Bindungsforschung beruht auf der Bindungstheorie von John Bowlby und ihrer empirischen Umsetzung zunächst durch Mary Ainsworth. Sie befasste sich bis in die Mitte der 80er Jahre mit den Einflüssen mütterlicher Feinfühligkeit auf die sich entwickelnden Bindungsqualitäten bei Säuglingen und Kleinkindern.
Diese Bindungsqualitäten oder Bindungsmuster (patterns of attachment) werden traditionell als
- 'sicher' ('B')
- 'unsicher-vermeidend' ('A')
- und 'unsicher-ambivalent' ('C')
gekennzeichnet und stehen für die Organisation von Gefühlen und Verhalten bei aktiviertem Bindungssystem in Gegenwart einer individuellen Bindungsperson.
Mary Main erkannte neben den klassischen Verhaltensstrategien die Bedeutsamkeit von Desorganisation oder Desorientierung im Verhalten der Kinder ('disorganized/disoriented', 'D'). Jede der traditionellen Bindungsmuster kann auch in desorganisierter Form auftreten. Desorganisation spielt in klinischen Untersuchungen eine prominente Rolle. Gottfried Spangler (Spangler & Grossmann, 1993) belegte an Hand von Bestimmungen des Stresshormons Cortisol alle Formen von Desorganisation als 'bindungsunsicher'.
Für Eltern entwickelte Mary Main das Bindungsinterviews für Erwachsene ('Adult Attachment Interview'). Es erfasst sprachlich die Bindungsrepräsentation oder die Einstellung des Erwachsenen zu Bindungen. Auf diesen Standardmethoden und weiteren anderen beruhen auch unsere Längschnittuntersuchungen zur Bindungsentwicklung von Kindern in ihren Familien, die zu Beginn der Untersuchung keine Risikofaktoren aufwiesen (Grossmann & Grossmann, 2004).
Aktuelle Fragen der Bindungsforschung betreffen vor allem die weitere Entwicklung und Erscheinungsformen von Bindungsqualitäten, die anhand von Verhaltensmustern bestimmt werden, zur Bindungsrepräsentation in Kindheit und Erwachsenenalter, die anhand von Bindungsinterviews bestimmt werden, sowie auch die Wechselbeziehungen zwischen Bindungsverhalten und Bindungsrepräsentation im weiteren Verlauf der Entwicklung. Korrelationen zwischen den Bindungsrepräsentationen der Eltern und der Bindungsqualität ihres Kindes sind transgenerational mehrfach nachgewiesen worden.
Weiterhin geht es um Zusammenhänge zwischen Bindungsrepräsentation, Bindungsverhalten und psychologischer Adaptabilität, auf der Grundlage der Qualität des Fühlens, erklärenden Verstehens und handlungsfähigen Planens im Einklang mit der Wirklichkeit und dem Denken, Fühlen und Wollen nahe stehender Personen. Dies erfordert ein neuartiges, induktives, entdeckendes Vorgehen zur Gewinnung von Hypothesen, und ihrer statistischen ('beweisenden') Überprüfung. Trotz enormen Aufwandes kann dies nur längsschnittlich erfolgen, also durch wiederholte Erfassung derselben Probanden von der Geburt bis zum Erwachsenen, idealer Weise sogar bis zu deren eigener Elternschaft.
Die klinisch und therapeutisch orientierte Bindungsforschung hat in den letzten Jahren sprunghaft zugenommen, was sehr im Sinne von John Bowlby ist, der die Bindungstheorie ursprünglich für seine klinisch arbeitende Zunft geschaffen hat.