Raum: SGLG 321
Tel.: +49 941 943-5971
E-Mail: pdragutinovic@gmail.com
Prof. Dr. Predrag Dragutinovic
Faculty of Orthodox Theology
University of Beograd
Mije Kovacevića 11b
11060 Beograd
Serbia
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tauchte im Rahmen des vielfältigen interkonfessionellen Austauschs zwischen dem Westen und dem Osten das Konzept einer orthodoxen Hermeneutik oder orthodoxen Exegese der Bibel auf. Dieses Konzept wollte mit der Bibelwissenschaft im Westen ins Gespräch kommen und gleichzeitig eigene hermeneutische Ansätze vorstellen und vertreten. Im Blick auf Entwicklungen im Westen hat man in der orthodoxen Exegese meist eine Relativierung, Ablehnung oder Ignorierung der historisch-kritischen Methode hervorgehoben, den Rationalismus und Akademismus der westlichen Exegese kritisiert und demgegenüber die kirchliche Dimension der orthodoxen Hermeneutik stark betont, die sich der Hermeneutik der Kirchenväter der christliche Spätantike verpflichtet weiß. Diese allgemeinen Punkte versuche ich in meiner Forschung kritisch aufzunehmen und weiter zu reflektieren.
Die Pastoralbriefe lese ich als ein merkwürdiges Stück der Geschichte der christlichen Theologie. Für den heutigen Leser sowie den Leser, der „die Mitte der Schrift“ eher anderswo im Neuen Testament sieht, werfen die Pastoralbriefe viele Fragen auf. Ein Autor der pseudonym, also versteckt, schreibt, von Ferne durch einen Vermittler Aufträge mittteilt, autoritativ und nicht dialogisch auftritt, Frauen- und Andersdenkenden gegenüber feindlich gesinnt ist, streng hierarchisch denkt, zum Opportunismus gegenüber dem Staat aufruft, eine starke Institutionalisierung fördert, seine Feinde mit Namen nennt (wenn auch fiktiv) und damit der Verachtung der Gemeinde liefert, könnte vielen Lesern nicht gerade sympathisch vorkommen. Die Briefe sollen vorerst für sich analysiert werden, ohne dass man die die äußeren Kriterien formuliert, an denen die gemessen werden. Offenbar denkt der Autor der Pastoralbriefe, dass das Überleben der Kirche möglich ist, wenn sie in die umgebende Gesellschaft integriert ist, indem sie die Grundwerte dieser Gesellschaft bejaht und übernimmt; wenn sie ihre Identität an die apostolische Autorität des Paulus bindet und kompromisslos gegen die „falsche Lehre“ kämpft.
Für die orthodoxe Theologie und Bibelauslegung ist die Mystik bzw. mystische Erfahrung etwas Grundlegendes. In diesem Kontext interessiert mich, inwieweit mystische Elemente bei Paulus zu finden sind. Paulus war ein Mystiker, indem er gewiss bestimmte religiöse Erfahrungen hatte, die man nicht mitteilen kann, die dem menschlichen Versand entgehen, aber diese hat er nie als konstitutiv für die christliche Identität betrachtet. Seine frühchristliche Gemeinden waren auch „mystische Gemeinden“, weil sie der Ort des Geschehens der religiösen Erfahrungen waren, die alltäglichen Erfahrungen entspringen. Aber auch für sie, oder nach dem paulinischen Verständnis der Christusgemeinde, waren diese Erfahrungen kein Zeichen dafür, dass sie zu Christus gehören. Bestimmend für die christliche Identität sind Glaube und Liebe, die von mystischen Erfahrungen wohl begleitet werden können, aber nicht müssen.
Jüngst habe ich die Serbisch-Slavische Apokrypha als Forschungsfeld in Betracht gezogen. Die gottesdienstliche Praxis und die Manuskriptsammlungen dieser Texte bezeugen, dass die biblischen Apokrypha meist als der Rest der kirchlichen Literatur betrachtet wurden. Sie wurden als allgemein akzeptierte Auslegungen der Heiligen Schriften betrachtet und angewendet, die einen anderen „Status“ als diese hatten - die Art und Weise des Kopierens beweist dies deutlich (zahlreiche redaktionelle Ergänzungen, Abkürzungen und Umordnungen). Sie wurden jedoch nicht als „apokryph“ im Sinne von „versteckt“ oder „verboten“ betrachtet. Sie wurden auch nicht als „pseudo-epigraphisch“ angesehen. Dies ist eine übliche Fehlvermutung, wenn man über Apokryphen spricht, was ein Ergebnis des irreführenden Begriffs selbst sein kann. Ihre Verankerung in einer Reihe von Gottesdienstbüchern und ihre Verwendung in der öffentlichen Lektüre kann dies beweisen. Sie wurden auch nicht einfach als nichtkanonische, sondern als Literatur „jenseits des Kanons“ betrachtet. Sie waren keine Untergrundliteratur und keine subkulturelle Literatur, obwohl dieses Bild oft mit ihnen verbunden ist. Das ist der Grund, warum sie vernachlässigt und sogar aus der allgemeinen Darstellung der serbischen Kultur, Kirchengeschichte und Geschichte der serbischen mittelalterlichen Literatur ausgeschlossen werden. Die zukünftigen Untersuchungen, die die mittelalterlichen Apokrypha als den wichtigen Teil der Geistesgeschichte behandeln sollten, könnten dieses Bild verändern und beginnen, diese faszinierenden Texte als integralen Bestandteil der christlichen Identität im Mittelalter zu betrachten.