Einführung und Orientierung begann das Programm mit einer Stadtführung des Pragers Miloš Čuřík, der Prag nicht nur aus der Perspektive eines Tour Guides, sondern auch eines langjährigen Bewohners und Kulturschaffenden vorstellen konnte. Als Zeitzeuge der „Samtenen Revolution“ und politischer Dissident in der Tschechoslowakei ermöglichte er den Studierenden einen Einblick in die bewegte Geschichte Prags im Laufe der Jahrhunderte. Durch seine Tätigkeit als Location-Scout für Filmproduktionen wusste er der Exkursionsgruppe außerdem einige weniger bekannte, aber nicht minder interessante Orte in der Prager Altstadt zu zeigen.
Als Überleitung zum gemeinsamen Abendessen, bei dem weiter lebhaft über die gewonnen Eindrücke gesprochen wurde, endete die Führung auf der berühmten Karlsbrücke mit einer Brückenfigur des gekreuzigten Jesus, die vor allem dadurch hervorsticht, dass sie mit einem hebräischen Schriftzug vom Ende des 17. Jahrhunderts versehen ist, der die jüdische Bevölkerung ermahnen sollte, sich nicht über den christlichen Glauben lustig zu machen. Die mit dem Strafgeld eines Juden bezahlte Figur ist somit weltweit einmalig.
Der Mittwoch stand ganz im Zeichen studentischer Leistung. Angefangen mit einer ausführlichen Führung durch die wichtigsten Orte des jüdischen Viertels in Prag, bekamen die Studierenden einen Eindruck von der Entstehung jüdischer Lebensräume in den Städten Europas. Die Einführung ging ebenfalls auf die religiösen und sozialen Wechselwirkungen nach innen und außen ein, um einen tiefgreifenden Einblick in die Lebensrealität im Prager Ghetto zu ermöglichen. Der Rest des Tages ermöglichte es den Studierenden in kleinen Gruppen das jüdische Viertel zu erkunden, um die prägnantesten Lokalitäten und deren Rolle als Erinnerungsorte aufzuarbeiten. Diese Erkenntnisse wurden schließlich im gemeinsamen Diskurs unter fachlicher Leitung präsentiert. Dabei ging es nicht nur um die den einzelnen Synagogen, Museen oder dem jüdischen Friedhof innewohnende Geschichte, sondern dezidiert auch um ihre Funktion als Erinnerungsorte und ihre Bedeutung für die Erinnerungskultur verschiedener Gruppen.
Auch der nächste Tag ermöglichte den Studierenden ein interaktives Arbeiten. Gemeinsam mit Studierenden und Dozierenden der Karls Universität Prag nahmen sie an einem Workshop teil, der ihnen Zugriff auf die Datenbank des Visual History Archive ermöglichte. Das Großprojekt des VHA zielt darauf ab, Zeitzeugeninterviews mit Genozid-Überlebenden zu führen und diese zu sammeln. Dabei machen Shoah-Überlebende den überwiegenden Anteil aus. Den Studierenden stand es nach einer kurzen Einführung in das System frei, die Datenbank zu erkunden. Dabei beeindruckten nicht nur die diffizilen Suchmöglichkeiten nach unterschiedlichen Kategorien, die bis hin zu unterschiedlichen Hinrichtungsmethoden reichten und so bereits einen ersten Eindruck über das Schicksal der Betroffenen lieferten, sondern vor allem die emotionalen Zeugnisse der Zeitzeugen selbst. Das Archiv bildet somit einen gigantischen, stetig wachsenden Quellenbestand, der entsprechend einen reichen Fundus für wissenschaftliche Projekte bildet. Auch von den Studierenden wurde dies wahrgenommen, sodass sich bereits einige Ideen für potentielle Abschlussarbeiten bilden konnten. Nachdem die Gruppe unter der Anleitung von Koordinator Dr. Jiří Kocián das digitale Archiv direkt vor Ort nutzen und erkunden konnte, wurde der zweite Teil des Tages nicht nur durch eine Diskussionsrunde, sondern einen ausführlichen Vortrag von Martin Šmok (USC Shoah Foundation) ergänzt. Auch der anschließende Diskurs mit Dr. Kocián, Martin Šmok, Dr. Kateřina Králová und Prager Studierenden konnte die gewonnen Eindrücke noch einmal verdichtet und aus den verschiedenen Perspektiven diskutiert werden. Dabei gab es auch die Möglichkeit, sich mit den Prager Kommilitonen über die studentische Lebensrealitäten zu unterhalten, Tipps für den Aufenthalt in Prag zu bekommen und Kontakte für die Zukunft zu knüpfen.
Nach dem ereignisreichen Donnerstag, welcher ganz im Sinne der Erinnerung stand, bot das Programm am Freitag die Möglichkeit, einen Bogen von der Vergangenheit in die heutige Zeit zu spannen. Die Führung zur multikulturellen Geschichte Prags im 20. Jahrhundert verdeutlichte den Studenten noch einmal das kulturelle Erbe der Stadt, aber auch die Erinnerungsorte der Stadt außerhalb des jüdischen Viertels. Die anschließende Diskussion über das multikulturelle Erbe der Stadt wurde sehr belebt mit den Tour Guides besprochen. Besonders für die heutige politische und gesellschaftliche Situation Tschechiens spielt diese Vergangenheit eine wichtige Rolle, die es nicht zu vergessen gilt. Die Studenten konnten mit zwei Vertretern des multikulturellen Prags auch über politische Tendenzen und Entwicklungen der heutigen Zeit sprechen, welche nicht nur Tschechien, sondern ganz Europa immer weiter einholen.
Lehrstuhl für Europäische Geschichte (19. und 20. Jahrhundert)
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