Inhalt
Drei Götter kommen auf die Erde, um diese vor der Zerstörung zu bewahren. Ihr Auftrag: Sie müssen den Beweis antreten, dass es sich auf der Erde noch menschenwürdig leben lässt. In einer von Gleichgültigkeit und Egoismus geprägten Gesellschaft stellt sich dies jedoch als eine schwierige Aufgabe heraus. Nach langer Suche stoßen sie endlich auf den Wasserträger Wang, der ihnen ein Nachtquartier beschaffen soll. Die Stadt Sezuan erweist sich allerdings als nicht sehr gastfreundlich. Einzig die Prostituierte Shen Te ist bereit die Götter aufzunehmen. Zum Dank verhelfen ihr die Götter zu einem Tabakladen, damit sie auch weiterhin ihre Nächstenliebe beweisen kann - ganz im Sinne der "göttlichen" Mission. Shen Tes Güte bleibt nicht unbemerkt, und es stellt sich schnell heraus, dass es ihr unmöglich ist Bittsteller abzuweisen. Schon bald droht ihr der Ruin. Zu allem Überfluss erscheint der arbeitslose Flieger und Heiratsschwindler Sun auf der Bildfläche, in den sich Shen Te verliebt. Als sich jedoch ihre wirtschaftliche Lage so sehr verschlechtert, dass Shen Te in ihrer Existenz bedroht ist, erfindet sie einen Vetter namens Shui Ta. Als Shui Ta verkleidet steht sie nicht mehr in der Pflicht ausschließlich "gut" zu sein, und so gelingt es ihr, ihren Tabakladen zu retten.
Verkleidet als Shui Ta erfährt Shen Te aber auch, dass Suns Liebe ihr gegenüber nur vorgetäuscht ist, und die Hochzeit der beiden scheitert. Bald muss Shen Te jedoch bemerken, dass sie von ihrem Geliebten Sun ein Kind erwartet. So entscheidet sie sich dazu, die Avancen des wohlhabenden Barbiers Shu Fu nicht länger auszuschlagen, und aus dem Tabakladen wird - durch finanzielle Unterstützung des Barbiers - eine erfolgreiche Tabakfabrik.
Als die Hochzeit näher rückt, Shen Te aber nur noch als Shui Ta auftreten kann, eskaliert die Situation. Sun, um seine Braut betrogen, wird argwöhnisch, als er im Hinterzimmer des Kontors ein Schluchzen hört, das wohl kaum von dem hartgesottenen Shui Ta stammen kann. Lediglich die Shin weiß über die Maskerade Bescheid und zieht Profit aus Shen Tes Notlage. Wang und andere Freunde Shen Tes sind aber der Überzeugung, Shui Ta hätte sie ermordet, und bringen ihn vor Gericht. Doch bei Gericht erleben beinahe alle Beteiligten eine Überraschung. Geschickt haben sich die Götter wieder ins Spiel gebracht um als Richter das Geschehen zu lenken. Aber auch sie wissen nichts von Shen Tes Doppelleben. Nachdem der Saal geräumt wurde, nimmt Shen Te ihre Maske ab und gesteht den Göttern, dass sie in ihrer Mission, ausschließlich gut zu sein, gescheitert ist. Die Götter ziehen sich jedoch aus der Verantwortung, indem sie entschwinden und es Shen Te - und dem Zuschauer - überlassen einen guten Schluss zu finden...
interpretation
Das Stück "Der gute Mensch von Sezuan", entstanden zwischen 1926 und 1941, ist eine gesellschaftswissenschaftliche Studie, die die Gesetze der kapitalistischbürgerlichen Welt sichtbar machen will. Die chinesische Provinz Sezuan dient dabei nur als Kulisse, denn die Handlung spielt keineswegs in China. Auf der Bühne sind daher chinesische Elemente nur symbolisch angedeutet, um der Allgemeingültigkeit der Aussage Rechnung zu tragen. Ausgangspunkt des Stücks ist der Beschluss des Himmels, drei Götter auf die Erde zu schicken, um zu prüfen, ob die guten Menschen in der Welt, wie sie ist, auch menschenwürdig zu leben vermögen. Nicht nur der Mensch ist dem göttlichen Experiment unterworfen, sondern auch die Welt. Sie hat sich als menschenwürdig zu erweisen, oder sie muss verändert werden. Das Experiment symbolisiert der Versuch, den die Götter mit Shen Te, der gutmütigen und selbstlosen Kurtisane, anstellen. Sie hofft mir ihrem Tabakladen "viel Gutes tun zu können." Diese Absicht wird aber gerade durch diejenigen vereitelt, denen sie helfen will. Kaum hat sich Shen Tes Freigebigkeit herumgesprochen, da fallen die Bedürftigen schon wie ein Schwärm Heuschrecken ein: unter anderem der neunköpfige Klan ihrer ehemaligen Wirtsleute, die Frau Shin, ein Schreiner, der stellungslose Flieger Sun und seine Mutter. Shen Te ist ihnen hilflos ausgeliefert und trotz besten Willens vermag sie ein menschenwürdiges Dasein und ihre Güte nur aufrecht zu erhalten, indem sie einen Vetter erfindet, Shui Ta, der das "Geschäftliche" in Ordnung bringt.
Shen Te tritt ab, weil der gute Mensch in schlechten Verhältnissen scheitern muss, und der böse, hartherzige Mensch tritt auf, weil nur er dem Leben gewachsen ist. Der Gute muss sich die Maske des Bösen überziehen, wenn er überleben will. Die Demonstration dieser Einsicht führt bis zu der bitteren Erkenntnis, dass auch die Liebe bloß der schöne äußere Schein der Ausbeutung ist, wie Sun es Shen Te beweist. Der Verlauf des Stücks zeigt mit aller Deutlichkeit, dass die Welt geändert werden muss. Aber die Götter wollen diese Wahrheit nicht erkennen und auf ihre Gebote nicht verzichten. Das Experiment mit dem gespaltenen, zerrissenen, halbwegs guten Menschen Shen Te hat in ihren Augen die göttliche Ordnung gerechtfertigt, und die Götter verschwinden schnell in ihr Himmelreich. Sie entziehen sich dadurch ihrer Rolle als Verantwortliche für das Experiment: Sie wollen die Welt nicht ändern, sondern einfach über ihre Fehlerhaftigkeit hinwegsehen. Die Menschen werden mit ihren unlösbaren Problemen allein gelassen. Die Lösung dieser Probleme ist dem tatsächlichen Handeln der Zuschauer überlassen: Sie selbst müssen als kompetente Beobachter ihre Meinung über die Welt äußern und sie verändern. Der gute Schluss liegt nicht in der Kunst, sondern in der Tat.