Inhalt
Vorspiel:
Eine verarmte Gruppe Gaukler wartet vor ihren Wagen auf einem Bauplatz darauf, dass sie mit dem Beginn der Bauarbeiten am nächsten Morgen endgültig vertrieben werden – und so den letzten Schritt ihres langsamen Niedergangs erreichen. Man erfährt, dass sie mit ihrer Art der Zirkuskunst kein Publikum mehr bekommen, weil die modernen Medien größere Sensationen bieten. Vor mehreren Jahren haben sie das Findelkind Eli aufgenommen, dass sie beim Herumreisen gefunden haben. Als der Clown Jojo, den sie zum Verhandeln noch einmal zu der Konzernspitze geschickt haben, zurückkommt, erfahren sie von einem Angebot der Konzernspitze – sie können mit einem Werbevertrag weiter als Zirkus spielen – müssen sich aber von Eli trennen. In der Nacht vor dieser Entscheidung bittet Eli Jojo um ein Märchen.
1. Bild:
Prinzessin Eli erwacht im Spiegelreich zu einem neuen Tag voller Spiel und Unbeschwertheit – ihr Zauberspiegel bringt ihr zu ihrer Unterhaltung neue Spiegelbilder – allerdings wird schon klar, dass es sich bei diesem Leben mit den Bildern des Spiegels nur um oberflächliche Unterhaltung handelt – für einen echten Austausch müsste die Prinzessin menschlich werden. Davor möchte der Spiegel sie bewahren – um sie zu beschützen, aber auch, um sie zu behalten. Unter allen Bildern fällt der Prinzessin der Prinz Joan auf, in dem sie ihre fehlende Hälfte erkennt. Sie schickt ihr Bild in dem Spiegel in die Welt und vertraut darauf, dass auch der Prinz sie als seine Hälfte erkennt.
2. Bild:
Der Spiegel wird im Spinnennetz der bösen Spinne Angramain gefangen – sie schließen einen Vertrag. Die Spinne möchte mehr über das „Morgen-Land“ des Prinzen Joan erfahren und von dem Spiegel dorthin geführt werden, im Gegenzug verspricht die Spinne, dafür zu sorgen, dass Prinz Joan nie das Bild von Prinzessin Eli im Zauberspiegel zu Gesicht bekommt.
3. Bild:
Im Palast von Prinz Joan stellen sich seine möglichen Bräute vor – er schickt sie aber alle wieder fort und verfällt dem Zauber der Spinne Angramain.
4. Bild:
Nachdem Eli lange vergebens auf den Prinzen gewartet hat, beschließt sie, sich nun selbst auf der Erde auf die Suche nach ihm zu machen – und schenkt dazu ihrem Zauberspiegel die Freiheit.
5. Bild:
Prinz Joan verliert in einem Spiel an die Spinne Angramain erst sich – und dann aufgrund seines gebrochenen Eids auch sein Reich. Er erkennt das Bild der Prinzessin Eli und zugleich die wahre Gestalt Angramains. Prinz Joan flieht aus seinem Morgen-Land, der Zauberspiegel zerbricht.
6. Bild:
Auf dem Bauplatz – allerdings noch in der Märchenzeit – gibt es ein Fest für Eli. Außer Jojo sind alle da, er kommt später, nachdem er die Gaukler, nicht zu ersten Mal, für ein paar Wochen im Stich gelassen hat. Deswegen ziehen sich nach seinem Erscheinen alle zurück, nur Eli und er bleiben am Lagerfeuer sitzen und erkennen sich gegenseitig mit Hilfe des letzten Scherbens des zerbrochenen Zauberspiegels als Prinzessin Eli und Prinz Joan – und damit als von Anfang an füreinander bestimmte Liebende. Prinz Joan lädt alle in sein Reich sein.
7. Bild:
Die Gauklertruppe sieht über den Abgrund das von der Spinne zerstörte und eingesponnene Reich des Prinzen Joan, dessen größtes Problem laut dem Narr die unmenschliche Perfektion ist. In einem zweiten Wettbewerb stellen Eli und Joan ihre Liebe als durch die Spinne nicht zu lösendes Rätsel dar. Die Spinne bekämpft die Gauklertruppe, um die Eroberung ihres Reiches zu verhindern, nur Eli kann sie nicht fangen, da sie sie mit dem Spiegelscherben blendet – Eli überlässt ihr den Spiegelrest, die Spinne verschlingt ihn und wird von innen durch ihre Erkenntnis der eigenen Hässlichkeit dazu gebracht, in den Abgrund zu stürzen. Das Morgen-Land ist nun wieder befreit.
Nachspiel:
Im Morgengrauen beginnen die Bauarbeiten auf dem Fabrikgelände – aber die Gaukler weigern sich einer nach der anderen, den rettenden Vertrag zu unterschreiben.
Interpretation
Märchen gehen gut aus - oder? Haben wir uns dieses Jahr also in einem naiven Eskapismus daran gemacht, eine Welt zu erarbeiten und zu zeigen, in der das Gute immer gewinnt und das Böse so unglaublich böse ist, dass alle glücklich sind, wenn es endlich vernichtet wird? Angesichts der vielen Krisen auf dieser Welt wäre auch das ein legitimer Wunsch und ein legitimes Unterfangen gewesen - aber wir sehen es nicht ganz so...
Wir könnten in dem Kampf zwischen Angramain und Kalophain den ewigen Gegensatz zwischen Gut und Böse sehen - wenn wir aber genauer hinschauen, dann muss sich auch der Spiegel Kalophain erst läutern - wie er auch selbst zugibt, um Selbstsucht und eine sehr eifersüchtige und besitzergreifende Liebe zu Prinzessin Eli, die er in erster Linie „behalten“ möchte, aus sich zu vertreiben. Und dazu greift er zu jedem Mittel: Als Ablenkung zur Gestaltung einer wunderschönen glatten oberflächlichen Welt - der es nur leider an Austausch mangelt - und - als das nicht mehr nützt - zu einem Vetrag mit der bösen Spinne Angramain und auch zur Lüge.
Menschlich, allzu menschlich - auch für einen Zauberspiegel.
Und die böse Spinne? Sie ist böse und diktatorisch, sie kennt nur Macht, Kontrolle und deswegen ist ihr dieses utopische Morgen-Land, das einen Tag in der Zukunft liegt und in dem deswegen alles möglich ist, auch zutiefst verdächtig. Die spielerische Absichtslosigkeit, in der Menschen in diesem Morgen-Land zusammenarbeiten und -leben, macht ihr nicht nur Angst, weil sie sich für sie als unkontrollierbar darstellt - nein, sie versteht es auch einfach nicht.
All die Werte und Beschäftigungen, die ihr immer wieder als das Besondere vorgestellt werden, all diese Freiheit der Entwicklung sind für sie nur die Möglichkeit, Fehler zu machen, die Kontrolle zu verlieren und in dem Neugeschaffenen damit eine schon vorhandene - wenn auch langweilige und sterile - Macht. Das muss sie beherrschen, regeln und diesen Wildwuchs der Phantasie auch einfach abstellen. Es gelingt ihr auch beinahe - sie hat dieses Land in ihre Spinnenfäden eingewickelt und auch die letzten Ritter von der Absichtsichtlosigkeit, unser Gauklertrüppchen, mit ihren Spinnenfäden ruhiggestellt, nun, fast...
Denn sie scheitert genau an ihrer eigenen narzisstischen Kurzsichtigkeit: Als sie dieses bunte Zauberding, das sie so sehr irritiert, endlich hat, erblickt sie in ihm statt der Prinzessin Eli nur ihr eigenes Bild. Und um dem - auch in einer bösen Spinne vorhandene - Wunsch nach Ruhe und dem Stillen aller Sehnsucht zu genügen, macht sie das Einzige, was sie kann: Sie verschlingt das Objekt der Begierde und dies zeigt ihr in diesem Moment ihre gesamte Nichtigkeit.
Der schöne Schein wird uns in dieser virtuellen Welt im Sekundentakt in unsere Timeline gespült - und nicht zufällig treten narzistische Persönlichkeitsstörungen immer häufiger auf.
Das Gegenteil dieser Welt ist unser Gauklertrüppchen - sie sind so herrlich unvollkomen in ihren Tricks und Bemühungen, so aus der Zeit gefallen in einer Welt der immer glatteren und perfekteren Oberflächen - und deswegen auch am Ende mit ihrer Kunst.
Das spricht uns an: Theater ist als flüchtiger Live-Moment nie ganz planbar, oft mit Improvisation und Fehlern behaftet und genau in der Menschlichkeit seiner Illusionen eine Fläche für Spiel, Freude und Momente, in denen - im lebendigen Entstehen - für uns zumindest alles perfekt ist.
So sprechen die Gaukler uns aus der Seele, wenn sie die Wichtigkeit ihrer brotlosen Kunst preisen. Und wir alle kennen - zumindest ein bisschen - das Gefühl, den Wünschen und Anforderungen nach Perfektion, die wir selbst und die anderen an uns stellen, nie genügen zu können.
Dass Menschlichkeit Klarheit im Geist und Mut erfordert, kann uns Eli lehren - in diesem Stück ist sie die Person, die ihre vollkommene Welt aufgibt, um sich auf die Suche nach Menschen zu machen, echten Menschen mit all ihren Fehlern und Schwächen - und in ihrer Akzeptanz und Klarsichtigkeit durchschaut sie nicht nur die Fassade der Gaukler und erkennt ihren menschlichen Kern, sondern sie erlöst auch den unvollkommenen Prinz Joan in seiner Fehlerhaftigkeit von dem Bann des Vergessens, dem er anheim gefallen ist.
Denn auch wenn Prinz Joans Morgen-Land wie eine rein positive Utopie klingt, so hat er das Land doch - wenn auch als spielerischer - Alleinherrscher selbst erdacht. Damit ist es auf seine Person beschränkt; es hilft auch nicht so viel, dass der sich mit dem Narren ein Korrektiv miterdacht hat, er verfällt doch der Suggestion der Spinne Angramain. Erst Eli, die im Gegensatz zu ihm ihr Reich selbst aufgegeben hat, kann ihn erlösen und - so hoffen wir zumindest - auch sein Morgen-Land besser und lebendiger machen, weil es nun die Möglichkeit beherbergt, aus den Träumen vieler neu zu erstehen.
Also doch alles gut am Ende? Nun, das Stück endet nicht mit dem Tanz der erlösten Figuren auf dem Weg ins Morgen-Land, es endet auf einem Bauplatz, im Heute-Land und in unmittelbarer Bedrohung.
Auch wenn der Kampf Gut gegen Böse - wieder einmal - im Märchenland gewonnen wurde und wir das zeigen durften, in der Gegenwart und in der Realität können wir nur immer wieder Phantasie, Freiheit und ja, auch Liebe, gegen die Versuche, unmenschliche Vollkommenheit zu schaffen, verteidigen.
Immer wieder - auch in Situationen, die ausweglos erscheinen und in denen die Schergen der Spinne Angramain überall zu sein scheinen, alles nur schöner Schein ist und wir uns machtlos fühlen.
Zum Autor
Michael Ende (11. November 1929 - Garmisch - 28. August 1995 - Filderstadt bei Stuttgart) wuchs als der Sohn des surrealistischen Malers Edgar Ende (1901–1965) und dessen Ehefrau Luise Bartholomä (1892–1973) in einem von der Münchner Boheme, kunsttheoretischen Auseinandersetzungen, aber auch Okkultismus und Anthroposophie geprägten Elternhaus auf. Im Nationalsozialismus wurden Edgar Endes Werke von der NS-Reichskulturkammer als entartete Kunst eingestuft. Die Schulzeit in den 30iger Jahren empfand er als traumatisch und war nach eigenen Angaben ein schlechter Schüler.
Als der 15-jährige Ende wenige Wochen vor Kriegsende seinen Stellungsbefehl zur „Heimatverteidigung“ erhielt, folgte er dieser Einberufung nicht.
1948 machte Ende das Abitur an der Waldorfschule Stuttgart, während dieser Zeit unternahm er erste Schreibversuche und besuchte dann bis 1950 die Schauspielschule Otto Falckenberg in München. Nach der Ausbildung arbeitete Ende als Schauspieler an verschiedenen Regionaltheatern. Während dieser Zeit schrieb er Texte für Kaberetts und arbeitete als auch Filmkritiker.
Ende der 1950er-Jahre schrieb er Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Über die Entstehung sagte er:
„Ich setzte mich also an meine Schreibmaschine und schrieb: Das Land, in dem Lukas der Lokomotivführer lebte, war nur sehr klein. Das war der erste Satz, und ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wie der zweite heißen würde. Ich hatte keinerlei Plan zu einer Geschichte und keine Idee. Ich ließ mich einfach ganz absichtslos von einem Satz zum anderen, von einem Einfall zum nächsten führen. So entdeckte ich das Schreiben als ein Abenteuer. Die Geschichte wuchs und wuchs, immer mehr Gestalten stellten sich ein, Handlungsfäden begannen zu meinem eigenen Erstaunen sich durcheinander zu weben.“ (https://michaelende.de/autor/biographie/der-beruehmte-erste-satz-der-einen-ganzen-roman-nach-sich-zieht)
Nach zehn Monaten war das Manuskript, das von insgesamt zwölf Verlagen abgelehnt wurde, fertig. Mit Jim Knopf erreichte Ende finanzielle Unabhängigkeit.
Er heiratete 1964 die Schauspielerin Ingeborg Hoffmann. Ihm wurde für seine Kinderbücher „Eskapismus“ vergeworfen, unter anderem wegen dieses Vorwurfs zogen Ende und seine Frau Anfang der 1970er-Jahre nach Italien. Michael Ende schätzte an Italien den Fokus auf die Qualität der Texte, während ihn bei deutschen Kritikern die strenge Unterscheidung zwischen realistischer und fantastischer Literatur störte:
„Man darf von jeder Tür aus in den literarischen Salon treten, aus der Gefängnistür, aus der Irrenhaustür oder aus der Bordelltür. Nur aus einer Tür darf man nicht kommen, aus der Kinderzimmertür. Das vergibt einem die Kritik nicht. Das bekam schon der große Rudyard Kipling zu spüren. Ich frage mich immer, womit das eigentlich zu tun hat, woher diese eigentümliche Verachtung alles dessen herrührt, was mit dem Kind zu tun hat.“ Michael Ende michaelende.de/autor/biographie/michael-ende-und-die-kritik
In Italien entstand auch sein märchenhafter Roman Momo, der eines seiner populärsten Werke ist, genauso wie der 1979 geschriebene Roman Die unendliche Geschichte.
In den 1980 Jahren war Ende einer der populärsten und meistgelesenen Autoren in Deutschland. Nach dem Tod seiner Frau Ingeborg Hoffmann zog Ende von Italien nach München. Seine zweite Frau war die japanische Übersetzerin Mariko Sato, die auch einige seiner Werke ins Japanische übertragen hatte. 1994 wurde bei Michael Ende Magenkrebs diagnostiziert, er starb an der Erkrankung am 28. August 1995 im Alter von 65 Jahren in Filderstadt.
„Gleichzeitig als Inkarnation des Zeitgeists und seiner kritischen Überwindung wegen bewundert und kritisiert, wurde Ende Stichwortgeber für kulturpolitische Themen, beschäftigte sich mit Geldtheorien, fernöstlicher Philosophie und okkulten Praktiken.“ Aus „Deutsche Biographie“. www.deutsche-biographie.de/dbo037644.html
Unter Verwendung des Wikipedia-Artikels und des Eintrag in der „Deutschen Biographie“ sowie von michaelende.de
de.wikipedia.org/wiki/Michael_Ende
www.deutsche-biographie.de/dbo037644.html
michaelende.de
Bild von der Seite der Deutschen Biographie.
Rollen
JOJO, der Clown, im Märchen Prinz JOAN
ELI, ein kleines Mädchen, im Märchen Prinzessin
KALOPHAIN, der Zauberspiegel der Prinzessin
ANGRAMAIN, die große Spinne, auch SMERALDA, die grüne Dame
Der NARR des Prinzen JOAN
DER EHEMINISTER
PIPPO, Akrobat und Jongleur, Chef der Gauklertruppe
LOLA, die Seiltänzerin
WILMA, die Kunstschützin und Messerwerferin
JUSSUF, Zauberer und Feuerschlucker
BUX, der Bauchredner mit seiner Sprechpuppe OTTOKAR
GESANGS– UND TANZGRUPPEN
Die SPIEGELBILDER
DIE WÜRDENTRÄGER DES MORGENLANDES
DIE BRÄUTE DES PRINZEN JOAN
DIE FIGUREN DES DAMENSPIELS
ZEIT UND ORT DER HANDLUNG
Das Vor– und Nachspiel in der Gegenwart am Rande eines Industriegeländes. Das Märchen außerhalb der Zeit, im Heute– und im Morgen-Land.
Pause nach dem fünften Bild des Märchens.
Der Vorhang besteht aus vielfach geflickter Zeltleinwand, auf die der Titel »DAS GAUKLER-MÄRCHEN« in ungeschickter, zirkushaft-ornamentaler Schrift gemalt ist.