Nach einem Einblattdruck zum Maibock 1844 kam im gleichen Jahr eine Broschur von acht Seiten auf den Markt: Die Fliegenden Blätter, die ihrem Namen und ihrer Illustrationsweise nach an frühere Einblattdrucke anknüpften. Die humoristischen Bildergeschichten und geistreichen Abhandlungen waren von feinsinnigen Schriftstellern und Künstlern nach Manier des französischen Charivari oder des englischen Punch auf eine gehobene Leserschaft ausgerichtet. In den Unruhen des Vormärzes wurde das beliebte Blatt wegen offensichtlicher Polemik gegen die Wittelsbacher mehrfach konfisziert. Als vier Jahre später der erste Münchener Bilderbogen mit dem Titel Der Gockel erschien, gab Verleger Kaspar Braun mit einem eigenen Entwurf den Auftakt. Mit dezenter Ironie handelte er zwar ein politisches Thema ab, orientierte sich aber nach seinen verlustträchtigen Zwangspausen an reaktionärer Denkweise. Desweiteren verzichtete er auf Mitteilungen über lokale oder aktuelle Ereignisse sowie Heiligen- und Herrscherdarstellungen. Die nachfolgenden Bilderbogen enthielten nur staatsrelevante Themen in Form von gesellschaftlichen Phänomenen, so dass der Unterhaltungswert die bestimmende Kraft war.
Kaspar Braun: Der Gockel.
Nr. 1. 1848.
Da München durch seine Akademie und den Kunstverein viele Künstler anzog, konnte Braun neben seinen frühen Bekannten aus seiner eigenen Malklasse eine Reihe von mittellosen und noch nicht bekannten Malern für die Gestaltung seiner Bilderbogen anwerben. Die ersten Bogen trugen weder Namen des Illustrators noch Stechers – eine bis dahin übliche Praxis für Pfennigware. Da die Künstler nach der „hohen“ Kunst des Freskos und der Ölmalerei strebten, hielten sie die wenig geachtete Populärgrafik lediglich für Produkte des drängenden Ernährungstriebes (Wilhelm Busch, Guratzsch, S. 12). Daher wollten sie bewusst nicht mit einer Kunst für jedermann in Verbindung gebracht werden, die nur bis zur nächsten Ausgabe Bestand hatte. Schon bald änderte sich die Strategie des Verlags. Da Braun durch seine akademisch gebildeten Mitarbeiter eine kunstsinnige und geistreiche Käuferschicht des Bildungsbürgertums gewinnen konnte, erschloss sich für ihn ein zusätzlicher Abnahmemarkt seiner Bogen, die traditionell eher in einfacheren Kreisen beliebt gewesen waren. So konzipierte Braun den Münchener Bilderbogen als „künstlerischen“ Bilderbogen von gehobenem Niveau, indem nicht nur der Inhalt und die Darstellungsweise anspruchsvoll waren, sondern auch wie ein signiertes Kunstwerk den Anschein eines Kunstblatts erwecken sollte. Die Namen der Illustratoren waren ein zugkräftiges Kaufargument: Allein von Wilhelm Busch, der von Braun als Zweiundzwanzigjähriger am Künstlerstammtisch „Jung-München“ entdeckt worden war, publizierte der Verlag mehr als 5 Millionen Bogen in Mehrauflage.
Wilhelm Busch: Die Rutschpartie.
Nr. 370. 1863/64.
Obgleich die Künstler durch ihr Schaffen aus der anonymen Menge heraustraten, legten sie ihre Vorbehalte gegenüber der Grafikkunst nicht ab. Der geringe Lohn und vor allem die Abtretung sämtlicher Rechte schmerzte: In der schmalen Einmalzahlung waren auch spätere Auflagen in beliebiger Höhe miteinbegriffen. Zudem wurde von den Künstlern erwartet, dass sie ihre Entwürfe selbst auf den Druckstock bringen. Da der Verlag über die Veröffentlichung der eingereichten Vorschläge entschied, wurde nur nach Anzahl der angenommenen Druckstöcke vergütet. Obwohl Braun & Schneider ein Vermögen mit Buschs heiteren Geschichten im Münchener Bilderbogen und der Veröffentlichung von Max und Moritz verdient hatte, bekam jener dennoch so wenig Entlohnung zugestanden, dass er ein kleines Darlehen beim Verlag mühsam abarbeiten musste. Da sich die meisten Künstler wie Busch ausgebeutet fühlten, wanderten sie ab, sobald sie sich einen Namen gemacht hatten. Den meisten blieb jedoch ihre Anerkennung für die „hohe“ Kunst zeitlebens versagt, allen voran Wilhelm Busch, der knapp 1000 Ölgemälde anfertigte.
Franz von Pocci: Sprichwörter für die Kinder.
2. Bogen. Nr. 304. 1860/61. (Ausschnitt).
Insgesamt arbeiteten im Laufe des nächsten halben Jahrhunderts 138 Künstler für den Münchener Bilderbogen. Die meisten sind durch ihre Signatur namentlich belegt. An der Münchener Akademie waren 74, an sonstigen Akademien 13 nachweisbar. Die Übrigen waren im akademischen Umfeld wie einschlägigen Ateliers und Kunstgewerbeschulen beschäftigt. Graf Franz von Pocci bildete neben wenigen die Ausnahme, indem er aus einer betuchten Oberschicht stammend und vom romantischen Geist beseelt, altes Gedankengut in Form einer Volkskunst den Menschen zurückgeben wollte. Zu den bedeutendsten Künstlern zählen neben Busch (1832-1908) und Pocci (1807-1876): Moritz von Schwind (1804-1871), Otto Speckter (1807-1871), Ernst Fröhlich (1810-1882), Tony Muttenthaler (1820-1850), Eduard Ille (1823-1900), Heinrich Leutemann (1824-1905), Andreas Müller („Komponiermüller“, 1831-1901), Wilhelm von Diez (1839-1907), Ludwig Bechstein (1843-1914), Adolf Oberländer (1845-1923), Edmund Harburger (1846-1906), Lothar Meggendorfer (1847-1925), Albert Adamo (1849-1887), Eduard Fehrenbach (1855-1886), etc.