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Musikstück der Woche

Mit dem „Musikstück der Woche“ stellen Mitglieder des Instituts für Musikwissenschaft während der Vorlesungszeit einmal wöchentlich eine Höranregung mit persönlicher Note online – zum Nachhören, Anregen-Lassen und Weiter-Entdecken. Wir freuen uns über Feedback!

(Der Zugang zur Naxos Music Library ist nur über das Uni-Netz möglich. Außerhalb des Campus ist der Zugriff über einen VPN-Client möglich.)

Konzept: PD Dr. Michael Braun - Redaktion: Franziska Weigert M. A.


Musikstück der Woche

18.-24.11.2024: ausgesucht von Christoph Goldstein

August Halm (1869-1929), Konzert in c-Moll für Streichorchester – generative und dialektische Musik

August Halm ist heute, wenn überhaupt, lediglich als Musiktheoretiker bekannt und der Titel seines Buches „Von zwei Kulturen der Musik“ (1913) ist einigen Menschen noch ein Begriff. Aber Halm war nicht nur einer der Pioniere auf dem weiten Feld der musikalischen Analyse, sondern auch innovativer Pädagoge, ausführender Musiker und Komponist.

Halm verbindet in seinem Konzert in c-Moll, das er im August 1914 komponiert hat, also unmittelbar nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die Idee der, wie er es nennt, „generativen Musik des Barock“., die sich fortspinnend evolutionär entwickelt, mit der in der Sonate idealtypisch verwirklichten, von Gegensätzen ausgehenden und von Halm als dialektisch bezeichneten Musik der Klassik. Halm will damit allerdings keine Stilkopien schaffen, im Gegenteil, er will in der unsicheren Übergangszeit Anfang des 20. Jahrhunderts Möglichkeiten ausloten, wie man an das, so Halms Überzeugung, noch lange nicht ausgeschöpfte Potential der Musik des 18. Jahrhunderts anknüpfen kann.

Der erste Satz, dessen Thema „evolutionär“ aus einer Keimzelle entsteht, lebt vom Gegensatz zwischen thematischen Ritornellen und figurativen, konzertanten Episoden, wobei die Episoden, deren Figurationen eng mit der Keimzelle verwandt sind, im Lauf des Satzes immer mehr zu kleinen Durchführungen werden. In den letzten beiden Episoden konfrontiert Halm die konzertanten Figurationen sogar mit einem Gegenthema.

Der hymnische zweite Satz, für den Halm die Liedform wählt, besteht aus drei Abschnitten. Im ersten Teil erblüht die ariose Melodie wie in einer Arie des frühen 18. Jahrhunderts aus einem lang gehaltenen Ton der ersten Geigen. Der auch harmonisch weiter ausgreifende Mittelteil beginnt mit einem Bratschensolo (T. 11 f.), das exakt die Schlusstöne der ersten Geige im Takt zuvor (T. 10), bloß in einer anderen Klangfarbe (Bratschentimbre), aufnimmt und weiterführt. Im ersten Teil dieses Mittelteils (T. 11–25) nähert Halm die aus den begleitenden Achtelbewegung der ersten Geigen herauswachsende punktierte Gegenstimme immer mehr der melodischen Stimme an, um sie im zweiten Teil (T. 26–38) vollständig miteinander zu verschmelzen. In Takt 37 und 38 führt Halm zum Anfang zurück und der Satz schließt mit einer kurzen Coda, nämlich einem Violinsolo, das noch einmal die Melodie des Mittelteils in Erinnerung ruft.

Der Finalsatz ist ein Rondo, das 220 Takte umfasst und mit einer Spielzeit von etwa 15 Minuten mehr als doppelt so lange dauert wie die ersten beiden Sätze zusammen. In diesem Rondo arbeitet Halm nun, anders als in den ersten beiden Sätzen, mit dem Kontrastpotential der, wie er es nennt, „dialektischen Musik“: „Rondos hat man ja zwar in jeder instrumentalen Epoche geschrieben; dieses aber gehört nun wirklich schon mehr zu dem Gelände und in die Atmosphäre der Sonate. Es enthält dialektische Gegensätze, und es soll auch, der Rondoart gemäß, durch Abwechslung in Thematik und Charakteren erfrischen; ja ich würde mich nicht scheuen zu sagen: es soll unterhalten.“ (Programmheft zum 4. Konzert der Bruckner-Vereinigung. Mittwoch, den 15. Februar 1928).

In diesem Satz spielt Halm mit den Hörgewohnheiten: Eine zentrale Rolle nehmen die beiden Zellen ein, die zwischen den vielen verschiedenen Abschnitten vermitteln und dabei wie bei einem Maskenball in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen. Halm bietet Hörer:innen und Spieler:innen maximale Abwechslung: Stets erscheint das kurze und selten auftretende Rondothema etwas anders beleuchtet. Das liegt an den das Thema umgebenden Nebenstimmen und an den kontrastierenden Abschnitten (in denen Halm dem zweiten Thema Raum gibt), die alle wie Durchführungen wirken, weil er ein so dichtes motivisches Netz webt. Auf eine ironische Art und Weise maskiert Halm die an sich einfache Rondoform bis zur Unkenntlichkeit und spitzt die Komplexität der Form dadurch enorm zu, sodass gerade dieser Satz eher ein amüsantes Rätselspiel für den Leser oder die Leserin der Partitur als ein unterhaltsamer Genuss für den Hörer oder die Hörerin der Musik ist.

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Musikstück der Woche (Archiv)

11.–17.11.2024: ausgesucht von Simon Hensel

Moor Mother & Billy Woods, “The Blues Remembers Everything the Country Forgot” (2020)

Als ich am Mittwoch, dem 6. November aufgewacht bin und die Wahlergebnisse aus den USA gesehen habe, stand ich erst einmal – wie wahrscheinlich viele von euch – unter Schock. Ich war ungläubig, traurig, wütend, und fühlte mich hilflos. Vor allem aber war ich in Gedanken bei all den Menschen, die von der Politik der neuen Regierung in den nächsten Jahren am meisten betroffen sein werden.

Auch als außenstehende, privilegierte, und im Vergleich wenig betroffene Person habe ich wie immer Trost und Antworten in der Musik gesucht. Dabei hat es mich wieder zu einem Album hingezogen, das in den letzten Jahren zu einem Art Wegbegleiter für mich geworden ist. Es geht um BRASS, das 2020 aus einer Zusammenarbeit des Rappers Billy Woods und der Rapperin, Poetin und Crossover-Künstlerin Moor Mother entstanden ist. 2020 war nicht nur das letzte Jahr von Trumps erster Amtszeit, sondern vor allem der Beginn der Coronapandemie, und nicht zuletzt das Jahr, in dem die Morde an George Floyd, Breonna Taylor, Daniel Prude, und unzähligen weiteren afroamerikanischen Bürger*innen durch Polizeikräfte verstärkt medial thematisiert wurden. Es ist also nicht verwunderlich, dass ein Album aus diesem Jahr von zwei Künstler*innen, die sich in ihrer Musik ständig mit der ‚Black experience‘ in den Vereinigten Staaten auseinandersetzen, von einer düsteren Stimmung geprägt ist. Obwohl BRASS keinen klaren roten Faden hat, habe ich den zweiten Track „The Blues Remembers Everything the Country Forgot” immer als „Titelsong“ des Albums gesehen. Er lebt vom Kontrast zwischen dem warmen, verträumten Gesang von Wolf Weston und den rauen, schonungslosen Strophen von Moor Mother und Woods, die einen plötzlich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Der Beat ist wie in vielen Songs auf BRASS atmosphärisch und detailreich, wobei jeder Track eine eigene Klangwelt hat. Inhaltlich faszinierte mich von Anfang an die Idee des Blues – Sinnbild afroamerikanischer Musik und Kunst – als Erinnerungsträger: Durch ihn werden die grauenvollsten und schmerzhaftesten Teile der amerikanischen Geschichte, aber auch die Schönheit der Kunst, die diese Erfahrungen verarbeitet, von Generation zu Generation weitergegeben. Dadurch ruft der Blues auch gleichzeitig dazu auf, die Kreisläufe von Gewalt und Unterdrückung zu durchbrechen.

Mir gab der Song 2020 trotz der düsteren Anteile viel Kraft. Gleichzeitig war BRASS mein Einstieg in die Welt des ‚abstract hip-hop‘, den ich sehr zu lieben gelernt habe. Vielleicht können Song und Album ja auch manche von euch begeistern, und euch auch in diesen Zeiten etwas geben.

Weitere Hörempfehlungen im Album: „Arkeology“, „Rock Cried“, „Scary Hours“, „Tiberius“

Link zum Album


4.-10.11.2024 ausgesucht von Patrick Ehrich

Simon & Garfunkel: America – Ein musikalischer Roadtrip ins Herz der USA

“Kathy, I’m lost. I’m empty and aching and I don’t know why.”

Vor über 30 Jahren verbrachte ich als Austauschschüler ein Jahr in den USA, und seither verfolge ich das politische Geschehen dort besonders aufmerksam. Der diesjährige Wahlkampf scheint mir jedoch eine neue Intensität zu haben – ein Kampf um die Deutungshoheit, was „Amerika“ sei und für wen es stehe. Ein Kampf mit zwei sehr gegensätzlichen Positionen. Daher fiel meine Wahl für das „Musikstück der Woche“ auf ein kleines, in meinen Augen besonderes Juwel: den Song America von Simon & Garfunkel aus dem Jahr 1968. Auch dieses Lied kreist um die Suche nach Amerika, jedoch aus der sehr persönlichen Perspektive von Paul Simon, der als Songwriter und Leadsänger den amerikanischen Traum hinterfragt.

Musikalisch wirkt America in mehrerlei Hinsicht wie ein Anachronismus. Der Song folgt einer A-B-A‘-Struktur, die in den späten 1960er Jahren bereits untypisch war – die Zeit markierte den Siegeszug des Strophe-Refrain-Bridge-Modells in der Popmusik. Besonders auffallend ist zudem Art Garfunkels Oberstimme, die eine gewisse Unabhängigkeit von Simons Hauptstimme sucht, immer wieder dissonant und fast fordernd. Dies hebt America von bekannteren Stücken des Duos wie The Boxer oder The Sound of Silence ab, die harmonisch gefälligere und gleichmäßigere Arrangements aufweisen. Das Portal Genius.com hebt zudem hervor, dass America „eine der wenigen Rockaufnahmen ist, deren Texte völlig ungereimt sind“ – eine Seltenheit im Genre und ein bewusster Bruch mit Konventionen.

Inhaltlich erzählt der Song von einem Roadtrip quer durch das amerikanische Heartland (Mittlerer Westen), den der Erzähler zusammen mit seiner Freundin Kathy unternimmt. Dass die Geschichte stark autobiografisch geprägt ist, legt die Tatsache nahe, dass Paul Simon zur Entstehungszeit mit Kathy Chitty liiert war – eine Beziehung, die auch in Kathy’s Song verewigt ist.

Der Roadtrip beginnt im Greyhound-Bus ab Pittsburgh mit minimalem Gepäck: eine Schachtel Zigaretten, „Mrs. Wagner’s Pies“ und etwas Marihuana („The ‚real estate in my bag‘ was grass,“ schreibt Simon in seiner Biografie von 2018). Bemerkenswert ist, dass die Suche nach Amerika nicht über berühmte Sehenswürdigkeiten führt, sondern an eher unscheinbare Orte wie Saginaw in Michigan. Die Reise beginnt spielerisch und leicht, wie im B-Teil des Songs beschrieben. Doch schließlich gehen die Zigaretten aus, Kathy vertieft sich in ein Magazin, und der Erzähler blickt zum Mond, der über einem Feld aufzugehen scheint – ein Zen-artiger Moment der Stille und Selbsterkenntnis.

Dieser Augenblick führt jedoch nicht zu Ruhe, sondern zu einer plötzlichen, schmerzhaften Einsicht: “Kathy, I’m lost. I’m empty and aching and I don’t know why.” Paul Simon greift hier eine für die amerikanische Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts typische Tradition auf, in der existenzielle Einsichten – Epiphanien – aus unscheinbaren Momenten erwachsen.

Der Song endet schließlich auf dem New Jersey Turnpike, wo der Erzähler andere nach Amerika Suchende zählt: “Counting the cars on the New Jersey Turnpike / They’ve all come to look for America.” Mit diesen wiederkehrenden Schlusszeilen erreicht der Song seinen musikalischen Höhepunkt – doch das ersehnte Amerika bleibt ein unerfüllter Traum, der Erzähler zurückgelassen in einem Zustand innerer Zerrissenheit.

America (Simon & Garfunkel) auf YouTube


Musikstück der Woche (Archiv)

28.10.-3.11.2024: ausgesucht von Emily Martin

Mieczysław Weinberg (1919–1996): Cellokonzert in c-Moll op. 43 (Edgar Moreau, Andris Poga, WDR Sinfonieorchester)

Nur wenige Werke haben es bislang geschafft, mich bereits beim ersten Hören derart von sich zu überzeugen, wie Mieczysław Weinbergs Cellokonzert in c-Moll op. 43. Der Name des Komponisten war mir zum damaligen Zeitpunkt völlig unbekannt und so ging ich ohne große Erwartungen – oder besser: Vorurteile – in das Konzert. Schon nach wenigen Takten hatte mich die wunderschöne Melodie im Cello zu Beginn des ersten Satzes in ihren Bann gezogen. Auch die anderen drei Sätze, in denen immer wieder Bezug auf das erste Thema genommen wird, haben mich sofort beeindruckt. Nach dem Konzert begann ich voller Neugierde auf die Person, die dieses Werk komponiert hat, Nachforschungen zu Mieczysław Weinberg zu betreiben. Die Biografie des Komponisten hat mich schließlich gleichermaßen ergriffen und beeindruckt wie das Cellokonzert kurz zuvor.

Mieczysław Weinberg wurde 1919 in eine polnisch-jüdische Familie geboren. Durch seinen Vater, der Theaterensembleleiter in Warschau war, kam er früh in Berührung mit Musik. Das Klavierspielen brachte er sich anfangs selbst bei, bevor er am Warschauer Konservatorium Unterricht erhielt. Doch der Überfall der Nationalsozialisten auf Polen im Jahr 1939 hatte gravierende Folgen für das Leben des knapp 20-jährigen Musikers. Zwar bewahrte ihn seine schwächliche Gesundheit vor dem Einzug in den Kriegsdienst, sodass Weinberg vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten aus Warschau fliehen konnte; von den Schrecken des Krieges blieb er keineswegs verschont. Die in Warschau zurückgebliebenen Eltern wurden später gemeinsam mit Weinbergs Schwester in einem Arbeitslager der Nationalsozialisten umgebracht. Dem jungen Musiker jedoch gelang die Flucht nach Minsk, wo er sogar ein Kompositionsstudium aufnehmen konnte. In Minsk kam Weinberg erstmals mit der Musik Schostakowitschs in Berührung, die zur Zeit seiner Ausbildung in Polen weitgehend unbekannt war und für die Weinberg sofort große Begeisterung verspürte.

Bereits kurz nach dem Abschluss seines Studiums war Weinberg ein weiteres Mal zur Flucht gezwungen. Gemeinsam mit anderen emigrierten Künstlerinnen und Künstlern ließ er sich in Taschkent nieder, einer Stadt im heutigen Usbekistan, die infolgedessen ein reiches Kulturleben ausbildete. Von Taschkent aus sandte Weinberg die Partitur seiner ersten Sinfonie an Schostakowitsch, der den Komponisten daraufhin voller Begeisterung nach Moskau holte. Schostakowitsch inspirierte den nur wenige Jahre jüngeren Weinberg nicht nur bei seinen Kompositionen, sondern setzte sich daneben für die Bekanntwerdung seiner Musik ein. Denn nach seiner Emigration in die Sowjetunion hatte Weinberg immer wieder mit Unterdrückung und Missachtung zu kämpfen. Die Modernität und Originalität seiner Werke wurden ihm als Nachteil angelastet. Zur Aufführung seiner Kompositionen kam es daher meist nur durch das besondere Engagement von Musikern, wie im Falle des 1948 komponierten Cellokonzert, das erst 1957 – knapp 10 Jahre später – auf Initiative von Mstislaw Rostropowitsch öffentlich aufgeführt wurde.

Drei lang ausgehaltene c-Moll-Akkorde – leise vorgetragen von den gedämpften Streichern – leiten in den ersten, mit Adagio überschriebenen Satz des Cellokonzerts ein. Sie erzeugen eine dunkle Grundstimmung, über der das Cello schließlich jene Melodie entfaltet, die mir nach dem ersten Hören tagelang im Ohr geblieben war. Trotz seiner leichten Einprägsamkeit ist das Thema alles andere als einfältig. In dem Wechsel aus langen Noten und melodischen Linien in Sekundbewegung entsteht Raum für höchste Expressivität. Auch wenn die ausdrucksstark vorzutragende Melodie im ersten Moment klagend erscheint, so schafft sie es letztendlich doch jedes Mal, einen hoffnungsvollen, friedfertigen Eindruck bei mir zu hinterlassen.

Das darauffolgende Moderato ist, anders als der erste Satz, der im Großen und Ganzen von einem einzigen Thema durchzogen wird, geprägt von einem Wechsel klanglich kontrastierender Blöcke, die durch das differenzierte Herauslösen einzelner Instrumentengruppen aus dem Orchester zustande kommen. Anhand dieses Satzes kann man, wie ich finde, gut hören, wie Weinberg von der Musik des Theaters inspiriert wurde, in dem er als Kind seine ersten Berührungen mit der Musik hatte.

Im dritten Satz kann die Cellistin oder der Cellist mit virtuosen Läufen und Doppelgriffen neben den Fähigkeiten im Bereich der Ausdrucksstärke auch die spieltechnischen Fertigkeiten unter Beweis stellen. Schnelle Wechsel zwischen piano und forte sowie staccato und legato gespielten Tönen erfordern höchste Konzentration und machen zugleich den Reiz des lebhaften Satzes im Allegro aus. In der ausgedehnten Solokadenz gegen Ende des Satzes wird das Thema aus dem ersten Satz aufgegriffen, wobei es durch die Anpassung an die vorangegangene moderne Tonsprache und die spieltechnischen Herausforderungen des dritten Satzes transformiert wird und verzerrt klingt.

In seiner einstigen Kantabilität kehrt das Thema schließlich im vierten Satz – einem weiteren Allegro – wieder, in dem immer wieder Ausschnitte oder längere Passagen wie Erinnerungen an den ersten Satz auftauchen. Sowohl im Cello als auch im Orchester kann noch einmal die vielfältige Einsetzbarkeit des ausdrucksstarken Themas bestaunt werden, bevor das Cellokonzert schließlich leise verklingt.

Als Weinberg in Minsk erstmals mit den Werken Schostakowitschs in Berührung kam, soll er resigniert und verärgert über den Umstand dieser späten persönlichen Entdeckung gewesen sein, da ihm die Unkenntnis von Schostakowitschs Musik in seiner Jugend rückblickend als großer Verlust erschien. Doch auch eine späte Entdeckung ist immer noch besser als keine. Daher hoffe ich, dass ich bei allen, denen Weinberg (wie mir) bisher vollkommen unbekannt war, das Interesse zum Hören des ein oder anderen weiteren Werkes wecken konnte. Mit 154 Werken mit Opuszahl – und vielen weiteren ohne – hinterließ Weinberg ein beachtliches Oeuvre. Unter seinen Sinfonien, Streichquartetten, Konzerten, Sonaten, Liedern und Kantaten, aber auch Opern, Balletten oder seiner Filmmusik lässt sich sicher noch einiges entdecken.

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21.-27.10.2024: ausgesucht von Annika Voll

Ludwig van Beethoven, 3. Sinfonie „Eroica“ (Andrés Orozco-Estrada, hr-Sinfonieorchester)

Für diese Woche habe ich ein Stück eines Komponisten ausgewählt, den ich vor ein paar Monaten noch nicht einmal in Erwägung gezogen hätte. Während ich Sie auf die doch persönliche Reise mitnehme, wie es dazu kam, möchte ich den Blick aus der Orchesterperspektive heraus geben.

Bereits Ende September habe ich mit dem Orchester des Christlichen Jugenddorfwerk Deutschlands in Gera und kommendes Wochenende noch einmal in der Berliner Philharmonie die dritte Sinfonie von Beethoven aufgeführt – die „Eroica“.

Was ich an dieser Stelle beichten muss: Ich war viele Jahre überhaupt kein Beethoven-Fan, wenn nicht sogar ein Antifan, falls es so etwas gibt. Und besonders lange her ist das nicht.

Der Dirigent Christof Harr verkündete uns letztes Jahr vor dem Abschlusskonzert, dass wir uns in der nächsten Projektphase mit Beethovens „Sinfonia grande“ auseinandersetzen würden. Zu diesem Zeitpunkt war mir bereits bekannt, dass auf dem Menü des Universitätsorchesters im gleichen Sommer die Neunte stand, pünktlich zu ihrem 200. Geburtstag. Außerdem hatte ich mich dazu entschieden, in meiner Orchesterleitungsprüfung im Rahmen meines Schulmusikstudiums den ersten Satz der „Pastorale“ zu erarbeiten, obwohl ich von der Schönheit dieser Sinfonie tatsächlich nicht erst überzeugt werden musste, da ich als Kind großer Fan des Films „Barbie und der geheimnisvolle Pegasus“ war, in dem ebendiese Sechste als Filmmusik verwendet wurde. Trotzdem hielt sich meine Begeisterung bei der Aussicht auf dieses beethovenreiche Jahr um ehrlich zu sein in Grenzen.

Dabei war meine Abneigung dem Komponisten gegenüber hauptsächlich oberflächlicher Natur, und größtenteils auf fehlende Auseinandersetzung mit ihm zurückzuführen; lediglich das Violinkonzert hatte es bis dato in meine Spotify-Rotation hineingeschafft ¬– und das zu Recht! Manch Beethoven-Fan vermag mir da jetzt eine lange Liste an Stücken zu geben, die mich definitiv vom Gegenteil überzeugen soll – ein Bemühen, das mir bis vor einem Dreivierteljahr nicht egaler hätte sein können.
Im Laufe des Jahres hat mich jedoch die Erkenntnis erschlichen, dass es bei der Breite seiner Werke nicht nur auf die Stückauswahl ankommt: auch die Interpretation macht´s. Abgesehen davon ist – wie ich eigentlich schon vorher wusste – selbst musizieren nochmal eine andere Nummer.

Nachdem die erste Probenphase für die „Eroica“ bereits im Februar stattfand (und wir jetzt einfach mal sagen, dass ich natürlich weit vorher angefangen hatte, mich dafür vorzubereiten), war die Sinfonie ein Dreivierteljahr über meine treue Begleiterin. Und wie konnte sie mir da auch nicht ans Herz wachsen? Wenn man ein Stück spielt, setzt man sich gezwungenermaßen mehr damit auseinander. Während es in den vielen langen Proben regelmäßig in viele kleine Details zerlegt und anschließend wieder neu zusammengesetzt wird, lernt man es zu schätzen und entdeckt immer wieder bisher unbeachtete Kleinigkeiten, die einem gefallen.

In dieser (je nach Interpretation) nicht nur in ihrer Entstehung hochpolitischen Sinfonie gibt es einiges zu entdecken; Beethoven legt den „Grundstein der großen klassisch-romantischen Sinfoniegattung“ mit einer regelrechten Achterbahn der Gefühle. Dieses facettenreiche Werk ist geprägt von Dialektik und lässt einen mitreißende und stürmische sowie unfassbar berührende und intime Momente erleben, die immer wieder Gänsehaut auslösen. Ohne große Einleitung findet man sich bereits im dritten Takt mitten im Geschehen und wird einem Thema vorgestellt, das einen die ganze Sinfonie lang begleiten wird. Tief hängen die grauen Wolken über dem verbitterten und klagenden Trauermarsch, der dem schwungvollen ersten Satz folgt, die sich trotz des ein oder anderen Sonnenstrahls nicht vertreiben lassen. Und langweilig wird es im vierten Satz nach dem Scherzo nie, wenn eine Variation die nächste jagt und ein Presto, das es in sich hat, das Werk schließlich vollendet.

Obendrein schmeckt ein Solo auch einfach besser, wenn die besten Freund*innen daran beteiligt sind und man sie währenddessen anfeuern und danach bejubeln kann. Egal, ob es durch die Wände des Stimmgruppenraumes klingt, man es in der Tuttiprobe zu hören bekommt oder im Konzert, ein stolzes Grinsen kann ich mir da nie verkneifen. Unabhängig davon halte ich es persönlich auch für schier unmöglich, dieses Horn-Trio im tänzerischen Scherzo der Eroica nicht großartig zu finden. Die drei – statt den bis dato üblichen zwei – besetzten Hörner zeichnen in heroischer Jagdmanier den Höhepunkt des Satzes; dramaturgisch ganz im Kontrast zum vorangehenden „Marcia funebre“. In dieser unter Hornist*innen gefürchteten Stelle dürfen sie mit „Hornquinten“ glänzen, bevor sie zurück zum Tutti finden und gemeinsam mit diesem den Satz beschließen (in der verlinkten Aufnahme ab Minute 34:36).

Wenn man eine längere Zeit mit einem Stück verbringt, verknüpft man zusätzlich damit jegliche Erlebnisse und Emotionen, die es miterlebt hat. Dabei prägt nichts die Erfahrung mit einem Stück so, wie das Orchester, mit dem man es auf die Bühne bringt. Und wenn das dann noch ein Ensemble ist, in dem man sich wie zuhause fühlt, ist das etwas ganz Besonderes. Ich kann nur von Glück reden, dass meine Beethovenrezeption maßgeblich von diesem Orchester beeinflusst wurde – vielleicht hätte sie sich sonst nie erholt. Das Stück wird von nun an zu meinen liebsten gehören, und ich kann auch Sie nur dazu einladen, es sich einmal konzentriert (wieder) anzuhören.

Mein Ziel ist es nicht, jeden hier von Beethoven zu überzeugen. So realistisch muss ich auch mir selbst gegenüber bleiben. Wie ich jedoch wieder einmal lernen durfte: Personen und Werken eine zweite Chance zu geben oder gewisse Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, hat noch niemandem geschadet. Denn was bei mir als Abneigung eines Komponisten gegenüber angefangen hat, endet mit der Einsicht, dass mein Lieblingskünstler des Jahres meines Spotify-Rückblicks noch weniger eine Überraschung wird als sonst.

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14.–20.10.2024: ausgesucht von Michael Braun

Antonio Vivaldi, Violinkonzert C-Dur RV 181a, erster Satz (Federico Guglielmo, L’Arte dell’Arco)

Mit La Cetra erschien 1727 das neunte gedruckte Opus Antonio Vivaldis in mittlerweile bewährter Zusammenarbeit mit der Musikdruckerei Le Cène (ehem. Roger), die seit seinem Erfolgsopus L’estro armonico 1711 alle seine originalen Sammlungen mit Instrumentalmusik veröffentlicht hatte. Vivaldis Widmung zielte hoch und richtete sich auf niemand Geringeren als Kaiser Karl VI., von Vivaldi angesprochen als „Heilige, kaiserliche, katholische, königliche Majestät“ („Sacra Cesarea Cattolica Real Maestà“). Die Aufmerksamkeit des Monarchen muss dem Komponisten in diesen Jahren wichtig gewesen sein, immerhin nutzte er die Gelegenheit eines kaiserlichen Aufenthalts in Triest nur ein Jahr danach, um Karl persönlich aufzusuchen und ihm eine weitere, handschriftliche Konzertsammlung zu überreichen, die er passender- oder auch kurioserweise ein weiteres Mal mit „La Cetra“ betitelt hatte (womit im Übrigen die antike Kithara, aber auch die jüngere Zister gemeint sein könnte).

Beide Sammlungen enthalten 12 Solokonzerte und damit Vivaldis Visitenkarten-Gattung, für deren ingeniöse Behandlung er europaweit berühmt geworden war. Für die fest mit seinem Instrumentalstil verbundenen perkussiven, motorisch engagierenden Effekte, die gerade heute in der Alte-Musik-Szene gerne betont werden, gibt es bereits am Anfang der (gedruckten) La Cetra-Sammlung ein eigentümliches Beispiel. Das Ritornell, mit dem der erste Satz des C-Dur-Konzerts (RV 181a) beginnt, fällt dadurch auf, dass Vivaldi hier den Ripieno-Violinen noch weniger als in anderen seiner schnellen Konzertsätze ein sanglich-melodisches Eigenleben gegönnt hat und sie in weiten Sprüngen und durchsetzt von rhythmisierenden Pausen durch die zugrundeliegende prototypische Harmoniefolge treibt.

Die Herangehensweisen, mit denen verschiedene Ensembles versucht haben, die Eigentümlichkeit dieses Ritornells in klangliche Realität zu hieven, sind sehr unterschiedlich. Felix Ayo (im September 2023 90-jährig verstorben) und I Musici entschieden sich in den 1960er Jahren dazu, in einer klanglich ausladenden Bearbeitung durch Franz Giegling, mit wuchtiger Unterstützung der Orgel in der Continuo-Gruppe einen prachtvoll breiten Satzbeginn hinzulegen, der dann im glanzvollen Ritardando der Schlusskadenz sein Gegenstück findet (https://ur.naxosmusiclibrary.com/catalogue/00028947331025, Philipps ursp. 1967, Track #1). Als deutlicher Gegensatz dazu lassen sich Herangehensweisen von Christopher Hogwood, Simon Standage (Solist) und der Academy of Ancient Music (https://ur.nml3.naxosmusiclibrary.com/catalogue/item.asp?cid=00028947581543, Decca 2006, Track #114) oder Nicholas Kraemer, Monica Huggett (Solistin) und den Raglan Baroque Players (https://ur.nml3.naxosmusiclibrary.com/catalogue/item.asp?cid=0724356159457, Erato-Parlophone 2005, Track #1) ausmachen, die sehr viel notentexttreuer verfahren und im Vergleich mit dem Klangprunk der Musici regelrecht nüchtern wirken.

Mir wiederum ist ein Ansatz ganz besonders ans Herz gewachsen, der womöglich irgendwo in der Mitte steht und den ich zum ersten Mal in einer Aufnahme Guglielmo Francescos mit L’Arte dell’Arco (https://ur.nml3.naxosmusiclibrary.com/catalogue/item.asp?cid=BC95046, Brilliant Classica 2016, Track #1) gehört habe. Vielleicht wurde die Fantasie des Ensembles angeregt durch die angesprochene, exzessiv sprunghaft aufgelegte erste Violine (in einer zunehmend gedehnten Zickzack-Figur hat sie nacheinander Aufwärtssprünge über Sext, Sept und Quartdezim zu bewältigen) und die dadurch eigentümlich aufs harmonische Skelett konzentrierte Klangwirkung – jedenfalls beginnt die Einspielung mit einer solistisch einsetzenden Laute, zu der erst Schritt für Schritt die übrigen Instrumente der Continuo-Gruppe hinzutreten, bevor dann – im überlieferungstechnisch nicht belegten Pizzicato – auch die übrigen Streicher integriert werden, bevor diese mit der ersten Lauffigur des Ritornells ihren wirklichen coll’arco-Einstand haben, der jetzt natürlich besondere Wucht bekommt.

Damit diese Entfaltung den Raum hat, den sie benötigt, wird das initiale Bass-Ostinato von den drei original notierten auf insgesamt neun gespielte Takte verlängert. Ein hinreißender Frevel, der das schöne Kontrastpotenzial des Ritornells noch deutlicher hervorbringt und den ebenso wenig quellenkonformen Schlusseffekt provoziert, bei dem der Ensembleklang wieder zur ausgedünnten Besetzung vom Satzbeginn zurückgedimmt wird – ein ausinstrumentiertes Fade-Out in sechs Takten Bass-Ostinato, die im Druck von 1727 vergeblich gesucht werden würden. Ganz ähnlich vorgemacht hat das schon Rachel Podger in einer früheren Aufnahme mit Holland Baroque, als sie die ersten drei Takte zu einem sukzessiv instrumentierten Ostinato ausdehnte, ohne aber den komplementär ausdünnenden Schlusseffekt zu wagen (https://ur.nml3.naxosmusiclibrary.com/catalogue/item.asp?cid=723385334125; Channel Classics 2012).

Ist das jetzt ein Aufführungskonzept, das besonders nah dran wäre an Vivaldis Konzerten, so wie sie in den 1720er und 1730er Jahren in den Händen fähiger Musiker:innen Venedigs gelebt haben? Kaum, aber zum Glück hat das Guglielmo und L’Arte dell’Arco nicht davon abgehalten, diesen musikantischen Coup zu landen.


Sommersemester 2024

15.–21.7.2024: ausgesucht von Michael Braun

Kurze Texte kommen gut an. Hier ein kurzer Text.

Für die Wahl des aktuellen Stückes gibt es zwei Gründe.

Erster Grund: Viele scheinen Bruce Hornsby nicht mehr zu kennen. Dagegen kann etwas getan werden. Am einfachsten wäre der Hinweis auf Hornsbys größten Hit The Way It Is (1986), ergänzt durch ein spezielles Lob für das vollendete Klaviersolo ab ungefähr 2:15.

Aber da ist ja noch der zweite Grund: Der Geburtstag von Charles Ives jährt sich heuer zum 150. Mal. Daher fällt die Wahl natürlich auf Every Little Kiss.

YouTube-Links: Every Little Kiss - The Way It Is


8.–14.7.2024: ausgesucht von der Forschungsgruppe Fietsliedjes

Hip-Hope Buster, À bicyclette

Drei nette Typen auf einer tricyclette, oder einem Tridem, also einem Fahrrad mit drei Sitzen,* die durch Paris kurven… ein seltener Anblick! Es ist einfach ein Blickfang, das Cover-Bild des im Juli 2015 veröffentlichten Songs À Bicyclette von Hip-Hope Buster, unterstützt von Beubtwo und Barytone. Genau das ist auch ein erstes, prä-auditives Moment, das den fahrradfreundlichen Song, den die Forschungsgruppe Fietsliedjes Ihnen heute vorstellen darf, interessant macht.

„Interessante Namen, aber wer sind denn diese fahrradbegeisterten garçons?“, wird sich die Leserschaft nun fragen, und wir verweisen besser auf die freundliche Zeichnung, denn wirklich weiterhelfen können wir nicht: Sowohl Hip-Hope Buster als auch seine MC-Kollegen sind unserer Recherche nach nicht mehr im Musikbusiness aktiv – zumindest nicht unter diesen Namen. Die letzten Posts auf den Facebook-Seiten (allein die Nutzung dieser – man möchte fast sagen: – ‚antiken‘ Social-Media-Plattform lässt sich schon als Hinweis auf vergangene Zeiten lesen) von Hip-Hope Buster und Beubtwo sind schon mehrere Jahre alt, die Seite von Barytone lässt sich nicht einmal mehr aufrufen. Wer die drei im wirklichen Leben sind, bleibt also schleierhaft, aber das sollte unsere Freude an ihrer Musik ja nicht verringern.

Es ist mutmaßlich das MC-Trio auf einer tricyclette, die wir auf der Zeichnung sehen. Naheliegend erscheint dies auch, da ein solches – Baujahr 1968 – tatsächlich einmal im Besitz von Hip-Hope Buster gewesen zu sein scheint. (Zumindest legt das eine Verkaufsannonce auf der Facebook-Seite nahe.) Wir dürfen uns also vorstellen, wie die drei auf ihrer tricyclette Paris unsicher machen, und dieses Bild im Hinterkopf täuscht hoffentlich darüber hinweg, dass wir den Songtext im Folgenden nicht bis ins Detail aufschlüsseln können.

Aber nicht nur der sympathische Anblick der drei MCs auf einer tricyclette und die entzückende Vorstellung einer Radtour durch Paris sind interessante Momente, auch ein fahrradfokussierter und musikhistorischer Blick findet Aufschlussreiches: Ganz offenkundig sind zum Beispiel Anspielungen auf die Tour de France – die gesprochenen Einspielungen könnten Samples eines Sportkommentators sein oder erinnern zumindest daran. Der im Song erwähnte maillot jaune ist ein seit 1919 zum Einsatz kommendes Wertungstrikot, das dem Publikum anzeigt, wer im Radrennen gerade in der Gesamtwertung vorne liegt (genau genommen: fährt!). Wer nur ein bisschen mit dem Genre des Fietsliedjes vertraut ist, wird aber schon in den ersten Sekunden einen großen Klassiker der Gattung erkannt haben: Yves Montands À Bicyclette. Zunächst hören wir nur einen wieder und wieder wiederholten Abschnitt aus der Begleitung, später in der Tonhöhe nach unten versetzt und dadurch in verzerrtem Sound die titelgebende Zeile.

Hip-Hope Buster schreibt in die Videobeschreibung: En hommage à Yves Montand (1921–1991) et à tous les pilotes de lʼasphalte parisien… („Als Hommage an Yves Montand (1921–1991) und an alle Pariser Asphaltpiloten…“). Auch die beiden von uns herausgegriffenen Aspekte zeigen, dass es sich um eine Zusammenstellung unterschiedlichster Fahrradbezüge (im Pariser Kontext) handelt. Yves Montand singt nämlich nicht über das Radfahren in Paris und auch nicht über sportliche Ambitionen, sondern vielmehr über Kindheitserinnerungen und die erste Liebe – ein Lied mit Nostalgieflair trägt einen Hauch von musikalischer Vergangenheit in den Song. Zum Schluss hören wir noch einen Auszug aus einem Interview, in dem es offenbar um ein Projekt geht, das vorsieht, Autos durch Fahrräder zur ersetzen – auch nach neun Jahren kein veralteter Gedanke und natürlich ganz im Sinne der Forschungsgruppe Fietsliedjes, der es natürlich auch die letzte Zeile der ersten Strophe über die Unersetzbarkeit des Fahrrads sehr angetan hat: Pour moi, jamais rien ne remplacera ma bicyclette!

Dieser fahrradfreundliche Song deutet jedenfalls – wie so mancher Hip-Hop-Song – an, dass viele Details auf der Strecke bleiben, wenn man die in Text und Samples verwobenen Gedanken und Anspielungen überhört. Erschwerend wirken sich in diesem Falle das Französische (nicht unsere Muttersprache) und das Sprechtempo aus (vitesse ist auch das zentrale Wort der letzten Strophe). Und dennoch haben wir unser Bestes geben, diesen Song zu entschlüsseln und dem Publikum des Musikstücks der Woche zugleich die Chance zu lassen, selbst noch Anspielungen und Fahrradthemen zu entdecken.

Wie jeden Sommer möchten wir zuletzt auch noch eine Empfehlung für die vorlesungsfreie Zeit abgeben, natürlich abermals in Form eines Liedes, das der Sängerin und Urheberin, aber auch unserer eigenen Hörerfahrung zufolge eine herrlich-realistische Sommerstimmung einfängt.

YouTube-Links:
Hip-Hope Buster, À bicyclette

Yves Montand, À bicyclette

Dota, Sommer

Für weitere musikalisch-fietsvriendelijke Stunden empfehlen wir Ihnen, sich einmal auf unserem YouTube-Kanal umzusehen und unsere vielfältigen und umfangreichen Fietsliedje-Playlists zu entdecken!

Bei Fragen, Anregungen oder ähnlichem schrecken Sie nicht vor einer Kontaktaufnahme zurück: forschungsgruppe.fietslliedjes@gmail.com

* Über den Begriff tricyclette brechen wir lieber keine weitere Diskussion vom Zaun. Immerhin stellt sich die Frage, warum es seine Bezeichnung durch die Anzahl der Sitze erhält (drei), während bei der bicyclette die Anzahl der Räder (zwei) begriffsbildend ist … Immerhin müssen wir den Songtitel nicht in Frage stellen, da das tricyclette ja zweirädrig ist und insofern auch als bicyclette durchgehen könnte!


1.–7.7.2024: ausgesucht von Franziska Weigert

Taylor Swift, Album The Tortured Poets Department: The Anthology

Wenn man sich auf eines in Taylor Swifts musikalischem Schaffen verlassen kann, dann, dass das nächste Album ganz anders wird, als man es erwartet. Und so ist auch ihr elftes Studioalbum wieder einmal eine Überraschung. Anders als man von der dark academia-esken Vermarktung im Vorfeld hätte erwarten können, ist The Tortured Poets Department ein überwiegend synth-lastiges Album mit freundlichen Grüßen aus den 1980ern. Die ersten 16 Songs sind emotional sehr messy und thematisch bei weitem nicht so gefällig, wie frühere Platten (ja, in Zeiten der nostalgischen Vinyl-Revivals kann man wieder von Platten sprechen). Gleich der erste Song Fortnight (feat. Post Malone) startet mit einer Verszeile, wie ein Schlag in die Magengrube: „I was supposed to be sent away but they forgot to come and get me.” Damit knüpft Swift an die letzten Verszeilen ihres vorausgehenden Albums Midnights (2022) an. Der abschließende Song Hits different endet mit „Is it you, or have they come to take me away?”. Psychiatrisches als Motiv taucht dann im Album mehrmals auf, zum Beispiel im Lied Who’s Afraid of Little Old Me? („You should be.“), wenn sie singt „You wouldn’t last an hour in the asylum where they raised me.”

Wie erwartet ist The Tortured Poets Department ein Trennungsalbum – Swifts unangefochtene Stärke. Was aber Fans und Kritiker:innen überraschte, war, dass sie statt einer gleich zwei Trennungen verarbeitete und dabei nicht nur thematisierte, woran diese Beziehungen zu Bruch gegangen sind, sondern auch deutliche Kritik an dem voyeuristischen Interesse an ihrem Liebesunglück übte. Im Song How did it end? vollzieht Swift (in den meisten Songs ist sie selbst als lyrisches Ich erkennbar) eine öffentliche Obduktion ihrer Trennungen und dekonstruiert dabei auf das vorzüglichste den „empathetic hunger“ der Öffentlichkeit, wenn es um die schmutzigen Details geht. Dabei wird wie nie zuvor die Diskrepanz deutlich, die aus ihrem autobiographischen künstlerischen Schaffen und dem Wunsch nach Privatsphäre entsteht. Auch in But Daddy I Love Him rechnet sie mit der übergriffigen öffentlichen Meinung ab, die ihr 2023 vehement vom Daten eines Künstlerkollegen, sagen wir mal euphemistisch, „abriet“: „I’ll tell you something about my good name / It’s mine alone to disgrace“. Swift zeigt damit, dass sie die Zügel über die Narrative, die ihre Person umschwirren, gerne selbst in der Hand hält.

Es gäbe so viel über die weiteren motivischen und musikalischen Topoi zu sagen, mit denen das Album bis zum Rand vollgestopft ist, aber ich beschränke mich auf ein paar einzelne. Zunächst erscheint das melodische Material besonders in der ersten Hälfte des Albums etwas karg. Swift rezitiert eher, beinahe psalmodisch, anstatt große Melodien zu entwickeln. Aber was soll man sagen, der Albumtitel ist nun mal Programm. Hier geht es in erster Linie um die Lyrik. Und die ist ein Wunderwerk der Assoziationen, Metaphern und Assonanzen. Verse wie „I got cursed like Eve got bitten“ (The Prophecy), „I hate it here so I will go / to lunar valleys in my mind / When they find a better planet / only the gentle survive“ (I Hate It Here), „And in the blink of a crinkling eye / I’m sinking, our fingers entwined” (So High School) oder „Blood’s thick but nothing like a payroll“ (Cassandra) klingen noch lange nach. Diese genannten Songs stammen alle von der zweiten Albumhälfte, denn – Überraschung! – The Tortured Poets Department ist ein Doppelalbum mit insgesamt 31 Songs. Während die erste Hälfte als ebenso trauriger wie wütender Rundumschlag zu beschreiben ist, eingebettet in Jack Antonoffs glitzernd-chillige Elektro-Produktion, ist die zweite Hälfte sozusagen die „dunkle Saite des Mondes“. Diese Saite zupft sich eher wie Swifts Alben folklore und evermore (beide 2020) und sind von der Akustik-lastigen Produktion von Aaron Dessner geprägt. In diesen Texten tut sich die ganze Wucht von Swifts Songwriting auf, und man mag angesichts der mythologischen Verweise (Cassandra), des heraufbeschworenen Antagonismus (u. a. The Albatross), der symbolkräftigen Metaphern (u. a. How Did It End?) und literarischen Bezüge (u. a. Peter) staunen, dass eine Künstlerin im 21. Jahrhundert mit solchem Material zum Leuchtturm der Musikindustrie werden kann.

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24.–30.6.2024: ausgesucht von Simon Hensel

SIX – Live in Consort! (2017)

Auch wer kein Fan von Girl Groups ist, sollte sich ein Konzert von SIX nicht entgehen lassen! Wer sind die Sechs? Katharina von Aragon, Anne Boleyn, Jane Seymour, Anna von Kleve, Catherine Howard und Catherine Parr. Unter dem Motto „Divorced – Beheaded – Live!“ singen und tanzen sich die sechs Queens durch den Abend und liefern dabei eine Show ab, die zu Recht als Renaissance des Pop gefeiert wird. Jeder Song ist ein Hit und wird von einer unglaublich energiegeladenen, vierköpfigen Band getragen – in komplett weiblicher Besetzung versteht sich. Dabei ist nicht nur die unnachahmliche Chemie zwischen den Königinnen zu spüren, wir lernen auch ihre individuellen, einzigartigen Lebensgeschichten kennen. Doch es ist nicht alles rosig im Hause Tudor. Es wird ständig darüber gestritten, wer es am schwersten im Leben hatte und vor allem, wer die meisten Ungerechtigkeiten durch den gemeinsamen Ehemann erfuhr: Heinrich VIII. Jeden Abend entwickelt sich dieser Streit zu einem Songbattle um die Krone der bedauernswertesten Ehefrau: Wer wurde von ihren Kindern getrennt? Wer misshandelt? Wer hingerichtet? Zum Glück erkennen unsere Queens am Ende jeder Show, dass sie zusammen wie jede für sich mehr sind als die Exfrauen eines englischen Tyrannen. Wer selbst diese packende Geschichtsstunde erleben will, kann dies immer noch bei den regelmäßigen Auftritten von SIX in New York und London tun, und gelegentlich auch auf Touren durch Europa. Allen, die es nicht zu einer Liveshow schaffen, seien die genauso mitreißenden Alben der Band ans Herz gelegt.

Für mich persönlich war SIX eine der mitreißendsten, unterhaltsamsten und emotionalsten Konzert- und Musicalerfahrungen, die ich je hatte.

Hörempfehlung: „Ex-Wives“, „All You Wanna Do“, „I Don’t Need Your Love“, „Six“

Link zur kompletten Original Cast Recording


17.–23.6.2024: ausgesucht von Angelina Sowa

Zart erheben sich die Streicher in langen Notenwerten über dem trabenden Rhythmus der Gitarre. Das Horn tritt in einen friedsamen Dialog mit den Violinen, bevor die breiten melodischen Linien einer einsamen Mundharmonika die Bilder der weiten Landschaft Kroatiens (!) evozieren. Beinahe spürbar wird die Präsenz des Apachenhäuptlings, wenn das Pizzicato im Bass das gleichmäßige Galoppieren der Pferde lebendig werden lässt. In harmonischer Eintracht schreitet die Musik sicher mit den beiden Blutsbrüdern voran und ruft die vertrauten Erinnerungen an eine der erfolgreichsten Reihen der deutschen Filmgeschichte wach. Na, haben Sie erraten, um welche Musik es sich hier handelt?

Richtig, gemeint ist hier natürlich der berühmte Soundtrack zu den Karl-May-Filmen der 1960er Jahre! Bis zu 17 Wochen lang stand die Old-Shatterhand-Melodie 1962 an der Spitze der deutschen Charts. Mehr als 100.000-mal wurde sie verkauft und noch Jahre später vielfach verarbeitet und gecovert. Ein Winnetou-Film ohne die bekannten instrumentalen Leitthemen? Undenkbar! Die Klänge der Karl-May-Verfilmungen schwingen noch heute in den Erinnerungen vieler an ihre Kindheit oder Jugend mit.
Kaum zu glauben also, dass ausgerechnet der Komponist dieser Melodien heutzutage nur wenigen bekannt ist. Als einer der – zumindest für jüngere Generationen – bekanntesten Unbekannten in der deutschen Musiklandschaft tritt Martin Böttcher (1927–2019) nicht aus dem Schatten seiner Musik heraus. Zunächst als Gitarrist im Nordwestdeutschen Rundfunk tätig, hatte sich der leidenschaftliche Jazz-Musiker schon früh der Unterhaltungsmusik verschrieben, bevor er sich ab 1946 endgültig dem Film zuwandte. Dabei war eine Musikkarriere für Böttcher bei weitem keine Selbstverständlichkeit. Nicht nur war der Komponist nach einem Unfall mit Schädelbasisbruch seit seinem vierten Lebensjahr auf dem linken Ohr ertaubt, auch das Gitarrenspiel eignete er sich erst im Erwachsenenalter an, autodidaktisch während seiner Kriegsgefangenschaft. Dass er also bis zu seinem Tod die Soundtracks zu mehr als 50 Kinofilmen und 300 Fernsehproduktionen schreiben sollte, war nicht gerade von Anfang an vorgeprägt. Zu insgesamt neun Karl-May-Verfilmungen komponierte er die Musik. Untrennbar sind seine Melodien mit der einzigartigen Atmosphäre in den Filmen verbunden, sodass ein Kritiker nach der Uraufführung von Der Schatz im Silbersee (1962) dem Soundtrack die Hälfte des Erfolges an dem Film zuschrieb. Hatte Böttcher sich auch Zeit seines Lebens im Hintergrund seines Schaffens aufgehalten, hinterlässt er doch ein beeindruckendes musikalisches Erbe, das weit über seine Zeit hinausreicht.

Wenn sich die ein oder andere Person nun stirnrunzelnd fragt, ob mir inmitten meiner Nostalgie-durchtränkten Beschreibung der Musik die Rassismusdebatte im Zusammenhang mit den Winnetou-Büchern entgangen sei, so ist hier meine einfache Antwort: Nein, und vielmehr: ganz im Gegenteil! Ich denke, dass eine Auseinandersetzung mit Böttchers Filmmusik eine Betrachtung dieser Debatte beinhalten muss, gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Zeitgeschehens. Dennoch möchte ich versuchen, diese Thematik aus einem differenzierten Blickwinkel zu betrachten, der sich auf die Lesartenbreite der Karl-May-Bücher konzentriert. So wurde der nunmehr 150 Jahre alte Stoff seit seiner Entstehung auf unterschiedlichste Weise rezipiert: Hatte beispielweise die Friedensforscherin Bertha von Suttner (1843–1914) den deutschen Schriftsteller noch als Pazifisten gelesen, so war dieser in der DDR lange Zeit als bürgerlicher Autor verpönt. Als zu konservativ und rückständig hatte man Karl May empfunden, bevor es in den 1980er Jahren zu einem Wandel kam, der ihn als humanistischen Autor wieder aufleben ließ. Dass dagegen heutzutage gerade die postkoloniale Theorie einen besonders kritischen Blick auf den Schriftsteller und sein Werk geworfen hat, dürfte wohl am besten die im August 2022 ins Leben gerufene Winnetou-Debatte verdeutlichen: Dem Vorwurf folgend, dass der Karl-May-Stoff rassistische Stereotypen aus der Kolonialzeit reproduziere, zog der Ravensburger Verlag das Beiprodukt zum Kinofilm Der junge Häuptling Winnetou zurück, was die Diskussionen um die ursprünglichen Bücher Mays erneut entfachte.

Diese Debatte wirft die Frage nach der Brauchbarkeit dieser Stoffe in der heutigen Zeit auf. Wie fast alle Texte aus dem 19. Jahrhundert müssen sie heutzutage aus einer historischen Distanz gelesen werden, damit es weder zu einer Vorverurteilung kommt, welche die historischen Kontexte ignoriert, noch zu einer naiven und unkritischen Lektüre. So bewegt sich konsequenterweise auch die Musik zu den Winnetou-Filmen zwischen den eben beschriebenen Polen: Einerseits evoziert sie die Erinnerungen an die filmische Inszenierung einer engen, interkulturellen Freundschaft, andererseits schwingen in ihr die rassistischen Rudimente der deutschen Kolonialzeit mit, die diese Filme an verschiedenen Stellen belasten. Auf die Frage, ob das Hören dieser Stücke automatisch bedeutet, sich mit diesen Ambivalenzen auseinandersetzen zu müssen, geben wahrscheinlich nicht alle dieselbe Antwort. Oder auf die Frage, ob zwischen aller Kritik an den Filmen nicht auch etwas Wertvolles in dieser Musik transportiert wird.

YouTube-Link (Old Shatterhand-Melodie)

YouTube-Link (Winnetou-Melodie)


10.–16.67.2024: ausgesucht von Lukas Fröhlich

Walter Wigand, The World is Gaga-Ga

Scrollt man durch das Archiv des Musikstücks der Woche, so stellt man fest, dass immer wieder auch relativ düstere und ernste Musikstücke vertreten sind. Ein gewisser Lukas Fröhlich hat sich da in den letzten Semestern unter anderem mit einem Dark-Jazz-Mitternachtsspaziergang, einem erdrückenden Albtraum von der alles verschlingenden Ewigkeit und einem heidnischen, archaischen Kriegsritual besonders hervorgetan. Gerade die Abwechslung und das oftmals Unerwartete bereichern aber natürlich dieses Format, und deshalb soll dieses Musikstück der Woche von ebenjenem Lukas Fröhlich aus einer etwas anderen Richtung kommen.

Ebenso ungewöhnlich und skurril wie das Stück selbst an dieser Stelle, ist wohl auch seine Geschichte: Eigentlich entstand es 2011, doch sein Erfolg begann erst zehn Jahre später. Maßgeblich daran beteiligt war Spiegel TV: Am 1. Dezember 2021 erschien die nunmehr fünfte Folge der sogenannten „Penny-Markt“-Dokureihe, in der, wie in allen anderen Folgen auch, der Alltag im Penny-Markt auf der Hamburger Reeperbahn gezeigt werden soll. Zwar bin ich persönlich kein Fan dieser Reihe und verfolge sie nicht aktiv, wurde aber von einer überwältigenden Masse an Clips aus dieser Folge geradezu überrollt. Diese Clips zeigten allesamt eine Person, die besonders heraussticht: Ein als Musikproduzent vorgestellter Herr Namens Walter Wigand (tatsächlich ist er darüber hinaus auch Komponist und Synchronsprecher), dem wir zunächst beim Obsteinkauf folgen (der Genuss von Blutorangen fördert gute musikalische Einfälle, erklärt er), und der anschließend von einem seiner Lieder erzählt, inklusive einer leidenschaftlichen Gesangsdarbietung. The World is Gaga-Ga heißt das Lied, und als musikinteressierter Zuschauer, der Walter Wigand auch noch ausgesprochen sympathisch findet, sucht man natürlich umgehend nach diesem Lied – und findet es. Und findet es großartig. Gesungen von den „Chicas United“, zu sehen in einem leicht verschwommenen Video in maximal 480p-Qualität; alles daran macht dem Titel alle Ehre und hebt die Laune des Betrachters unweigerlich an. Doch was genau ist das musikalische Geheimnis dieses Werks, das ihm seinen unwiderstehlichen Charme verleiht? Nun, das erklärt der Produzent und Komponist höchstselbst in der Penny-Doku, aber auch in einem uralten Kommentar unter dem Musikvideo. Der Refrain von The World is Gaga-Ga ist nach dem Prinzip eines Quodlibet komponiert, lässt also voneinander eigentlich unabhängige Melodien gleichzeitig erklingen. Wigand, der sowohl in Hamburg als auch in Havanna zuhause ist und fast immer in irgendeiner Form die Flaggen der beiden Länder Deutschland und Kuba mit oder an sich trägt, kombiniert eine mutmaßlich deutsche mit einer spanischen Melodie. Für Deutschland steht dabei kein geringeres Stück als der berühmt-berüchtigte Flohwalzer, eine Melodie mit Ohrwurmgarantie, die wohl mit Sicherheit jeder schon einmal gehört, oder sogar gespielt hat. Wigand streicht die ganzen b-Vorzeichen aus dem Original und transponiert die Melodie von Ges-Dur nach G-Dur, doch bleibt sie glasklar erkennbar. Seinen spanischen, beziehungsweise kubanischen Partner findet der Floh in der Kakerlake, La Cucaracha. Am Anfang von The World is Gaga-Ga hält die sich eher noch im Hintergrund, da die Sängerinnen sich das gesamte Stück über auf die Flohwalzer-Melodie beschränken, doch hört man genau hin, kann man La Cucaracha aber auch hier schon in einer Gitarrenstimme im Hintergrund ausmachen. Ihren großen Auftritt bekommt die Kakerlake in der instrumentalen Bridge in der Mitte des Stücks, in der die Steeldrum ihre Melodie übernimmt. Zwischen den Refrains stehen zweisprachige Strophen (englisch/spanisch) in e-Moll, die für musikalische Abwechslung sorgen und den Text geringfügig, wenn auch inhaltlich nicht weltbewegend, erweitern. Eine abschließende Rückung des Refrains nach A-Dur lässt ihn noch einmal in vollem Glanz erstrahlen, und seine schier endlose Wiederholung als Abschluss des Stücks wirkt geradezu rauschhaft. Mit dieser ausgelassenen Stimmung passt der Schlager sehr gut zur momentanen Jahreszeit, und das hat auch die nach dem Penny-Auftritt rasant anwachsende Fangemeinde des Künstlers erkannt. Ambitionierte Versuche, das Stück zum großen Sommerhit des Jahres 2022 zu machen, schlugen fehl, stattdessen kürte das GfK-Marktforschungsinstitut Layla zum offiziellen Sommerhit des Jahres – das zugegebenermaßen tatsächlich präsenter, erfolgreicher (wohl nicht zuletzt aufgrund der Kontroverse darum …) und auch ein klein wenig aktueller war. Offizieller Sommerhit wird The World is Gaga-Ga wohl nicht mehr werden, aber vielleicht landet es ja auch diesen Sommer wieder auf einigen privaten Playlists. Und auch diejenigen, die das Stück nach diesem Beitrag anhören und wider Erwarten nicht mögen, werden trotzdem einen tagelang anhaltenden Ohrwurm davon haben. Gern geschehen!

YouTube-Link 

Zusätzlich zum YouTube-Link sei auch auf die Seite gaga-ga.de verwiesen, den offiziellen Online-Auftritt von Walter Wigand. Dort ist nicht nur weitere ausgezeichnete Musik des Künstlers versteckt (das Wort „versteckt“ ist hier wörtlich zu nehmen), darunter ein großartiges Cover des Rolling Stones-Hits Honky Tonk Women, sondern die Seite ist darüber hinaus derart skurril und witzig, dass sie an sich schon einen Blick wert ist.


3.–9.6.2024: ausgesucht von Gregor Herzfeld

Louise Farrenc, 30 Études dans tous les tons majeurs et mineurs pour piano op. 26 (ca. 1839)

Jeanne-Louise Farrenc (1804–1875) hatte großes Glück. Im Gegensatz zu vielen Frauen im 19. Jahrhundert, die eine musikalische Hochbegabung hatten, diese aber höchstens auf einem Instrument, nicht beim Komponieren ausleben konnten, stammt sie aus einer Familie, nämlich die von Künster:innen geprägten Dumonts in Paris, die ein entsprechend liberales Mindset besaßen. So erhielt sie bereits als kleines Mädchen Klavierunterricht bei ihrer Patin, die eine Schülerin Muzio Clementis war. Instrumental- und Kompositionsunterricht bei Größen wie Johann Nepomuk Hummel, Ignaz Moscheles und Antoine Reicha machte aus der Teenagerin eine fähige und geübte Pianistin und Komponistin. Ihre ersten Klavierkompositionen konnte sie als junge Frau in den 1820er Jahren im Verlag ihres Ehemannes Aristide Farrenc veröffentlichen. 1842 geschah etwas vollkommen Neues in der musikalischen Welt: Sie wurde als erste Frau zur Professorin für Klavier an das Pariser Conservatoire berufen, wo sie in den folgenden 30 Jahre lehrte. Eine vollbezahlte musikalische Anstellung einer renommierten Institution in der Musikstadt Paris, die eine sichere, regelmäßige und wenn auch geringer als bei den männlichen Kollegen, so doch stabil vergütete Beschäftigung mit Musik auf allerhöchstem Niveau sowie das professionelle Komponieren erlaubte. Sie schrieb in der Folge viele Werke für Klavier oder mit Klavierbeteiligung, aber auch Orchester- und Vokalmusik. Unter ihren Schülern waren zahlreiche Frauen, die sich auch Preise erspielten und professionelle Karrieren, teilweise auch als Organistinnen oder Komponistinnen, machten.

Zum Zeitpunkt der Berufung wurden ihre wenige Jahre zuvor komponierten Klavieretüden op. 26 ins Curriculum des Klavierunterrichts am Conservatoire aufgenommen. Sie standen in Konkurrenz mit und in Nachfolge von vergleichbaren Werken von Frederic Chopin (op.10 und 25), Franz Liszt (Grandes Études), aber auch den überwiegend technisch ausgerichteten Beiträgen Clementis, Johann Baptist Cramers, Hummels und natürlich Carl Czernys. Und selbstverständlich erinnern manche Texturen bei Farrenc an diese Modelle. Ihre Etüden sind einerseits gesättigt von der Erfahrung als Klavierpädagogin, andererseits bieten sie als Charakterstücke Schüler:innen und Hörer:innen großen musikalischen Genuss. Geübt werden nicht nur Geschwindigkeit, Geläufigkeit, in Skalen, parallelen Terzen, Sexten, Arpeggios etc., sondern auch rhythmisch-metrische Komplexitäten wie vermischte Metren oder auch das polyphone Fugenspiel (z.B. Nr. 12 Fuga à due soggetti), aber ebenfalls musikalische Ausdrucksbereiche des Dolce-, Sostenuto-, Laut-Leise- oder Marcato-Spiels. Besonders häufig eingespielt etwa wurde aus Opus 26 die Etüde Nr. 10 in fis-Moll. Darin trainiert Farrenc die Schülerin, den beliebten Nocturne-Typus zu beherrschen, der sich über Chopin hinaus auch bei Liszt, etwa im berühmten Liebestraum, oder in Felix Mendelssohns „Liedern ohne Worte“ und Fanny Hensels lyrischen Klavierstücken findet. Dazu gehört neben dem grundlegenden lyrischen Tonfall das fließende Verteilen unterschiedlicher rhythmischer Gruppierungen von zwei, drei, vier, fünf, sechs etc. bis zu 29 Tönen auf eine regelmäßige 3/8-Begleitung der linken Hand, wobei auch der Rollentausch der Hände (Begleitung rechts, Melodie links) geübt wird. Das Ganze wird garniert durch eine hochchromatische Harmonik, die auch Ausweichungen in entlegene Tonartenbereiche (z. B. F-Dur) nicht scheut.
Farrenc hat übrigens noch weitere Etüden komponiert, nämlich op. 41, 42 und 50. Der Clou: Sie werden technisch einfacher, nicht schwerer. Je älter und reifer die Komponistin und Pädagogin wird, desto mehr erkennt sie, dass man bei immer jüngeren Zielgruppen ansetzen muss.

Eines meiner musikalischen Initiationserlebnisse als klavierbegeisterter Teenager war die Gesamteinspielung der Chopin-Etüden des kürzlich verstorbenen Ausnahmepianisten Maurizio Pollini, die 1972 entstand und diesen Stücken bei absoluter technischer Erhabenheit musikalisches Leben einhauchte. Die CD muss einige hundert Male bei mir gelaufen sein. Und ich höre sie noch heute gern, im steten Vergleich zu den vielen anderen Interpretationen, die seitdem entstanden sind. Was Etüden angeht, so gab es für mich lange keine Alternative zu Chopin (vielleicht ein bisschen die Etüden von Rachmaninoff, aber von ihm eigentlich lieber die Préludes) – hätte ich Louise Farrenc doch früher kennen gelernt!

Aufnahme: Maria Stratigou, Farrenc Complete Piano Works Vol. 1 – Etudes (Grand Piano, 2022)

Naxos Music Library
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27.5.–2.6.2024: ausgesucht von Frank Ebel

Henry Purcell, Dido and Aeneas

Der englische Sänger und Organist Henry Purcell schrieb um das Jahr 1689 eine der ersten durchkomponierten Opern in englischer Sprache – angesichts einer europäischen Operngeschichte seit 1600 geschieht dies verhältnismäßig spät, und es ist auch nur ein kurzes Werk von knapp einer Stunde Aufführungsdauer. Die Oper ist allerdings möglicherweise nur unvollständig überliefert, denn es gibt keine autographe Musik – lediglich Abschriften einer vermuteten „Urpartitur“, die lange nach Purcells Tod entstanden sind.

Die englische Musiktheater-Tradition des 17. Jahrhunderts unterscheidet sich stark von der aus Italien kommenden Operntradition – hier pflegte man die traditionellen Gattungen Masque und Semi-Opera, die noch keine durchgehende Musik kennen. Die Semi-Opera ist insofern eine „halbe“ Oper, als sich hier gesprochenes Drama mit Instrumentalmusik, Gesang oder Tanz abwechseln, wobei die SchauspielerInnen und SängerInnen nicht unbedingt dieselben Personen sein müssen. Der Begriff „Semi-Opera“ weist allerdings darauf hin, dass man die über Frankreich importierte durchkomponierte Oper wohl kannte, aber eben die englische Tradition weiter pflegen wollte. Henry Purcell ist auch nach dem (erstmals) durchkomponierten Bühnenwerk Dido and Aeneas in der Folge der englischen Form treu geblieben und schrieb danach mindestens sechs weitere Semi-Operas, u. a. King Arthur und The Fairy Queen.

Die Handlung

Wie in der italienischen und französischen Oper des 17. Jahrhunderts sind die Tätigkeit des Librettisten und Komponisten in den Bühnenwerken Henry Purcells voneinander getrennt – der Textautor Nahum Tate (1652–1715) ist ein irischer Dichter und Schriftsteller, der sich auf Theaterstoffe konzentrierte. Dem Londoner Publikum bekannt war er vor allem durch zeitgenössische Adaptionen von Shakespeares Bühnenwerken. Und so ist auch das Libretto zu Dido and Aeneas (nur) ein Ausschnitt und quasi freie Nacherzählung der Literaturvorlage der Aeneis des römischen Autors Vergil (Publius Vergilius Maro, geb. 70 v. Chr. in Mantua), der auf Anregung Kaiser Oktavians das 12 Bücher umfassende Versepos verfasste – ein „Sequel“ der Illias des griechischen Autors Homer (ca. 850 v. Chr.). Die Aeneis von Vergil beschreibt die Lebensgeschichte des nach der Eroberung Trojas von dort geflohenen Prinzen Aeneas und seine Irrfahrten übers Mittelmeer – hier wird der Seefahrer Odysseus aus dem griechischen Heldenepos von Homer zu dem neuen Helden Aeneas, der später die römische Metropole Rom gründen soll. Die Grundzüge der Geschichte, die Vergil in seiner Aeneis umreißt, dürfen sicher beim (gebildeten) Londoner Publikum vorausgesetzt werden, und so kann die Oper quasi mitten in der Geschichte Vergils beginnen:

(1. Akt) Dido, die Königin von Karthago, hat sich in den trojanischen Prinzen Aeneas verliebt, der vor Kurzem mit seinem Gefolge an der nordafrikanischen Küste nach einem Sturm strandete – eigentlich hatte sie nach dem Tod ihres Mannes keine neue Beziehung aufnehmen wollen. Aeneas sieht in einer Verbindung der Beiden die Chance, nach dem Fall Trojas nun ein neues Volk gründen zu können. Eine Zauberin und ihre Hexen wollen die Verbindung zwischen Dido und Aeneas allerdings sabotieren, denn sie hassen alles Glück in der Welt der Menschen. Die Zauberin plant Aeneas durch eine üble Täuschung zu vertreiben: Sie wird ihm einen Geist in der Gestalt des Götterboten Merkur schicken, der ihn tadeln und daran erinnern soll, dass das Orakel des Apoll ihm eigentlich zuvor aufgetragen hatte, nach Italien zu segeln, um dort ein „neues Troja“ zu erschaffen.

(2. Akt) Dido und Aeneas mit ihrem Gefolge erfreuen sich an der Jagd und an der schönen Landschaft. Man vergleicht die Szenerie mit der mythologischen Geschichte von der Jagd-Göttin Diana, die beim Bade einmal von einem Jäger beobachtet wurde und diesen dann in einen Hirsch verwandelte; Aeneas dagegen vergleicht seine angebetete Königin Dido mit Venus, der Göttin der Schönheit. Ein von den Hexen gesandtes Gewitter zieht auf … alle ziehen sich umgehend in die Stadt zurück. In Vergils Vorlage verstecken sich Dido und Aeneas alleine in einer Höhle und vollziehen dort ihre Vermählung – bei Tate/Purcell bleibt die Verbindung unvollzogen. Aeneas wird dann von dem Geist der Hexen aufgehalten, der in der Gestalt des Götterboten Merkur erscheint. Dieser befiehlt ihm, umgehend aus Karthago abzureisen. Aeneas willigt zähneknirschend ein … und fragt sich, wie er das seiner geliebten Königin beibringen soll.

(3. Akt) Aeneas hat den Befehl zum Aufbruch gegeben - seine trojanischen Seeleute rüsten zum Aufbruch und besingen dies freudig. Die Hexen freuen sich über die geglückte Täuschung des Aeneas – sie wollen sein Schiff dann auch in einem Sturm untergehen lassen. Königin Dido ist wegen der Abreise ihres Geliebten am Boden zerstört – und auch Aeneas ist vor Unglück völlig aufgelöst, als er sich verabschieden will. Er ist sogar bereit, sich dem (scheinbaren) Gebot der Götter zu widersetzen und dazubleiben … aber sie bleibt standhaft – sie will nun nichts mehr von ihm wissen und lieber sterben. Es folgt die ergreifendste Arie der Oper “When I am laid in earth”.

Damit endet die Oper – sie ist so also nur ein Ausschnitt aus der größeren Geschichte Vergils, der Aeneis, die sich ganz um das Leben des Aeneas dreht. Hier ist der Aufenthalt in Karthago und die Liebesbeziehung zu Dido nur eine Episode, ein Umweg auf seinem vorbestimmten Pfad nach Italien, wo er zum Gründervater Roms und eines neuen Volkes in der Nachfolge Trojas werden soll. Da die (ganze) Geschichte Vergils als Weltliteratur beim (gebildeten) Londoner Publikum vorausgesetzt werden darf, funktioniert die Auskopplung der Karthago-Episode für die Theaterbühne bestens – sie wird letztlich zu einem der beliebtesten Bühnenstoffe des 17. und 18. Jahrhunderts. Von einem späteren Opern-Libretto Pietro Metastasios (1698–1782) Didone abbandonata (Die verlassene Dido) sind mehr als 60 Vertonungen bekannt.

Eine Besonderheit von Nahum Tates Londoner Libretto ist, dass er die Welt der Götter und die Welt der Menschen auf der Bühne streng trennt. Es ist zwar ständig von der lenkenden Hand der Götter die Rede, in persona (wie bei Vergil) treten sie allerdings nicht auf. Aeneas scheint hier eher zufällig in Karthago gelandet zu sein und verliebt sich als rein menschliche Regung (nicht von den Göttern gesteuert) in Dido. Zum Gegenspieler des Liebespaares werden böse Hexen (seit Shakespeare in England eine feste Größe in jedem Theaterstück), die auch nur einen „Geist“ schicken, um (aus schierer Bosheit) die Liebe zwischen Dido und Aeneas zu verhindern. Bei Vergil ist der Gegenspieler Gott Jupiter selbst, der Aeneas durch den Götterboten Merkur an seine vorbestimmte Aufgabe (nach Italien zu reisen) erinnern lässt.

Zur Musik und Entstehung der Oper

Henry Purcells Wirken (1659–95, nur 36 Jahre) fällt in die Zeit der sog. Restauration, als nach Bürgerkrieg und 10-jähriger puritanischer Republik (in der öffentliche Musik weitgehend verbannt war) nun ab 1660 die Monarchie unter dem protestantischen König Charles II. wieder eingeführt wird. Die Hofmusik ist wieder aktiv und der junge Purcell wird zunächst Sänger bei Hof und später Organist an der Westminster Abbey. Musiktheater wird sowohl am Londoner Hof gepflegt, als auch an wieder eröffneten öffentlichen Theatern – Frauen sind erstmals auf der Theaterbühne zu sehen. Die Musik zur in England noch lange vorherrschenden Masque und Semi-Opera ist teils improvisiert und teils eine Gemeinschaftsarbeit mehrerer Komponisten – so sind von Henry Purcell seit 1880 (mit 21 Jahren) zwar zahlreiche, aber jeweils nur einzelne Songs und Instrumentalmusiken zu Bühnenwerken überliefert.

In einer Zeit neuerlichen politischen Wandels ab 1685 (mit König James II. hatte wieder ein katholischer König den Thron bestiegen, was zu jahrelangen Spannungen in der englischen Gesellschaft führte) wird das öffentliche Theaterleben eingeschränkt und so entsteht Dido and Aeneas 1688/89 offenbar für ein Mädchenpensionat, das von dem Tanzlehrer Josias Priest ab 1680 im Londoner Stadtteil Chelsea betrieben wurde. Von der vermuteten ersten Aufführung 1689 existiert ein vollständiges (aber undatiertes) Libretto, aber leider keine musikalische Partitur oder Stimmen – die erste erhaltene Partiturabschrift ist für eine Wiederaufführung 1774 (85 Jahre später!) überliefert. Die in England vielfältige und teils etwas unüberschaubare Sekundärliteratur zur Entstehungsgeschichte von Purcells erster und einziger Oper versucht bis heute einen Nachweis zu erbringen, dass Dido and Aeneas nicht erst für eine private Aufführung des Mädchenpensionats, sondern möglicherweise doch schon früher am und für den Königshof entstanden ist.

Purcells Oper Dido and Aeneas ist für acht Sängerinnen und einen Sänger sowie Streicher und Basso continuo gesetzt. Zur Besetzung des Orchesters macht Robert Shay in der neuen Partiturausgabe (2023 bei Bärenreiter) genaue Angaben; die vornehmlich weibliche Besetzung liegt wohl in der Konzeption für das Londoner Mädchenpensionat des Tanzlehrers Josias Priest. In das Libretto für diese (vermutete) Uraufführung 1689 sind ungewöhnlich viele Tanzszenen aufgenommen, die in den späteren Partiturabschriften teils nicht mehr erscheinen. Der Schwierigkeitsgrad der Gesangsrollen ist moderat – Dido und ihrer Dienerin Belinda sind die musikalischen Solistinnen mit mehreren Da-capo-Arien, während sich die einzige männliche Rolle des Aeneas nur in Secco-Rezitativen präsentiert. Zentrale musikalische Beiträge kommen vom Chor, der Volkes Stimme, die Hexenschar, das Hofgefolge oder einen Engelschor repräsentiert – der große Chor-Anteil lässt wiederum auf die Konzeption der Oper für das Mädchenpensionat schließen, um viele Bewohnerinnen beteiligen zu können. Vielleicht lässt auch Purcells (erstmals) durchkomponierte Musik auf eine Aufführung durch nicht-professionelle Sängerinnen schließen, welche die Erfahrung zur selbständigen Improvisation nicht hatten. Jedenfalls kehrt Purcell bei seinen späteren (überlieferten) Bühnen-Kompositionen, die dann nach der Glorious Revolution von 1689/90 für die wiedereröffneten öffentlichen Theater geschrieben werden, zur Form der Semi-Opera zurück – Dido and Aeneas wird seine einzige durchkomponierte Oper bleiben.

Aufnahmen

Es gibt zahlreiche Aufnahmen von Purcells Dido and Aeneas auf Schallplatte, CD und den einschlägigen Musikportalen im Internet – Oper ist aber ohne das Bühnengeschehen unvollständig. YouTube bietet uns aktuell drei Versionen (mit Bühnengeschehen ...):

(1) Dido and Aeneas (eingestellt von Eugene Enrico) – eine Aufführung der University of Oklahoma School of Music von 2007 – das Bühnengeschehen (in barocken Kostümen!) gut abgefilmt und mit ordentlichem Ton und fest eingestellten engl. Untertiteln.

(2) Dido & Aeneas at Versailles (eingestellt von Delphine C) – eine Aufführung der Opéra de Rouen am Hoftheater von Versailles, 2017 produziert von France Television 2 – professionelle Operninszenierung mit etwas zu großen franz. Untertiteln.

(3) Dido and Aeneas (2023, eingestellt von Hochschule für Musik Dresden) ein Musiktheaterprojekt von Studierenden der Musikhochschule und der Hochschule für Bildende Künste. - Diese Aufführung mit Werkstattcharakter, professionell abgefilmt im Labortheater der Hochschule, kommt wohl der ursprünglichen Aufführung im Londoner Mädchenpensionat am nächsten – auf einer Probenbühne zusammen mit dem Orchester agieren SängerInnen, Chor und Orchester gemeinsam. Die Choreografie ist einfach gehalten, die SängerInnen stecken in improvisierten Kostümen und konzentrieren sich stark auf ihren Gesang – ganz ähnlich dürfen wir uns die erste und wohl bis über Purcells Tod hinaus einzige Vorstellung dieser Oper vorstellen – meine Empfehlung (!)


20.–26.5.2024: ausgesucht von Emily Martin

Karl Jenkins, Requiem (2005)

Dass sich als Requiem bezeichnete Kompositionen in ihrer musikalischen Gestalt stark voneinander unterscheiden können, liegt in der langen Tradition der Gattung begründet. Der seit Jahrhunderten vielfach vertonte, ursprünglich aus der Liturgie der katholischen Kirche stammende lateinische Text wurde über Epochengrenzen hinweg als Grundlage zahlreicher Kompositionen genommen. Selbst als sich das Requiem als musikalische Gattung von seinem ursprünglich kirchlichen Kontext gelöst hatte, blieb der lateinische Text ein vereinendes Merkmal dieser ansonsten äußerst vielfältig gestalteten Werke. Das 2005 uraufgeführte Requiem von Karl Jenkins (*1944), das von den bekannten lateinischen Worten „Requiem aeternam dona eis, Domine“ eingeleitet wird, reiht sich somit in eine lange Gattungstradition ein. Interessant ist jedoch, dass sich der in Wales geborene Musiker und Komponist für den weiteren Verlauf seines Requiems nicht auf die Vertonung des lateinischen Textes aus der katholischen Liturgie beschränkte, sondern diesen um fünf japanische Haiku-Totengedichte erweiterte.

Jenkins’ Vorliebe dafür, Elemente aus anderen Kulturen in seine Kompositionen aufzunehmen, zeigt sich über die textliche Erweiterung hinaus auch in der Instrumentalbesetzung des Requiems. Denn neben Streichern, Harfe, Hörnern und Schlaginstrumenten verlangt er eine Shakuhachi – ein antikes japanisches Holzblasinstrument, das in etwa mit einer Blockflöte verglichen werden kann, jedoch üblicherweise aus einem Bambusrohr gefertigt wird. Der leise und ungewohnte Klang, der sich insbesondere daraus ergibt, dass der Luftfluss innerhalb der Bambusröhre beim Spielen der Shakuhachi auffallend stark zu hören ist, verhilft dem Requiem an vielen Stellen zu einem einzigartigen Höreindruck mit meditativem Charakter. Dieser Umstand überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass der Zen-Buddhismus dieses Instrument im 17. Jahrhundert für sich entdeckte und infolgedessen bei spirituellen Meditationen einsetzte. Die in weiten Teilen vorherrschende meditative Wirkung des Requiems wird daneben auch durch den repetitiven Umgang mit musikalischem Material erzeugt, der auf Jenkins’ Auseinandersetzung mit Kompositionstechniken der Minimal music zurückgehen dürfte.

Mit seinem Requiem gelang Jenkins sowohl in textlicher als auch in musikalischer Hinsicht eine Verbindung jahrhundertealter Traditionen europäischer und asiatischer Kultur. Mit der Kombination von lateinischem Requiemstext und japanischen Haikugedichten und in der Aufnahme von Instrumenten und Kompositionstechniken, die an buddhistische Meditationen erinnern, schuf Jenkins ein Werk, das die Grenzen zwischen den Religionen aufzuheben scheint. Besonders in der heutigen Zeit, in der Unterschiede zwischen Kulturen vielerorts als unvereinbare Gegensätze gelten, kann Jenkins’ Requiem als Beweis dafür gesehen werden, wie lohnend der Versuch, unterschiedliche Traditionen miteinander zu verbinden, sein kann.

Auch wenn ich jedem das Hören des ganzen, knapp einstündigen Requiems sehr ans Herz legen würde, so kann ich für einen ersten Eindruck von der interkulturellen Dimension des Werkes die beiden Sätze empfehlen, in denen Jenkins die unterschiedlichen Texte nicht getrennt voneinander, sondern innerhalb eines einzigen Satzes vertonte. Für Having Seen The Moon und Farewell kombinierte Jenkins den Text des Benedictus und des Agnus Dei mit je einem japanischen Haikugedicht. Der lateinische Requiemstext wird einstimmig von den Männerstimmen vorgetragen, womit Assoziationen an den gregorianischen Choral der katholischen Kirche geweckt werden. Der japanische Text liegt in beiden Sätzen ausschließlich in den Frauenstimmen. Wenn die Stimmen trotz der sprachlichen und musikalischen Unterschiede in einen Dialog treten, an dem sich schließlich auch die Shakuhachi beteiligt, scheint die Vision einer Welt, in der unterschiedliche Kulturen friedlich nebeneinander existieren, ein Stück weit greifbarer zu werden.

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13.–19.5.2024: ausgesucht von Patrick Ehrich

The Beatles, Eleanor Rigby (1966)

Mitte der 1960er Jahre befanden sich die Beatles in einer existenziellen Krise. In den vorangegangenen Jahren hatten sie die Welt mit ihren Songs und ihrem unkonventionellen Auftreten quasi im Sturm erobert. Alles, was sie anfassten, schien ihnen mit unbekümmerter Leichtigkeit von der Hand zu gehen und zum Erfolg zu werden. Unter der Oberfläche brodelte es aber in der Band. Vor allem die langen Tourneen forderten körperlich wie mental ihren Tribut von den vier Musikern. Im August 1966 spielten sie, vier Jahre vor ihrer Auflösung, im Candlestick Park in San Francisco ihr letztes Konzert vor zahlendem Publikum. Danach war die Band – mit Ausnahme des „Rooftop Concert“ 1969 – ausschließlich als Studioband tätig.

Der Song Eleanor Rigby, der fast zeitgleich zu diesem letzten Konzert erschien, steht wie kaum ein anderer für die sich neu erfindenden Beatles. Während die meisten Songs in der ersten Hälfte der 1960er Jahre noch von John Lennon und Paul McCartney gemeinsam komponiert worden waren, schrieb McCartney Eleanor Rigby fast im Alleingang und beschritt dabei inhaltlich wie musikalisch neue Wege.

Im Text spricht er ein im damaligen England unbequemes Thema an – die Altersarmut und Einsamkeit der Senioren der Nachkriegsgeneration. Inhaltlich kreisen die Lyrics um zwei Personen: zum einen Eleanor Rigby, die kaum Kontakt zu anderen Menschen hat und offenbar als Putzfrau in der örtlichen Kirche arbeitet. Die andere Person ist der Geistliche Father McKenzie, dessen Weg sich mit dem von Eleanor Rigby erst kreuzt, als er ihren Trauergottesdienst hält, zu dem sonst niemand erscheint. Dabei wird der Inhalt frei von Pathos und mit einer überraschenden Nüchternheit und Teilnahmslosigkeit berichtet.

Musikalisch zeigen sich die Beatles bei Eleanor Rigby experimentierfreudig: Im Song kommen keine Bandinstrumente zum Einsatz. Stattdessen wird der Sänger und Songwriter McCartney von einem Doppelstreichquartett – vier Violinen, zwei Bratschen und zwei Celli – begleitet. Die Anregung dazu kam vom Beatles-Produzenten George Martin, der sich für diese Instrumentierung vom Soundtrack des Alfred-Hitchcock-Films Psycho inspirieren hatte lassen. Um die Streicher dabei möglichst aggressiv klingen zu lassen, verwendete Martin eine ungewöhnlich nahe Mikrofonierung an der Brücke der Instrumente (im Gegensatz zu dem bis heute üblichen Standard, Streicher mit etwas Abstand zu mikrofonieren, um einen weicheren, räumlicheren Klang zu erzielen).

Formal spielt der Song mit der heute etablierten, aber in den 1960er Jahren noch vergleichsweise neuen Strophe-Refrain-Bridge-Form. Der Song beginnt mit dem Refrain („Ah, look at all the lonely people”) und geht erst danach zur ersten Strophe über („Eleanor Rigby …“). Darauf folgt ein Teil („All the lonely people, where do they all come from“), den man nach heutiger Terminologie wohl am ehesten als Prechorus bezeichnen würde – nur dass dieser nicht zum Refrain führt, sondern zur zweiten Strophe.

Der Song endet schließlich auf einer formal ähnlich ambivalenten Note mit dem Prechorus. Dabei singt eine zweite Gesangsstimme im Hintergrund ähnlich wie bei einem Quodlibet die Melodie des Refrains. Der Refrain selbst wird aber nicht mehr erreicht, und so wirkt das Ende von Eleanor Rigby in gewisser Weise ähnlich unvermittelt und gleichzeitig unspektakulär wie das seiner Hauptfigur.

Wie von fast jedem erfolgreichen Beatles-Song gibt es auch von Eleanor Rigby zahllose Cover-Versionen. Eine, die ich – neben dem Original – hier wärmstens empfehlen möchte, ist die von Cody Fry. Sie ist mit viel Liebe zum Detail und vor allem zum Beatles-Original arrangiert worden. Wer den entsprechenden „Nerd-Faktor“ und einen großen Monitor mitbringt, kann sogar in Frys Partitur mitlesen.

YouTube-Link zur Originalversion
YouTube-Link zur Version von Cody Fry


6.–12.5.2024: ausgesucht von Katelijne Schiltz

Pierre Sandrin, Doulce mémoire (Ensemble Doulce mémoire, Leitung: Denis Raison-Dadre)

„Doulce mémoire“ – „süße Erinnerung“…so beginnt der Text einer vierstimmigen Chanson von Pierre Sandrin aka Pierre Regnault (ca. 1490–ca. 1560). In gedruckter Form erschien das Werk zuerst in den späten 1530er Jahren – und von da an sollte es einen ungeahnten Erfolg zeitigen. Die Chanson findet sich nicht nur in zahlreichen Handschriften und Drucken, sondern regte auch andere Komponisten – in einem für die Zeit typischen Prozess des kreativen Wetteiferns – zur Vertonung an (bekannt sind etwa Versionen von Layolle, Manchicourt, Buus u. A.). Darüber hinaus sind lateinische Kontrafakte („Dulcis memoria […]“) und instrumentale Bearbeitungen für Laute, Orgel und Viola da Gamba überliefert. Rore und Lasso diente die Chanson als Vorlage für eine Messe, und Clemens non Papa verarbeitete sie in einem Magnificat.

Wer den Text schrieb, ist nicht gesichert, doch legt eine Handschrift in der Bibliothek von Schloss Chantilly eine Zuschreibung an den französischen König François I. nahe (einige Seiten dieser Handschrift sind digital zugänglich). Melancholie beherrscht den Inhalt des Gedichts. Das lyrische Ich besingt eine glückliche Vergangenheit, die von Standfestigkeit („fermetée“) und Hoffnung („espérance“) gekennzeichnet war und nun unwiederbringlich verloren ist. Die Quintessenz des Gedichts findet sich in der letzten Zeile des huitain: „Fini le bien, le mal soudain commence“ („Sobald das Gute geendet ist, hebt gleich das Übel an“). Was übrig bleibt, ist die Erinnerung an eine süße Vergangenheit.

Douce mémoire, en plaisir consommée;
O siècle heureux que cause tel savoir:
La fermetée de nous deux tant aimée,
Qui à nos maux a su si bien pourvoir,
Or maintenant a perdu son pouvoir,
Rompant le but de ma seule espérance,
Servant d’exemple à tous piteux à voir.
Fini le bien, le mal soudain commence.

Süße Erinnerung in Freude versunken,
o glückliches Zeitalter, das solches Wissen hervorbringt,
die Standhaftigkeit, so sehr von uns beiden geliebt,
die uns so gut vor allem Übel hat bewahren können,
hat nun verloren ihre Macht,
indem sie das Ziel meiner einzigen Hoffnung aufgab
und nun als Beispiel dient, für alle mitleidvoll zu schauen:
Sobald das Gute geendet ist, hebt gleich das Übel an.

Doulce mémoire eröffnet mit einer homophon deklamierten Phrase, in einem für die sog. Pariser Chanson typischen rhythmischen Muster. Sandrins Chanson bleibt über weite Strecken homophon, an einigen Stellen (z. B. bei „en plaisir consommée“) wechselt sie kurz zu einer polyphonen Textur. Die Komposition lebt nicht von „großen Gesten“, sondern ist gerade durch ihren reduzierten, fast zurückgenommenen Charakter so einprägsam. Und somit sind es nicht zuletzt subtile Details, die eine besondere Wirkung haben, wie etwa die Melismen in den Unterstimmen bei „consommée“ und „heureux“ oder der g-Moll-Akkord bei „or maintenant“. Für mich ist es aber die Schlusszeile, in der die ganze Melancholie und die Trauer über vergangenes Glück aus dem lyrischen Ich herausbricht, die bei jedem Hören heraussticht: Sandrin lässt die beiden Oberstimmen in langen, auf- und absteigenden Melismen, die den gesamten Tonraum des Modus umspannen und sogar überschreiten, die Macht- und Hoffnungslosigkeit geradezu herausschreien, um ganz am Ende resignierend zu einem akkordischen Duktus zurückzukehren.

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29.4.–5.5.2024: ausgesucht von Annika Voll

Richard Strauss, Eine Alpensinfonie op. 64 (Arn Goerke, Orchester Concertare)

Obwohl der Uni-Campus in der vorlesungsfreien Zeit ein verlassener Ort zu sein scheint, schläft das Kulturleben dort keinesfalls. Nicht nur externe Veranstaltungen beanspruchen das Audimax: In der Woche vom 11. bis 16. März 2024 belebt die selbstorganisierte Wandertruppe „Orchester Concertare“ fast das ganze Zentrale Hörsaalgebäude. Richard Strauss’ Eine Alpensinfonie op. 64 soll aufgeführt werden, und vereint zum ersten Mal Musizierende der Universitätsorchester Regensburg und Erlangen zu einer gemeinsamen musikalischen Bergbesteigung. „Wie schafft man es, dieses komplexe Werk zu erklimmen?“, war die Frage, die das siebenköpfige Wanderführenden-Team lange umtrieb. Neben ausführlicher Eigenvorbereitung und Tuttiproben mit UMD Arn Goerke wurden wir an den ersten zwei Tagen von professionellen Dozierenden aus ganz Deutschland mit dem nötigen Equipment ausgestattet, um die Tour bewältigen zu können.

Es gibt eine Menge Deutungen und Interpretationen, mit denen sehr viel mehr aus der Alpensinfonie herausgelesen werden kann als eine Alpintour. Doch möchte ich hier viel mehr einen Reiseführer zu Strauss’ vielschichtiger Landschaftsmalerei geben. Eine Komposition, mit der der Komponist „sein Publikum fest in der Hand hält, [und] ihm die Hypnose gänzlich gelungen ist“, so eine Konzertkritik nach der Uraufführung 1915 in Berlin – in einem solchen Bann hält er auch die Musizierenden. So ist in dieser durchkomponierten Tondichtung keine Pause vorgesehen, vielmehr erzählen 20 Stationen die Bergbesteigung eines Wanderers, die sich über einen Tag erstreckt.

Aus der Nacht geboren glänzt die Sonne hell am Himmel und verkündet den Tag, die Wanderung, das Leben. Mit neuem, stark angezogenem Tempo, eingeleitet von den Celli, beginnt voll Übermut und Tatendrang der Aufstieg in das Unbekannte – eine Stimmung, der man nicht selten am Anfang einer jeden Gipfelbesteigung begegnet.

Lauter könnte das Programm dieser Musik auch nicht hervorklingen; deutlich zu hören ist der Eintritt in die Tiefen des mystischen Waldes, das Glitzern des Wasserfalls, die friedvolle Idylle auf der Alm und das glänzende Eis auf dem Gletscher, über den die Route des Wanderers führt.

Rot glüht der Himmel nach dem unheilvollen Sturm, eröffnet von Orgel und Harfen in Ges-Dur, bevor die Geigen im Unisono den Sonnenuntergang in die Wolken malen. Welch passende Tonart, da sie nicht selten genau das, den Ausgleich von Tag und Nacht, bedeutet – um die oben erwähnte Bedeutungstiefe der Sinfonie nicht vollkommen zu vernachlässigen.

Das Orchester läutet in dieser Deutung den hereinbrechenden (Lebens-)Abend ein. Denn bevor die Nacht den Tag beschließt, erklingen die besänftigenden Momente des Ausklangs in Es-Dur, die bei dem/der einen oder anderen aus dem Publikum und dem Orchester tiefe Emotionen hervorbringen (Empfehlung am Rande, die hier gängigen Tonartencharakteristiken nachzulesen). Nicht selten wird gerade an diesem Punkt die Reise des Wanderers zum Weg durch ein ganzes Leben hochmultipliziert: der Ausklang, mit dem am Ende des Lebens doch noch Frieden gefunden und tröstend zurückgeschaut werden kann auf das, was einst war.

Im Orchester spielen heißt aufeinander hören, aufeinander eingehen, aufeinander zugehen. Auch „Concertare“ ist ein Orchester, in das jede*r auch eine eigene Blumenwiese, ein eigenes Gewitter mitbringt, das Musizierende vereint, die den verschiedensten Dingen nachgehen und sich an unterschiedlichsten Punkten ihrer vorlesungsfreien Zeit, ihres Studiums, ihres Lebens befinden. Auch wir als Ensemble haben uns in dieser Woche auf eine anstrengende Wanderung begeben, für die die Planungen und Herausforderungen schon weit im Voraus begannen. Egal ob es sich hierbei um Dozent*innen- oder Sponsorensuche handelte oder die Frage, „Wie bekommen wir die Windmaschine der Staatsoper München nach Regensburg, wenn die Wenigen, die den Sprinter fahren dürfen, in der Probe sitzen sollten?“

Alle mussten aber auch selbst Hürden überwinden und so gesehen einen eigenen Berg erklimmen. Sei dies schon auf Anfahrten aus etwa Rostock bezogen oder die Schritte der Streicher durch Dickicht und Gestrüpp auf Irrwegen, als sie die vielen, kleinen schwarzen Noten des Gewitters erblickten. Vielleicht kam dazu die Schwierigkeit, sich in kurzer Zeit in einem neuen Orchester zurechtzufinden oder sich nicht dem Frust nach den ersten Proben hinzugeben, wenn man während des Sturms den Anschluss zu verlieren drohte und gefahrvollen Augenblicken entgegenlief, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden zu können. Und nicht zu vergessen die Frage, mit wie viel Abendprogramm und dementsprechend wenig Schlaf man den nächsten Probentag durchstehen kann.

Damit ist jedoch das letzte Hindernis noch nicht berücksichtigt, sich sowohl von engen Freund*innen als auch einem liebgewonnenen Werk nach einer intensiven Woche schließlich verabschieden zu müssen. Was uns bleibt, ist die Erinnerung an unsere Gipfelbesteigung mit zwei tollen, unvergesslichen Konzerten in Regensburg und Erlangen, die fortwährend nachklingt wie das Aufstiegsmotiv, das sich verschwommen einsam in den Geigen bis in das letzte Dunkel der Nacht hält.

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22.–28.4.2024: ausgesucht von Michael Braun

Jean Françaix, Concertino für Klavier und Orchester (1932)

Im MGG-Artikel zu Jean Françaix (1912–1997) heißt es, dass Beschreibungen seiner Werke – oder wenigstens der „Instrumentalkonzerte, Ballette, Kammermusikminiaturen und kurzen Opern“ – selten ohne die Vokabeln „geistreich“, „schalkhaft“, „schlitzohrig“, „augenzwinkernd“ und „typisch französisch“ auskommen würden. Na, sehen wir mal.

Als das Concertino für Klavier und Orchester, uraufgeführt bereits 1934 in Paris unter der Leitung von Nadia Boulanger, beim Kammermusikfest in Baden-Baden zwei Jahre später erneut gespielt wurde, geriet es zu einem Publikums- und Kritikerfolg, der überraschen musste: In seinen Programmen war das Festival betont progressiv ausgerichtet, gab sich – wohl nicht ohne ideologische Hintergedanken – als Forum avancierter Kompositionstendenzen der Zeit. Das Concertino konnte da wie ein Fremdkörper wirken: eine viersätzige Komposition, deren komplette Aufführung nicht viel länger als acht Minuten dauert, mit einem Kopfsatz, der entgegen noch immer gültiger Gepflogenheiten „absoluter“ Instrumentalmusik auch noch der kürzeste davon ist, und das alles eingebettet in ein unmissverständliches Bekenntnis zu tonaler, eindeutig grundtonbezogener Musik mit merklicher Orientierung am Dur-Klang. Vielleicht war es ja gerade der Kontrast zu prominenten Tendenzen zeitgenössischer Musik, der die überlegene Leichtigkeit, mit der der gerade mal 20-jährige Jean Françaix seine unbeirrt Schwere-lose Komposition dahingezaubert hatte, umso frappierender vor Augen führte.

Der erste Satz hebt an mit einer Klavierfigur, die wie eine Standard-Fingerübung wirkt, sich aber ohnehin sofort und ansatzlos in einen kleingliedrigen und geist…vollen (das war knapp) Wortwechsel mit dem Orchester stürzt. Wenn der Satz dann nach nicht einmal zwei Minuten endet – ohne finale Steigerung, ohne nachdrücklichen Schlussakkord –, dann hat das auf augenzw… , nein, humorvolle Weise fast schon etwas Schockierendes.

Zum langsamen zweiten Satz ist schon gesagt worden, dass seine „hintergründige Kunstlosigkeit“ 1936 verstört haben muss. Ob nun kunstlos oder nicht, ich stelle ihn mir in der Aufführungssituation als eine etwas undankbare Aufgabe für die Pianistin vor. Technisch gibt es keine Hürden zu nehmen, aber die Töne der zerstreut wirkenden Melodie so behutsam und doch synchron zur Begleitung zu setzen, als seien das Akkordatmen der Streicher und die Oktavierungen des Klaviers Teil ein und derselben organischen Regung – so stelle ich mir jedenfalls das Ideal vor –, das duldet keine Unachtsamkeit. Françaix hat den Satz als Abfolge dreier Achttakter gebaut, deren letzter mit dem ersten fast identisch ist, danach folgen noch wenige abebbende Schlusstakte. Wer nicht weiß, dass der Satz jetzt als Ganzes einfach zu wiederholen ist – und ich hatte beim ersten Hören keine Noten parat –, der kann überrascht sein, dass es nach dem überzeugend finalen (terzlosen) Schlussakkord in gleichem Gestus weiter geht; die kleine Pause zwischen erstem Durchgang und Wiederholung wirkt dann wie das Luftholen inmitten einer meditativen Übung.

Das nachfolgende Allegretto hebt unverkennbar im Charakter eines Scherzos an, aber weil das Scherzhafte schon im Kopfsatz durchaus bedient wurde, nehmen sich die kurzen Ausflüge des Trios ins Schwelgerische und in Moll-Regionen hier ziemlich passend aus. Das Schluss-Rondo im 5/8-Takt ruft im Klavierpart das Spielfigurhafte des Kopfsatzes in Erinnerung, bevor sich in fast schon provozierender Unterkomplexität und zum durchgängigen G-Dur-Einschlag der Orchesterbegleitung chromatisches Tastenlaufwerk anhäuft. Irgendwann fällt auf, dass eine Bassfigur aus vier Achteln den 5/8-Takt aus dem Tritt zu bringen droht, als der Satz mit einem Zwei-Oktaven-Glissando des Klaviers auch schon zu Ende ist und mit dem Eindruck zurücklässt, einem Klangereignis beigewohnt zu haben, das kurz gewesen sein mag, aber immer geistreich … (Fail).

Naxos Music Library, Track #4–7 (Aufnahme mit der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern, Leitung Pablo González, und Florian Uhlig am Klavier)


15.–21.4.2024: ausgesucht von Franziska Weigert

Raye, Album My 21st Century Blues (2023)

Triggerwarnungen: Sexuelle Übergriffe, Essstörung, Klimaangst

Preise sind kein Gütesigel für Kunstwerke. Trotzdem adeln große Preise Künstler:innen in ihrem Schaffen. Aber gleichzeitig bedeuten Preise nicht, dass all diejenigen die nie Preise erhalten haben, weniger wertvolle Kunstwerke erschaffen haben. Und trotzdem recherchiere ich nach der Literaturnobelpreisverleihung das Werk des Gewinners oder der Gewinnerin. Trotzdem schaue ich den Film, der mit einem Oscar als „bester Film“ eines Jahres ausgezeichnet wurde. Trotzdem verfolge ich, wer einen Grammy erhält und höre dann in die Musik rein. Was soll ich sagen, Glanz und Gloria beeindruckt mich dann halt doch.

Als ich dann Anfang März las, dass eine R’n’B–Künstlerin namens Raye bei den Brit Awards abgeräumt hat, war wieder einmal mein Interesse geweckt. Eine 26-jährige Solo-Künstlerin, die an einem Abend insgesamt sechs Auszeichnungen erhält? Das muss ihr erstmal jemand nachmachen. Gleich das erste Reinhören in ihr aktuelles Album erklärt mir aber diese Fülle an Preisen.

In ihrem Album My 21st Century Blues (2023) führt Raye ihre Hörer:innen durch eine sorgfältig konzipierte Reise durch das Erleben als Frau im 21. Jahrhundert. Ihr persönlicher Blick hat dabei eine durchaus breite Anschlussfähigkeit. In Oscar Winning Tears stellt sie sich zunächst als musikalische Flugbegleiterin vor: „Hello, it’s RAYE here. Please, get nice and comfortable and lock your phones because the story is about to begin.“ Sie erzählt von ihrem Ex-Partner, der nach eigenen Angaben eine „one out of ten“ gewesen sei. In den folgenden Songs geht es immer wieder um die Trennung und das Weiterleben nach der gescheiterten Beziehung, etwa wenn sie in Black Mascara von Tränen, verschmiertem Augenmakeup und ihrer tröstenden Mutter spricht.

Aber es geht auch um Schwierigkeiten und strukturelle Ungerechtigkeiten, denen sie als schwarze Frau begegnet. In Ice Cream Man erzählt sie von Männern, die ihre Grenzen nicht respektierten, die ihr Erfolg versprachen und sie sexuell ausnutzen wollten: „Coming like the ice cream man, ´Till I felt his ice-cold hands“. Diese Situationen lösten in ihr ein großes Schamgefühl aus, kräftigten sie aber auch in ihrem weiblichen Selbstverständnis: „And I’ll be damned if I let a man ruin / I’m a very fucking brave strong woman“.

Ähnlich verwundbar zeigt sich Raye in Body Dysmorphia, einem Lied, das ein negatives, aber stark reflektiertes Körpergefühl porträtiert: „And I don’t really like my body / But knowing it’s my only body / I should probably call somebody“. Einen Kloß im Hals bekommt man spätestens am Ende des Liedes, wenn eine Mädchenstimme von ihren unerreichbaren Hoffnungen auf einen perfekten Körper spricht: „When I grow up, I want to be skinny, but with an hourglass figure / I hope I’ll be pretty when I grow up, or I think I’ll be sad.“

Von Machtdynamiken zwischen den Geschlechtern, zu sexuellen Übergriffen, zu einem gestörten Körperbild direkt hin zu Environmental Anxiety – Raye gönnt den Hörer:innen keine Verschnaufpause von den ernsten Themen des Lebens. In beinahe alltäglichem Tonfall betet sie die Folgen der Ausbeutung des Planeten und der Klimakrise herunter. Dabei rechnet sie mit der Politik ab, die ihrer Ansicht nach diese Dynamiken ermöglicht hat: „Country leaders fucked our futures / And they think we haven’t noticed / Forests burning, oil spills / Melting ice and methane gas / Toxic waste and plastic fish.“ Am Ende des Songs ertönt im Hintergrund eine Sirene. Ray verkündet in freundlichster Kaufhausdurchsagenstimme: „Attention, citizens, please, evacuate the country in orderly fashion“.

Raye ist eine vielseitige Sängerin, Rapperin und Songwriterin. Ihre lyrische Sprache ist deutlich, zeitgemäß und voller Bilder. Ihr Album My 21st Century Blues ist randvoll mit musikalischen Ideen, mit einem Mix von klanglichen Ausdrucksmitteln und mit einer Geschichte, die einen ab Minute eins in ihren Bann zieht. Den Brit Awards sei Dank, weiß nun auch ich endlich davon.

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Wintersemester 2023/24

5.–11.2.2024: ausgesucht von Gregor Herzfeld

Theodor W. Adorno, „Die Linien des Lebens … An Zimmern“ (Sechs Bagatellen für Singstimme und Klavier)

„Das sogenannte Ordnungsbedürfnis […] habe ich nie ganz verstanden. Man sollte auch in der Musik einmal darüber nachdenken, warum die Menschen, sobald sie wirklich ins Offene kommen, das Gefühl produzieren: da muß doch wieder Ordnung her – anstatt aufzuatmen“ (Adorno, Vers une musique informelle, 1961).

Theodor Wiesengrund Adorno (1903–1970) wird bis heute kaum als Komponist wahrgenommen, sondern als zentrale Figur der „kritischen Theorie“ oder „Frankfurter Schule“ – einer Denkrichtung, die in den 1930er Jahren unter dem Eindruck des europäischen Faschismus entstand und sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dem (auch gerade jetzt wieder aktuellen) Motto verschrieben hat „Nie wieder Auschwitz, NS, oder Nationaler Rechtsextremismus“. Adorno, der aus einem gutbürgerlichen, kunstbeflissenen, jüdisch-deutschen Haushalt stammt, war also Denker, Philosoph, Soziologe und insbesondere Mahner und Kritiker von inhumanen gesellschaftlichen Zuständen. Seinen unbestechlich kritischen Geist hat er oft selbst gegen diejenigen gerichtet, die ihm lieb und teuer waren: Beethoven für seine Rückkehr in die Reprise, Wagner natürlich für seinen problematischen Sozialcharakter, insbesondere seinen Antisemitismus, Schönberg für – wie im obigen Zitat insinuiert – seinen Rückfall ins System der Zwölftontechnik nach bereits erfolgter Befreiung der Klänge aus ihren Zwängen. Und auch gegen sich selbst: seinen eigenen Kompositionen gegenüber war er derart kritisch, dass sie zu Lebzeiten nicht publiziert wurden, also gar nicht an die Öffentlichkeit dringen konnten – zu Recht, wie einige seiner philosophischen und musikalischen Gegner seit jeher unken. 1980 jedenfalls legten die Begründer der Musik-Konzepte-Reihe, Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, in zwei Bänden das überschaubare Corpus der gesammelten Kompositionen vor, das seitdem zwar nicht gerade die Klassik-Charts stürmt (dies wäre dem Urheber auch zutiefst zuwider gewesen), aber doch hin und wieder bei passender Gelegenheit musiziert und eingespielt wird. Angesichts der doch zumindest im Falle freundlich-kritischer Zugewandtheit großen musikalischen Sensibilität und gar nicht in Frage stehenden intellektuellen Kraft Adornos erscheint es reizvoll, ihm einen Platz als Musikstück der Woche zu reservieren.

Meine Wahl fällt auf ein Lied aus den Sechs Bagatellen für Singstimme und Klavier, die zwischen 1923 und 1942 entstanden sind und Gedichte unterschiedlicher Provenienz vertonen: Else Laske-Schüler, ein Kriegsgedicht, ein Kinderreim, Oskar Kokoschka, Franz Kafka und Friedrich Hölderlin. Der Titel „Bagatelle“ ist für Vokalmusik ungebräuchlich und lässt an Beethovens, Weberns oder Bartóks Instrumentalstücke denken, mit denen Adornos Stücke zumindest die Kürze teilen. Der Text von Nr. 6 mit dem rätselhaften Titel „An Zimmern“ stammt von Friedrich Hölderlin und ist eine der wenigen dodekaphonen Stücke Adornos. Dies ist leicht an der Singstimme zu erkennen: Sie bringt zunächst eine Zwölftonreihe, dann ihren Krebs, die Krebsumkehrung (transponiert auf D) und deren Krebs (also eine einfache Umkehrung der Grundreihe), die schließlich auf dem Ton D landet. Die Klavierbegleitung ist ebenfalls zwölftönig gestaltet. Warum aber – gerade angesichts des Eingangszitats – sucht Adorno hier die Zwölftonordnung und gibt die atonale Freiheit auf? Hat es etwas mit dem Text zu tun? Das Gedicht „Die Linien des Lebens…An Zimmern“ stammt von 1812 aus der späten, bereits von psychischer Erkrankung geprägten Lebensphase Hölderlins. Er lebte zurückgezogen bei der Familie Zimmer in einer Turmwohnung im beschaulichen Tübingen. Seine späte Lyrik ist oft enigmatisch, kühn, hochmetaphorisch und formal offen. Adorno selbst schätzte an ihr die parataktische Denk- und Schreibweise, also ein Aneinanderreihen von Sätzen oder Wörtern scheinbar ohne Hierarchie, ohne Über- und Unterordnung – ein offenes reihenhaftes Gestalten von Gedanken. Ich denke, dies ist es, was er in seiner Komposition umzusetzen trachtete: die im Text angesprochene Verschiedenheit der Lebenslinien und -wege, die Ergänzung des Irdischen Hier durch das göttliche Dort (ein schönes Bild!) und zwar durch Harmonien – eine Utopie von Frieden durch harmonisches Zusammenschwingen aller Lebenssphären. Singstimme und Klavier tragen diese Linien aus als Reihen, eben als Zwölftonreihen, die einfach nebeneinander ohne Zentrum existieren, sich scheinbar imitierend aufeinander zustreben, sich aber dennoch immer wieder im Register und Rhythmus ergänzend. Die Klavierstimme ist diesem Ansatz entsprechend in einem einzigen Notensystem, dem der rechten Hand, notiert, um als Linie oder Reihe aufgefasst zu werden; selbst im Nachspiel, wo molto espressivo mit dem letzten Durchgang durch eine Zwölftonreihe, dem Krebs der Grundreihe, das Geschehen in tiefster Tiefe (Subkontra A) und pianissimo zur Ruhe kommt.

1933 war Adorno die Lehrbefugnis an der Universität Frankfurt von den Nationalsozialisten entzogen worden. Nach einer kurzen Phase der vorsichtigen Anbiederung an den Nationalsozialismus, floh er 1934, in dem Jahr, in dem das Lied entstand, nach Oxford, um später in die USA zu emigrieren. In seiner Komposition träumt der Flüchtende von Diversität, Ergänzung des Menschen durch „einen Gott“, Harmonie, „ewigem Lohn und Frieden“, einer anderen Ordnung also, nämlich einer freien offenen, die ihm zu dieser Zeit das Komponieren mit Zwölftonreihen noch zu ermöglichen schien.

NML-Link (Tenor: Markus Schäfer, Klavier: Christian de Bruyn) Track #5
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Musikstück der Woche (Archiv)

29.1.-4.2.2024: Ausgesucht von Bettina Berlinghoff-Eichler

Giuseppe Verdi, „Libera me“ aus der Messa da Requiem

13. November 1868 – In Paris verstirbt mit Gioachino Rossini einer der wohl bedeutendsten Opernkomponisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Giuseppe Verdi nimmt dessen Tod zum Anlass, über den Mailänder Verleger Giulio Ricordi ein Requiem als Gemeinschaftskomposition zu initiieren, an der außer ihm zwölf weitere italienische Komponisten unentgeltlich mitwirken sollten, darunter etwa Antonio Buzzolla (1815–1871), der den ersten Satz, „Requiem e Kyrie“, übernahm, oder Antonio Bazzini (1818–1897), der den ersten Teil der „Dies irae“-Sequenz vertonte. Verdi selbst war verantwortlich für den letzten Satz, das Responsorium „Libera me“, das er im August 1869 fertigstellte. Die einzige Aufführung dieser Messa per Rossini für fünf Solostimmen, Chor und Orchester sollte an Rossinis erstem Todestag an San Petronio in Bologna stattfinden, kam aber letztlich aus finanziellen Gründen nicht zustande. Knapp einhundert Jahre später entdeckte der amerikanische Musikwissenschaftler David Rosen das Notenmaterial zur Messa im Archiv des Verlages Ricordi; es sollte jedoch noch beinahe zwanzig Jahre dauern, bis sie schließlich im September 1988 unter der Leitung von Helmuth Rilling in Stuttgart uraufgeführt werden konnte.

22. Mai 1873 – In Mailand verstirbt mit dem von Verdi hochverehrten (und hochbetagten) italienischen Dichter Alessandro Manzoni (geb. 1785) einer der führenden literarischen Köpfe des Risorgimento. Verdi, der Manzoni vermutlich nur ein einziges Mal Ende Juni 1868 begegnet war, zeigt sich tief betroffen und beschließt, seinen „Libera me“-Satz als Grundlage für die Vertonung einer vollständigen, hier siebensätzigen Messa da Requiem zu verwenden, bestehend aus „Requiem [e Kyrie]“, „Dies irae“, „Offertorio“, „Sanctus“, „Agnus Dei“ und „Lux aeterna“, die am Jahrestag des Todes von Manzoni 1874 an San Marco in Mailand unter Verdis Leitung uraufgeführt wird. Bereits Anfang 1871 hatte der italienische Komponist Alberto Mazzucato ihm die Vervollständigung des Werkes vorgeschlagen, nachdem er im Hause Ricordis das Autograph des Satzes aus der Messa per Rossini gesehen hatte. Gegenüber Verdi äußerte er sich offenbar so begeistert über das „Libera me“, dass dieser wohl zumindest zeitweise geneigt war, Mazzucatos Anregung umzusetzen, denn Anfang Februar 1871 schrieb Verdi an ihn: „… […] diese Eure Worte hätten beinah den Wunsch in mir geweckt, die Messa später ganz zu schreiben; und das umso mehr, als ich mich auf einer höheren Entwicklungsstufe befinden würde, da ich das ‚Requiem‘ und das ‚Dies irae‘ schon geschrieben habe, deren Zusammenfassung im ‚Libera me‘ bereits komponiert ist.“ Tatsächlich begann Verdi jedoch erst nach Manzonis Tod mit der Überarbeitung des bereits existierenden Satzes und der Komposition der ersten sechs Sätze. Nach der Fertigstellung der Messa da Requiem Mitte April 1874 betonte Verdi gegenüber Ricordi übrigens explizit, dass „diese Messe nicht wie eine Oper gesungen werden“ dürfe.

Die beiden Fassungen des „Libera me“ entsprechen sich nicht nur hinsichtlich der Ausgangstonart c-Moll (mit einem versöhnlichen Ende in C-Dur), sondern auch der Besetzung mit Solo-Sopran, Chor und Orchester. Einige Abschnitte wie z. B. die ausgedehnte A-cappella-Passage des, stellenweise nahezu entrückt klingenden – Soprans mit Chor vor der Überleitung zur „Libera me“-Fuge übernahm Verdi nahezu unverändert in die spätere Fassung, gestaltete aber nun gerade die im Brief an Mazzucato erwähnten „Dies irae“-Passagen weitgehend neu.

Auf diejenigen, die bereits mit der späteren „Libera me“-Fassung vertraut sind (sei es, dass sie das Requiem selbst gesungen oder gespielt oder auch nur gehört haben), wird die erste Fassung vermutlich etwas befremdlich und weniger expressiv wirken. Ich möchte Sie aber dennoch einladen, sich beide Vertonungen anzuhören und dabei vor allem auf die faszinierende Bandbreite musikalischer Ausdrucksmittel – vom Deklamieren auf einem Ton „senza misura“ bis hin zu den mit wuchtigen Orchesterschlägen eingeleiteten „Dies irae-Aufschreien – und die extremen dynamischen Kontraste zu achten, die sowohl der Solistin als auch den Chorsänger*innen einiges abverlangen.

YouTube Link („Libera me“ aus der Messa per Rossini, 1869)

YouTube-Link („Libera me“ aus der Messa da Requiem, 1873/74)


22.–28.1.2024: ausgesucht von Francesco Calabró

The 8-Bit Big Band ft. Bryan Carter, Dolphin Shoals (Mario Kart 8), Full Big Band Jazz Fusion Version

Es ist an der Zeit, auch mal die Big Band in das Format einfließen zu lassen. Und just im vergangenen Dezember veröffentlicht die 8-Bit Big Band diesen Banger!

Jedem, der schon einmal das Rennspiel Mario Kart gespielt hat, wird der Song irgendwie bekannt vorkommen. Denjenigen, die sich in der Jazzszene aufhalten, ist sicher auch das Meme bekannt, das aus dem Mario Kart Song entstanden ist und sich in der YouTube-Szene wie ein Lauffeuer verbreitet hat. Aber erst einmal zur Band: Wie der Name vielleicht schon vermuten lässt, hat es in irgendeiner Weise mit Videospielen zu tun. Die Grammy-dekorierte 8-Bit Big Band interpretiert in erster Linie Soundtracks älterer Retrospiele, wie zum Beispiel aus dem Hause Nintendo, aber auch neuere Games sind vertreten. Für jeden, der vor 2000 geboren ist, ist ein Nostalgietrip beim Hören der Songs gewiss. In dieser Big Band spielen mitunter die gefragtesten Musiker der Jazzszene, insbesondere aus New York.

Zum Stück möchte ich nur wenige Worte verlieren und Dich stattdessen einfach dazu ermutigen, mal hineinzuhören und es auf Dich wirken zu lassen! Für alle, die mehr wollen, sei nur so viel gesagt: Dieses Stück ist aufgrund des Videospielursprungs medienwissenschaftlich interessant, aber auch musiksoziologisch (Stichwort „Mario Kart Lick“ als Internet-Phänomen). Aber auch „nur musikalisch“ ist das Stück reichhaltig: von der dichten und farbigen Harmonik zur interessanten und immer wieder gegenüber dem Puls versetzten Rhythmik bis hin zur relativen Einfachheit der catchy Melodie, die die Hörenden mitreißt und dazu animiert, mitzusingen oder den vorne liegenden Kontrahenten mit einem Schildkrötenpanzer von der Rennbahn zu werfen. Gekoppelt mit einer Bassline, die sich selbst vor James Brown nicht verstecken muss, und einer Grooviness, die Earth Wind and Fire zurück auf die Tanzfläche bringt, verkörpert das Stück all das, was der Spieler beim Spielen erleben soll: Spaß, Schnelligkeit, Aufregung und das Gefühl, immer um Haaresbreite vom nächsten Fahrfehler entfernt zu sein oder vom nächsten Schildkrötenpanzer eines Kontrahenten getroffen zu werden und damit auf den letzten Metern des Rennens, nicht durch fehlende Fähigkeit, sondern durch fehlendes Glück, unverdient vom ersten auf den letzten Platz katapultiert zu werden. Allen, die nun Lust auf mehr bekommen haben und auf James-Brown-Basslines und Groovie Funkyness im Stil von Tower of Power stehen, sei an dieser Stelle auch I Wanna Take u for a Ride empfohlen! Allen, die sich hingegen fragen, wie sich das robotische Lied des bekannten Spielebösewichts GLaDOS aus Portal in einen Frank-Sinatra-Style portieren lässt, sei Still Alive an Herz gelegt!

YouTube-Link


15.–21.1.2024: ausgesucht von Lukas Fröhlich

Bohren und der Club of Gore, Midnight Walker (Album Sunset Mission)

Es ist ein besonderes Gefühl, bei Nacht durch die Stadt zu gehen: die sonst so belebten Plätze sind leer, die vertrauten Orte wirken seltsam fremd. Es ist still geworden, und dennoch trägt die klare Nachtluft weit entfernte Geräusche von den Orten heran, die nicht schlafen, und die Lichter hinter den Fenstern einiger schlafloser Gebäude mischen sich mit dem künstlichen Licht der Straßenlaternen. Fast schon fühlt man sich in eine Parallelwelt versetzt, in eine fremdartige Kopie der eigentlich so bekannten Stadt, die das grelle Tageslicht, den Stress, das Einerlei ihres Vorbildes nicht kennt und nie gesehen hat. Sie atmet ruhiger, und ihre Luft ist kühl und frisch, durchsichtig, und durchzogen von einer ungreifbaren Spannung. Von den in allen Bereichen der Kunst zahlreichen Versuchen, diese nächtliche Stadtwelt und das von ihr erzeugte Gefühl und ihre Atmosphäre einzufangen, sind mir nur zwei bekannt, denen dies in absoluter Perfektion gelingt: das 2012 erschienene Computerspiel Cry of Fear, das neben all dem grotesken und abartigen Horror, für den es bekannt ist, auch mit sehr realistischer und atmosphärischer nächtlich-städtischer Umgebung glänzen kann; und das zwölf Jahre ältere Musikstück Midnight Walker auf dem Album Sunset Mission der Band mit dem etwas irritierenden Namen „Bohren und der Club of Gore.“

Zumindest zur Hälfte lässt sich der Name der aus Mühlheim an der Ruhr stammenden Band aber erklären: „Club of Gore“ ist eine Hommage an die Niederländische Hardcore Punk Band Gore. Bei „Bohren“ dagegen denkt man wohl als erstes an ein zerspanendes Fertigungsverfahren, und in der Tat ist genau das gemeint. Was die Band damit nun aussagen will, ist nicht bekannt; hört man sich aber ihre erste Demoaufnahme Langspielkassette aus dem Jahr 1992 an, so mag man sich durchaus an die Nebengeräusche handwerklicher Tätigkeiten erinnert fühlen: zu hören gibt es überaus aggressiven und verzerrten Hardcore Punk mit völlig übersteuertem Bass und in derart schlechter Qualität, dass die Musik kaum noch als solche erkennbar ist (sogar ich empfand das Hören dieses Werks als durchaus anstrengend). Nach dieser Punk- und Metal-lastigen Anfangsphase vollzog die Band jedoch einen radikalen Stilwechsel und wandte sich dem Jazz zu. Dieser Jazzstil war und ist derart eigen, dass damit ein neues Genre geboren war: der Darkjazz. Besonders auffallend und prägend ist seine Nähe zur Ambient-Musik, sein meist sehr langsames Tempo, seine oft sehr düstere und melancholische oder bedrohliche Stimmung, und vor allem das völlig Jazz-untypische Fehlen von Solo-Improvisation. Der Stil regte die Entstehung einiger weiterer Bands an, darunter das Kilimanjaro Darkjazz Ensemble und das Dale Cooper Quartet, doch beschränkt seine Verbreitung sich bis heute, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf den deutsch-französischen und skandinavischen Raum. Aufgrund seiner Entstehungsgeschichte und wohl auch aufgrund seiner typischen Merkmale ist er in der Metalszene wesentlich bekannter und verbreiteter als im Umfeld des Jazz, wenngleich er letztendlich generell eher eine Randerscheinung ist.

Midnight Walker ist geradezu ein Musterbeispiel für dieses Genre – und in atmosphärischer Hinsicht, zumindest für mich, auch ein Extrembeispiel. Sicher mag man nach dieser ungewöhnlichen und vielleicht auch etwas skurrilen Genre-Geschichte nun versucht sein, sofort auf den untenstehenden Link zu klicken, um sich diesen seltsamen Stil auch auditiv näher zu betrachten, doch davon rate ich ab. Damit das Stück seine volle Wirkung entfaltet, empfehle ich, damit zu warten, bis es dunkel ist; bis die Stadt zur fremden Parallelwelt wird und nur noch das schwache, unwirkliche Licht der Straßenlaternen durch die Fenster in den ansonsten dunklen Raum hereinscheint.

YouTube-Link


8.–14.1.2024: ausgesucht von Nina Kulig

Heinrich Schütz, Herr, nun lässest du deinen Diener SWV 281 (Canticum Simeonis)

Am vierzigsten Tag der Weihnachtszeit, dem 2. Februar, begehen die christlichen Kirchen traditionell das Fest der Darstellung des Herren. Im klösterlichen Stundengebet hingegen erinnert ein Lobgesang aus dem Lukasevangelium täglich an die im Neuen Testament geschilderten Ereignisse, auf die sich dieses religiöse Fest bezieht. Es ist das Canticum Simeonis, nach den Anfangsworten auch Nunc dimittis genannt, das seinen täglich festen Platz gegen Ende der Komplet hat.

Es ist auch jenes Canticum, das Heinrich Schütz als dritten und letzten Teil seiner Musikalischen Exequien op. 7 (Erstdruck: Dresden, 1636) im Auftrag des Landesherren und tiefgläubigen Humanisten Heinrich Posthumus Reuß (1572–1635) für dessen eigene Begräbnisfeier mehrstimmig vertonte. Die Begräbnisfeier von Reuß und damit auch die Uraufführung der Musikalischen Exequien fand am 4. (nach dem gregorianischen Kalender dem 14.) Februar, am Sonntag nach der Darstellung des Herren, statt.

Auch wenn die Anzahl existierender mehrstimmiger Vertonungen des Nunc dimittis groß ist, darf diejenige von Schütz dennoch als eine sehr besondere und interessante gelten. Bei seiner Vertonung handelt es sich um eine doppelchörige Motette mit Generalbassbegleitung, wobei die beiden Chöre eine unterschiedliche musikalische Behandlung erfuhren und damit auch verschiedene, metaphorische Funktionen innehatten bzw. für verschiedene musikalische, räumliche und symbolische Effekte sorgten. So muss zunächst die unterschiedliche Besetzung der beiden Chöre erwähnt werden. Schütz wählte für seine doppelchörige Motette einen tiefgeschlüsselten, fünfstimmigen Chor (Chorus primus) sowie einen hohen, dreistimmigen Chor (Chorus secundus). Dabei repräsentiert der tiefe Chor, der meist in langen Notenwerten singt, das Irdische, die auf der Erde Zurückgebliebenen. Der hohe und zum Teil imitativ angelegte Chor steht dahingegen für das Himmlische, wobei die drei hohen Stimmen in der Partitur mit den himmlischen Engeln, den Seraphim, und der verstorbenen Seele von Reuß (Beata anima cum seraphinis) personifiziert werden. Weiterhin unterscheiden sich die beiden Chöre auch durch einen unterschiedlichen Text, was bedeutet, dass gleichzeitig zwei verschiedene Texte und inhaltliche Ebenen erklingen. Während der chorus primus das deutsche Nunc dimittis („Herr, nun lässest du deinen Diener“) singt, kommentiert der chorus secundus an passenden Stellen das Geschehen mit Textstellen aus der Offenbarung und dem Buch der Weisheit, die mit den Worten Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben (Offb. 14,13) beginnen. Zuletzt ordnete Schütz an, dass die beiden Chöre bei der Aufführung räumlich unterschiedlich platziert werden sollten, um neben dynamischen Kontrasten und der Gegenüberstellung und Verbindung von Höhe und Tiefe ebenso den Effekt von Nähe und Ferne wirkungsvoll zu nutzen. Diese gesamte musikalische Behandlung stand vor dem Hintergrund, das Geleit der verstorbenen Seele von Reuß ins Paradies durch die himmlischen Engel während der Begräbnisfeier musikalisch und symbolisch zu inszenieren und somit die Bitte und Hoffnung auf eine dortige Aufnahme auszudrücken.

Insgesamt lebt die musikalische Gestaltung in Schützens mehrstimmiger Vertonung also von zahlreich wirkungsvoll eingesetzten Kontrasten, abwechslungsreichen Techniken, einem differenzierten Text- und Affektausdruck sowie nicht zuletzt von einer starken, religiösen Symbolik, die mit der im Stück immer gegenwärtigen Hoffnung auf und dem Glauben an die  Auferstehung im Zusammenhang steht. Passenderweise erklang dieses hoffnungsvolle Herr, nun lässest du deinen Diener (SWV 281) von Heinrich Schütz direkt vor der Beisetzung des Leichnams von Heinrich Posthumus Reuß in der Familiengruft.

YouTube-Link (Aufnahme des Dresdner Kammerchores unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann)


18.–24.12.2023: ausgesucht von der Forschungsgruppe Fietsliedjes

„Piet ging uit fietsen“

Disclaimer: Sollten Sie dieses Lied zu Hause oder in Ihrem Büro über Lautsprecher genießen, empfiehlt es sich, vorsorglich die Türe zu schließen, um – musikalisch provozierten – Irritationen bei Nachbarn oder Personen, die sich zufällig in der Nähe aufhalten, entgegenzuwirken. Sollten Sie dieses Lied hingegen Ihren Kindern präsentieren, sorgen Sie gern dafür, dass auch das Bewegtbild zu sehen ist.

Der Liedtitel „Piet ging uit fietsen“ („Piet war mit dem Fahrrad unterwegs“) ist für die vermutlich größtenteils nicht-niederländische und nicht-flämische Leserschaft dieses Textes wohl allenfalls insofern vielsagend, als es hier mal wieder um unseren lieben Freund das Fahrrad geht. Es gehört also eindeutig zum Forschungsgegenstand der Forschungsgruppe Fietsliedjes, deren große Mission die Untersuchung von Fahrradliedern und ihrer Gattungsgeschichte ist. Trotzdem werden sich aufmerksame Leser:innen mit Blick auf das Datum fragen: Wieso sucht die Forschungsgruppe Fietsliedjes für die Weihnachtswoche kein Weihnachtslied aus?!

Nun, hier möchten wir unserem selbstauferlegten Auftrag nachkommen, der ein Stück weit auch Kulturvermittlung zwischen unterschiedlichen fietsenden Nationen umfasst. Das Lied über Piet ist nicht nur besonders ‚niederländisch‘, weil Piet fietst und Niederländer zu sein scheint – es nimmt auch Bezug auf die niederländisch-flämische Adventstradition von Sinterklaas und seinem Helfer „zwarte Piet“. (Nur keine Aufregung, falls Sie hier Schlimmes ahnen. Auf den „zwarte Piet“ kommen wir gleich noch zu sprechen!)

Wer jetzt dachte: „Ein Glück, es geht doch um den Weihnachtsmann!“, weil „Sinterklaas“ wie „Santa Claus“ klingt und an den Coca-Cola-assoziierten Weihnachtsmann erinnert, muss leider enttäuscht werden, denn hier liegt eine Verwechslung vor. Es handelt sich dabei um niemand geringeren als den heiligen Nikolaus – Sinterklaas ist sein niederländischer Name. Damit dürfte in den Leser:innen nun aber auch eine Ahnung davon aufsteigen, wer Piet tatsächlich ist. – Richtig, das niederländisch-flämische Pendant zu Knecht Ruprecht, Krampus oder auch Schmutzli.

Die Sinterklaas-Feierlichkeiten am 5. bzw. 6. Dezember sind in den Niederlanden und in Flandern jährlich eine wichtige Angelegenheit, die bei einigen sogar höhere Priorität genießt als Weihnachten. Dies ist dann auch eine Erklärung dafür, dass wir zum einen bislang kein niederländischsprachiges Fietsliedje über den Kerstman (Zipfelmütze) gefunden haben und zum anderen nun Sinterklaas (Mitra) und Piet so kurz vor Weihnachten noch einmal thematisieren möchten.

An dieser Stelle ist es wichtig, darauf einzugehen, dass Leser:innen mit der Vermutung, dass „zwarte Piet“ auf Deutsch „schwarzer Peter“ bedeutet, richtig lagen. So hatte der niederländische Krampus ursprünglich nicht nur krauses Haar, auffallend rote Lippen und goldene Ohrringe, sondern wurde in der Regel auch durch weiße Niederländer:innen dargestellt, die sich ihr Gesicht schwarz bemalten. Im Zwiespalt zwischen rassistischem Relikt und Adventstradition löst Piet alljährlich eine hitzige Debatte aus über die Frage danach, wie mit solchen rassistischen Spuren umgegangen werden kann, und steht im Zentrum eines kontroversen Diskurses. Dabei ist die Kritik am schwarzen Piet grundsätzlich nichts Neues. Einwände gegen die Figur gibt es seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber die Proteststimmen werden immer lauter. Über diese Art von in Traditionen verankertem, rassistischem Erbe aus der Kolonialzeit sollte natürlich diskutiert werden. Für ein Fest des Friedens, bei dem es um Liebe, Familie und soziales Miteinander geht, wäre es zudem besser, wenn sich der Brauch auf rücksichtsvolle Art ausleben ließe. Ein Glück also, dass mittlerweile Alternativen für das Aussehen des Piet populär geworden sind: Heute färben Piet-Interpret:innen ihr Gesicht gern grün, rot oder in allen Farben des Regenbogens.

Auch das unten verlinkte Musikvideo nimmt Abstand vom „zwarte Piet“, indem dieser eben nur Piet heißt und eine kindliche Person mit heller Hautfarbe ist. Damit behält er eine Einfältigkeit bei, die auch der früheren Piet-Figur unterstellt wurde, die hier aber in eine kindliche Naivität umgedeutet wird. Übrigens teilt er auch keine Schläge an böse Kinder aus, sondern bringt nur – natürlich mit dem Fahrrad – die Geschenke für liebe Kinder und lässt sich von Sinterklaas dabei helfen, um nicht vermehrt Ordnungswidrigkeiten zu begehen … Wir als Forschungsgruppe Fietsliedjes begrüßen die hilfsbereite Partizipation des Fahrrads natürlich ungemein!

Auch wenn das Video den Liedinhalt schön illustriert, bieten wir unten noch eine (freie) deutschsprachige Übersetzung an. Die Melodie könnte einigen bekannt vorkommen – fällt jemandem mehr als ein Lied ein, das dem Piet-Lied ähnelt?

Sollte das Bedürfnis bestehen, uns diese Frage persönlich zu beantworten, kann die Forschungsgruppe Fietsliedjes per E-Mail kontaktiert werden. (forschungsgruppe.fietsliedjes@gmail.com)

Link zu „Piet ging uit fietsen“

Zugegebenermaßen ist dieses Lied und das dazu produzierte Video sehr kindlich. Leser:innen, die gern noch ein etwas ‚erwachseneres‘ Weihnachtslied mit Fahrradbezug hören möchten, und vor allen Dingen denjenigen, die in der Woche vor Heiligabend kurzfristig noch nach Geschenkinspirationen für ihre Lieben suchen, empfehlen wir abschließend noch dieses Lied von Nora and One Left von dem Album Bicycle:

YouTube-Link

Für weitere entspannte, zwar nicht unbedingt weihnachtliche, doch sehr fietsvriendelijke Stunden empfehlen wir Ihnen, sich einmal auf unserem YouTube-Kanal umzusehen und unsere vielfältigen Fietsliedje-Playlists zu entdecken!

„Piet ging uit fietsen“ (Niederländisch/Deutsch)

Piet ging uit fietsen
Toen klapte zijn band.
Hij moest toen gaan lopen
Met de fiets aan zijn hand.

Hij kwam in een dorpje
En zei tegen de smid:
Ik geloof dat er in mijn achterband
Een pepernootje zit.

De smid moest toen lachen
En plakte zijn band.
Toen kon Piet weer fietsen
Door heel Nederland.

Door storm en door regen,
Door weer en door wind
Bracht hij de cadeautjes
Bij ieder lief kind.

Hij kwam bij een stoplicht
En reed toen door rood.
Hij kreeg een bekeuring
Van één pepernoot.

Vertelde de Sint
Over zijn avontuur,
Hij zag echt geen stoplicht
Door die cadeaus op zijn stuur.

De Sint moest toen lachen
En zei tegen Piet:
Ik kom je wel helpen
Want zo gaat dat niet.

O jongens en meisjes,
Let maar eens op!
Misschien zie je Piet wel fietsen
Met Sint achterop.

Piet war mit dem Fahrrad unterwegs,
Da platzte sein Reifen.
Da musste er laufen
Und sein Fahrrad schieben.

Er kam in ein Dörflein
Und sagte dem Schmied:
Ich glaube, dass in meinem Hinterreifen
Eine Pfeffernuss steckt.

Da musste der Schmied lachen
Und flickte seinen Reifen.
Da konnte Piet wieder fietsen
Durch die ganzen Niederlande.

Durch Sturm und durch Regen,
Durch Wetter und durch Wind
Brachte er die Geschenke
Zu jedem lieben Kind.

Er kam an eine Ampel
Und fuhr über Rot.
Er musste ein Bußgeld
Von einer Pfeffernuss zahlen.

Er erzählte Sinterklaas
Von seinem Abenteuer,
Er habe echt keine Ampel gesehen
Wegen der Geschenke auf seinem Lenker.

Da musste Sinterklaas lachen
Und sagte zu Piet:
Ich komme Dir helfen,
Denn so geht das nicht.

Oh Jungs und Mädels,
Passt bloß auf!
Vielleicht seht Ihr Piet fietsen
Mit Sinterklaas hinten drauf.


11.–17.12.2023: ausgesucht von Rebekka Sandersfeld

César Franck, Rébecca (1881) und der „Chœur des chameliers“

Verlobung – bei diesem Wort kommen den meisten Menschen wahrscheinlich sehr romantische Assoziationen in den Sinn. Aber wie wäre es denn mit einer Verlobung wie der folgenden: Ein Mann nimmt eine lange Reise auf sich, um in der Heimat seines Chefs eine geeignete Frau für dessen Sohn zu finden. Durch Zufall scheint ihm die erste Frau, der er dort begegnet, die Richtige zu sein, woran auch diese – ohne ihren Zukünftigen je gesehen zu haben – keinen Zweifel hegt. Nachdem er mit der Familie der Frau alles Wichtige geregelt hat, tritt der Mann mit der Braut ‚im Gepäck‘ die Heimreise an.

Vielleicht haben einige Leser:innen mit Blick auf die Überschrift bei dieser Verlobungsgeschichte bereits an die Brautwerbung um Rebekka aus dem Alten Testament gedacht, auf die hier tatsächlich angespielt wurde. Romantisch klingt die ‚Story‘ so nacherzählt nicht gerade… Aber manchmal kommt es wohl ganz auf den Stil an. Der Pariser Dichter Paul Collin (1843–1915) hat die Geschichte etwas mehr in die Perspektive der Rebekka verlagert und poetisch ausgeschmückt. Sein Text wiederum diente César Franck (1822–1890) als Libretto für die Scène biblique Rébecca (1881), deren Inhalt doch schon deutlich romantischer klingt: Eine Oase vor den Toren einer Stadt, Palmen spenden kühlenden Schatten. Man hört den Wind in den Sträuchern, das Flügelrauschen und das Gurren von Tauben. Die Dämmerung bricht über die Wüste herein, langsam weicht die Hitze des Tages, und eine Gruppe junger Frauen kommt aus der Stadt herbeigelaufen. Ehe sie am Brunnen Wasser für ihre Tiere und ihre Familien holen, stimmt eine von ihnen, die schöne und herzensgute Rébecca, ein Abendgebet an, an dem sich auch die anderen Frauen beteiligen. Während die Frauen sodann ihre Amphoren mit Wasser füllen, nähert sich aus der Ferne mit fröhlichem Gesang eine Karawane, die schließlich an der Oase hält. Unter den Reisenden ist Éliézer, der im Auftrag Abrahams eine Frau für dessen Sohn Isaac sucht. Dafür bittet er Gott um Hilfe in Form eines Zeichens: Die erste Frau, die sich ihm zuwende, solle diejenige sein, die Gott für Isaac vorgesehen habe. Kaum sind Éliézers Worte verklungen, spricht Rébecca ihn an: Die lange Reise und die Hitze der Sonne scheinen ihn erschöpft zu haben. Er solle sich hier im Schatten ausruhen und sie werde ihm Wasser bringen. In dem nun folgenden Gespräch erfährt Éliézer, dass Rébecca tatsächlich der Vorstellung Abrahams entspricht, und offenbart ihr seinen Auftrag. Die göttliche Vorsehung der Verbindung mit Isaac ist für die fromme Rébecca offenkundig; ihre einzige Bedingung für ihre Zustimmung zur Verlobung ist daher das Einverständnis ihres Vaters. Schon am nächsten Morgen (vermutlich) wird Rébecca mit Éliézer und der Karawane in das Land Abrahams, ihre neue Heimat, aufbrechen, um ihr Schicksal zu erfüllen und Isaacs Frau zu werden. Ihre Freundinnen verabschieden sie liebevoll, wünschen ihr eine glückliche Zukunft und hoffen, dass Rébecca sie und ihre alte Heimat in guter Erinnerung halten werde. Zum Schluss stimmen alle – Männer und Frauen – noch einmal Teile des Gebets vom Vorabend an.

Auch wenn ich den Leser:innen gern nahelege, sich das ganze, mit etwa 30 Minuten für ein Oratorium ohnehin nicht besonders lange Werk anzuhören, möchte ich hier als ‚Hörprobe‘ einen Abschnitt hervorheben: den „schnurrig-muntere[n] Kameltreiberchor von fast chansonartigem Charakter“, wie Wilhelm Mohr ihn in seinem Buch über Franck charakterisiert. Dieser Chor ist zwar in mehreren Aspekten nicht unbedingt exemplarisch für das Werk (es kommen z. B. keine Gebete vor), aber er erfüllt eine wichtige dramaturgische Funktion, indem er Éliézers lange, zur schicksalhaften Begegnung mit Rébecca führende Reise andeutet. Der Kameltreiberchor ist aber auch einfach schön anzuhören und – wie man der unten verlinkten Videoaufzeichnung entnehmen kann – zu singen. Die musikalische Gestaltung ist dabei recht evokativ: Die instrumentale Einleitung beginnt mit dem Begleitmuster, das sich durch weite Teile des Satzes zieht. Rhythmisch geprägt von einem lang-kurz-kurz-Rhythmus und im Pianissimo beginnend wird der gleichmäßige Trott der aus der Ferne kommenden Kamele musikalisch illustriert. Darüber legt sich eine lydisch gefärbte Melodie, die in variierter Form auch zur Grundlage mehrerer Strophen des Chorparts wird. Dieser modale Einschlag verleiht dem Satz ein ‚orientalisches Kolorit‘ und verortet das Stück auch musikalisch in eine ‚biblische Region‘. Francks Spiel mit der Dynamik, die Steigerung von leise nach laut, evoziert das allmähliche Näherkommen der Karawane. Hinzu tritt der fröhliche Gesang der Kameltreiber, die ihre Reise schildern: das frühe Aufbrechen, die Landschaft, den Klang der Schellen der Kamelhalsbänder und ihren eigenen fröhlichen Gesang. Auch lautmalerische Elemente lassen sich ausmachen. Neben dem bereits beschriebenen Trott der Kamele sind hohe, mit Vorschlagsnoten versehene Töne in den Streichern und Holzbläsern zu hören, die die Kamelhalsbandschellen darstellen. Ein durch Verlängerung der Notenwerte auskomponiertes Ritardando im instrumentalen Nachspiel zeichnet das Anhalten der Karawane nach.

Schließen möchte ich mit einer persönlichen Anekdote: Francks Rébecca war das Thema meiner Bachelorarbeit, die ich 2021 in Zeiten von Lockdown und Online-Lehre geschrieben habe. Da von diesem nicht besonders populären Werk keine professionelle Studioaufnahme vorlag, habe ich mit einem Konzertmitschnitt der Universitätsmusikensembles der Pariser Sorbonne Université gearbeitet. Dieser hat, wie auch der/die einzige Kommentator:in schreibt, die Stimmung während des Konzerts sehr gut eingefangen. Da ich hier in Regensburg selbst im Unichor mitsinge und das während dieser Zeit sehr vermisst habe, habe ich mich – wohl aus einer Art nostalgischer Gefühlsanwandlung heraus – so sehr mit den Sänger:innen identifizieren können, dass ich nach ein paar Mal Anhören fast das Gefühl hatte, selbst mitgesungen zu haben… Können Musiker:innen unter den Leser:innen das nachfühlen?
Wer sich nun fragt, ob die Rébecca wohl nur deshalb zum Thema meiner Bachelorarbeit wurde, weil sie (fast) genauso heißt wie ich selbst, lässt sich hoffentlich beim Anhören der Scène biblique durch die ganz eigenen Vorzüge dieser Musik eines Besseren belehren. Ich wünsche viel Freude dabei!

YouTube-Link (mit Zeitmarke am Beginn der Rébecca)
YouTube-Link (mit Zeitmarke am rezitativischen Übergang [Rébecca] zum „Chœur des chameliers“)


4.–10.12.2023: ausgesucht von Patrick Ohnesorg

Giacomo Puccini, „Minister-Trio“ aus Turandot

Giacomo Puccinis Turandot bin ich das erste Mal im Theater Regensburg begegnet, wo ich 2022 einige Vorstellungen als Übertitler begleiten durfte. Dabei lernte ich das Stück intensiv kennen und war von Anfang an von dem Stoff begeistert, der ursprünglich aus einem persischen Märchen stammt. Auch die Geschichte zur Uraufführung, die Arturo Toscanini dirigierte und bei der er nach dem Tode der Liù die Aufführung endete, gehört fest zur Werksgeschichte. Erst ab der zweiten Vorstellung wurde der von Franco Alfano nach Puccinis Tod komponierte Schluss mitaufgeführt.

Musikalisch glänzt die Oper natürlich dadurch, dass darin mit „Nessun dorma“ eine der berühmtesten Tenorarien überhaupt enthalten ist. In diesem Musikstück der Woche soll aber eine andere Nummer ins Rampenlicht gerückt werden, die bis heute einen besonderen Platz in meiner Playlist einnimmt: das Minister-Trio zu Beginn des zweiten Akts. Auch wenn man der Namensgebung Ping, Pang und Pong aus heutiger Sicht womöglich stereotypische Anmaßungen vorwerfen könnte, nehmen die drei Minister in der Oper eher eine buffonistische Rolle ein. Am Ende des vorangegangenen Aktes hat der Protagonist Calàf mit drei Gongschlägen gerade sein Vorhaben bestätigt, die Prinzessin Turandot mit dem Lösen ihrer Rätsel zu seiner Frau zu machen. Nach nur wenigen Takten unruhiger Instrumentaleinleitung beginnt nun das Trio der Minister. Sie schildern ihre Vorbereitungen, die verschiedener nicht sein könnten: Da sie für beide denkbaren Resultate – Calàfs Erfolg oder Scheitern – gewappnet sein müssen, bereiten sie simultan eine Hochzeitszeremonie sowie ein Begräbnis vor. Die beschwingt treibende Musik wird von längeren Kantilenen unterbrochen, in denen die Minister die Sinnlosigkeit ihrer Taten beklagen, da sämtliche Kandidaten, die bis jetzt versucht hatten, die Rätsel zu lösen, ihr Leben verloren haben. Mit der Erkenntnis, dass Ping, Pang und Pong an diesem Punkt nicht mehr als „ministri del boia“ (Henkerminister) sind, verklingt die hektische Akteröffnung mit Pizzicati der Streicher und kurz gestoßenen Tönen der Querflöte. Deren ausgehaltener Schlusston leitet in eine viel ruhigere Nummer (in der verlinkten Aufnahme ab 3:25) über, in der die Minister in der Erinnerung an ihre fernen Landgüter schwelgen: Zuerst sehnt sich Ping nach seinem Haus in Honan, umgeben von einem kleinen blauen See und Bambussträuchern, während Pong den Schatten seiner Wälder bei Tsian vermisst. Schließlich klagt Pang, dass er seinen Garten bei Kiù für sein Ministerdasein zurücklassen musste, bevor die drei Stimmen imitierend kombiniert werden und in einem – insbesondere instrumental unterstützten – Höhepunkt gemeinsam aufblühen.

Die zwei Lebenswelten der Minister werden in diesen ersten beiden Nummern des Aktes gegenübergestellt, was sich besonders fassbar in der Musik niederschlägt. Stressige Vorbereitungen und Selbstzweifel treten einem zuerst schwelgenden, dann aber mitreißenden Heimweh gegenüber. Die Träumereien von Ping, Pang und Pong werden hier nachdrücklich durch die hohen Streicher nachgezeichnet. Zugleich unterstreicht der Wechsel von binären und ternären Taktarten hier die melancholische Trübung der idyllischen Nostalgie.

Aufgrund des szenischen Settings in China band Puccini verschiedene chinesische Motive in die Oper ein, für die er sich musikalisch unter anderem an Spieluhrmelodien orientierte. Für die drei Kanzler ist dies beispielsweise schon bei „Fermo! che fai?“ im ersten Akt der Fall. Auch wenn der Beginn des zweiten Akts offenbar nicht an eine konkrete Melodie angelehnt ist, bedient die Musik schon mit ihrer instrumentalen Ein- und Begleitung Erwartungen an fernöstliche Klangwelten. Dies ist nicht nur in der Instrumentierung (Glockenspiel, Xylophon und Bass-Xylophon), sondern auch in der Spielweise (z. B. Pizzicato und Akzentuierung) und der Rhythmik (insbesondere beim Gesang oft Punktierungen und längere Notenwerte auf der ersten Zählzeit gefolgt von kürzeren, beschwingten Noten) erkenntlich.

Wenn Ihr Interesse geweckt wurde, sollten Sie diese Oper– sofern noch nicht bekannt – unbedingt in Gänze anhören. In der beigefügten Aufnahme der Deutschen Grammophon sind Heinz Zednik, Francisco Araiza und Gottfried Hornik in der Rolle der Minister zu hören, die von den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Herbert von Karajan begleitet werden.

YouTube-Link


27.11.–3.12.2023: ausgesucht von Simon Hensel

Injury Reserve, By the Time I Get to Phoenix (2021)

Manchmal begegnet man Musik, die dich hinterfragen lässt, wo die Grenzen eines Genres liegen und was Musik überhaupt sein kann. So ging es mir mit dem zweiten und letzten Album des experimentellen Hip-Hop-Trios Injury Reserve, bestehend aus Producer Parker Corey und den Rappern Ritchie with a T und Stepa J. Groggs. Der Titel By the Time I Get to Phoenix ist ein direkter Verweis auf den gleichnamigen Song von Isaac Hayes – eine Idee von Groggs. Ritchie sagte in einem Interview, dass Groggs diesen Wunsch in einem ihrer letzten Telefonate angesprochen hatte, bevor er noch vor Vollendung des Albums plötzlich verstarb. Groggs’ Tod ist daher verständlicherweise prägend für die Stimmung des Albums.

Aber auch ohne dieses einschneidende Erlebnis wäre By the Time I Get to Phoenix ein einzigartiges und innovatives Album geworden. Unabhängig von Groggs‘ Einfluss ist das Album von einer düsteren, meist paranoiden Stimmung geprägt – vermutlich, weil da es inmitten der ersten Pandemiewelle entstand. Die Musik von Injury Reserve lebt von einem Mut zum Experimentellen und Abstrakten. Die „Beats“ ähneln oft eher Soundscapes oder arbeiten mit chaotischen rhythmischen Patterns, die weit von den für Rap typischen Backbeats entfernt sind. Um dem Album gerecht zu werden, müsste ich aber jeden Track einzeln besprechen, da jeder auf seine eigene Art für die Hörer*innen herausfordernd ist und ebenso eigene Themen behandelt. Stattdessen möchte ich zwei Tracks hervorheben, die man im Kontext des Albums schon fast als Balladen bezeichnen kann.

„Knees“ hat nicht nur einen der rhythmisch verwirrendsten Beats des Albums, sondern gleichzeitig einige der intimsten und am verletzlichsten wirkenden Textzeilen. Das Hauptthema des Tracks ist ‚growth‘ und wird im zweifachen Sinne aufgegriffen: persönliche Entwicklung und wortwörtliches, körperliches Wachstum. Die hieraus resultierenden Zeilen des Refrains bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Komik und Tragik: „Knees hurt me when I grow / And that’s a tough pill to swallow / Because I’m not getting taller / Please, is there any way I could grow, please?” Deutlicher findet sich diese Tragik in „Top Picks for You“, wo Ritchie sich am direktesten mit Groggs’ Tod auseinandersetzt. Hier beschreibt Ritchie auf abstrakte Weise, wie es sich angefühlt hat, das Album ohne seinen Partner fertigzustellen, der aber immer noch wie ein Geist in der Maschine im Studio präsent war. Dieses Gefühl spiegelt sich für mich am stärksten in den Zeilen wider, die mir als Erstes in den Sinn kommen, wenn ich an By the Time I Get to Phoenix denke: „But your pattern’s still intact / And algorithm’s still reacting.“

Hörempfehlung: „Knees“, „Top Picks for You”, „Superman That“

Link zum kompletten Album


20.–26.11.2023: ausgesucht von Michael Braun

Franz Xaver Richter, Sinfonie in C-Dur (Aapo Häkkinen, Helsinki Baroque Orchestra)

JOSEPH: Nachdem du für heute mit deinen Ausführungen über die großen Zeitläufte der Musikgeschichte geendiget hast, hochzuehrender Lehrmeister, möchte ich mir gerne erlauben, dir eine Sinfonie eines nur selten gespielten Musicus aus alten Zeiten vorzulegen: ein Werk von Franz Xaver Richter.

ALOYSIUS: Ja, ich weiß, einer jener Eleven der Mannheimer Schule, die dem glänzenden Vorbild des genialischen Johann Stamitz gefolgt sind.

JOSEPH: Hm, ja schon irgendwie. Doch las ich auch, dass Maestro Richter, acht Jahre älter als der brave Stamitz, erst 1746, im siebenunddreißigsten Lebensjahr, nach Mannheim kam. Ist’s da billig, in ihm einen Zögling der Mannheimer Pflanzschule zu sehen? Und dann hört’ ich, dass er fast sechzigjährig als neuer Kapellmeister nach Straßburg ging, wo er noch 20 Jahre wirkte und …

ALOYSIUS: Ist ja gut jetzt, genug der Sophisterei. Welches Opusculum dieses Vorklassikers hast du denn im Sinne?

JOSEPH: Eine Sinfonia in C-Dur, es ist eine von zwölfen, die 1744 in Paris in zwei Teilen gedruckt wurden.

ALOYSIUS: Oho, gleich deren zwölf? Was enthält diese Sammlung denn, was sich nicht auch in sechsen hätte schreiben lassen?

JOSEPH: Meist sind es dreisätzige Sinfonien, hochzuehrender Lehrmeister, erst schnell, dann langsam, zuletzt wieder schnell. Aber auch viersätzige Abfolgen finden sich drunter und machen alles noch bunter: Da folgt ein fugierter schneller Satz einem langsamen ersten, woraufhin dann ein Andante und ein Minuetto …

ALOYSIUS: … ich sehe schon, feststeckend in den Zwängen von Kirchen- und Kammersonate, ganz klar – ich hab ja schließlich meinen Brossard gelesen; ist halt doch noch kein Haydn, der Richter …

JOSEPH: … freilich, hochgeehrtester Lehrmeister, aber es gibt darinnen auch Schönheiten, die …

ALOYSIUS: Sicher, sicher. Lass mich einen Blick in die Partitur werfen … ah, natürlich, dem Barockgefühle noch grundlegend verhaftet: reiner Streichersatz, generalbassmäßiges Denken, Sequenzbildungen allerorten …

JOSEPH: … fern liegt es mir, dir zu widersprechen, verehrtester Lehrmeister. Doch ist nicht auch zu sehen, wie reichlich Richter hier neue Anregungen des norditalienischen Concerto aufnahm, sich mit Geschick zu eigen machte und zu Originellem zu nutzen wusste? Vielleicht mag es ja angehen, für einen Moment zu vergessen, dass Sinfonien so klingen müssten, wie sie es nach 1760 getan haben. Frei wären wir dann dafür, im ersten Satz die rasche Abwechselung der Gedanken zu schätzen, die offenkundige Freude an den mannigfaltigen Effecten des gemeinsamen Streicherspiels. Und dann der zweite Satz, dessentwegen mir die Sinfonie ja zuallererst ans Herz gewachsen: wie wunderbar atmend das Helsinki Baroque Orchestra diese einfache, innige Musik spielt …

ALOYSIUS: Wer spielt’s?

JOSEPH: Jaja, Aapo Häkkinen leitet das Helsinki Baroque Orchestra …

ALOYSIUS: … aha, „Baroque“, da haben wir’s ja!

JOSEPH: (nach einer Pause) Sollen wir’s uns jetzt einfach mal anhören?

ALOYSIUS: Meinethalben, (versonnen) vielleicht sind darinnen ja doch schon verstreute Lichtstrahlen klassischer Gestirne zu entdecken …

JOSEPH: (für sich) Ich geb’s auf.

Naxos Music Library, Track #1–3


13.-19.11.2023: ausgesucht von Angelina Sowa

Bella Ciao

Vielleicht wurden Sie vor knapp zwei Wochen Zeugin oder Zeuge eines derartigen Szenarios: Menschen in roten Overalls, die kaum voneinander zu unterscheiden sind, durchstreifen die Straßen. Sie tragen Salvador-Dalí-Masken und wandern fröhlich von Haustüre zu Haustüre, während sie in der linken Hand ein Gewehr halten.

Was ich mit dieser Situation zu beschreiben versuche, stellt freilich keine Schilderung einer politischen Verschwörung oder gar einer kriminellen Machenschaft dar. Vielmehr möchte ich damit auf eine Kostümierung hinaus, die nicht nur an Halloween besonders beliebt ist, sondern in den letzten Jahren auch weit darüber hinaus zu einem aussagekräftigen Symbol für Rebellion, Revolte und Widerstand geworden ist: Die Kleidung der Charaktere aus der 2017 erschienenen spanischen Serie La casa de papel (deutsch: Haus des Geldes).

Wem diese Produktion nichts sagt, sei hier mit einer kurzen Zusammenfassung weitergeholfen: So handelt die Serie von einer Gruppe von acht Kriminellen, die den größten Raubüberfall der Geschichte durchführt – die Besetzung der spanischen Banknotendruckerei. Während sich die Charaktere dabei gegen das etablierte System stellen und für ihre eigenen Ziele kämpfen, avancieren sie zugleich zu Heldinnen und Helden, die gegen soziale Ungerechtigkeit rebellieren. Sie lenken die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die gesellschaftlichen Missstände und stellen die Frage nach dem Wert des Individuums in einer von Geld und Macht geprägten Welt. Kein Wunder also, dass sämtliche Requisiten der Serie von einem starken Symbolgehalt geprägt sind. Sei es die rote Farbe der Overalls, die stellvertretend für Freiheitskämpfe auf der ganzen Welt steht, oder die Dalí-Maske, welche sicher nicht zufällig das Gesicht eines Künstlers abbildet, der im Zuge der Dada-Bewegung gegen die moderne kapitalistische Gesellschaft revoltierte: Das Thema des Widerstands zieht sich wie ein roter Faden durch jede einzelne Folge.

Es scheint demnach nur logisch, dass auch die Musik in La casa de papel eine starke Botschaft vermittelt. Als inoffizieller Titelsong zieht sich das italienische Lied Bella Ciao durch alle fünf Staffeln der spanischen Serie und verleiht der Produktion eine stark politische Komponente. Es handelt sich dabei nicht um einen eigens für die Serie komponierten Song, sondern um ein Musikstück, das tief in der Geschichte der italienischen Widerstandsbewegung verwurzelt ist. Gleichsam eine Hymne der antifaschistischen und sozialdemokratischen Bewegungen wurde Bella Ciao im Zweiten Weltkrieg von Partisaninnen und Partisanen gesungen, die gegen die faschistische Diktatur Mussolinis und die Besetzung durch die Nazi-Soldaten kämpften. Oft wird es deshalb mit dem 25. April in Verbindung gebracht, dem Tag, an dem Italien die „Befreiung vom Nazifaschismus“ zelebriert.

In Analogie zu der historischen Bedeutung des Musikstücks erzeugt das Lied in La casa de papel eine Atmosphäre der Solidarität. Immer wieder wird es von den Charakteren selbst gesungen und von der nondiegetischen Serienmusik aufgegriffen. Es verleiht der Produktion eine politische Dimension und verknüpft sie mit dem historischen Kontext der italienischen Widerstandsbewegung gegen den Faschismus. In diesem Sinne wird Bella Ciao zu einem Symbol für Freiheit, Gerechtigkeit und den Kampf gegen Unterdrückung. Nicht zuletzt verhalf die Serie dem Lied zu einer weltweiten Bekanntheit, was Bella Ciao im Jahr 2018 in Deutschland etwa zum Sommerhit des Jahres werden ließ.

Im Sinne eines kraftvollen Symbols des Widerstands und der Einheit gewinnt Bella Ciao im Jahr 2023 vermehrt an Aktualität. Es erinnert uns daran, sich solidarisch gegen Ungerechtigkeit zu erheben und für unsere Überzeugungen einzustehen. So ruft das Lied dazu auf, die Geschichte nicht zu vergessen und aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. In einer Welt, in der die Möglichkeit der Meinungsäußerung wieder zunehmend in Frage gestellt wird, ist dies vielleicht ein wichtiger Gedanke, den wir nicht außer Acht lassen sollten …

YouTube-Link
Bella Ciao in Haus des Geldes


6.–12.11.2023: ausgesucht von Patrick Ehrich

The Beatles, Now and Then (2023)

Eigentlich hatte ich für meinen Beitrag zum „Musikstück der Woche“ in diesem Semester andere Pläne, aber ich schätze, wenn die Beatles überraschend ihren letzten gemeinsamen Song veröffentlichen, wird dieser dann wohl automatisch zum „Musikstück der Woche“ – und das kann man dann auch schwerlich ignorieren.

Nun denn – also: Now and Then!

Dafür, dass der Song zum Zeitpunkt, zu dem ich diesen Beitrag schreibe, gerade mal drei Tage alt ist, ist das Internet schon voll von Tweets (oder Xs?), Beiträgen, Video-Essays und anderen Veröffentlichungen, die über den Song an sich und dessen Genese berichten.

Aus diesem Grund möchte ich gar nicht versuchen, hier eine möglichst objektive Perspektive einzunehmen, sondern nehme Sie als LeserIn einfach an die Hand, und lasse Sie an meiner persönlichen Entdeckungsreise hin zu diesem Song teilhaben. Meine Tochter würde sagen: Sie sind nun Teil meiner „Listening Party“.

Es ist jetzt Freitagnachmittag (3.11.2023) und ich habe von dem Song gelesen, ihn aber noch nicht gehört. Ich muss zugeben, dass ich den vergangenen Tagen deswegen nicht sonderlich interessiert daran war, weil ich die Schlagzeilen zunächst wohl falsch verstanden hatte. Aber hier liegt offenbar kein KI-Song vor – also kein Song, den eine künstliche Intelligenz geschrieben hat. Vielmehr war ein KI-Tool nur im Vorbereitungsprozess im Einsatz. Das macht das Ganze schon mit einem Schlag interessanter für mich. Wie ich nach kurzer Recherche in Erfahrung bringe, ist Now and Then ein Song von John Lennon, von dem es eine Demoversion auf Kassette gab, die nun erweitert wurde. Das ursprüngliche Problem dabei war, dass auf dem Demo Lennons Gesang und das Klavier gemeinsam aufgenommen worden waren, weswegen es zunächst keine technische Möglichkeit gab, die Gesangsspur nachträglich zu isolieren und besser abzumischen. Dieses Problem hat die KI nun offenbar gelöst, so dass es möglich wurde, dass Lennons Gesang und seine Klavierbegleitung getrennt wurden und zudem die noch verbliebenen Beatles Paul McCartney und Ringo Starr weitere Instrumente dazu aufnehmen konnten. Vom 2001 verstorbenen George Harrison existierten offenbar von einer früheren Ausnahmesession noch Gitarrenspuren, die ebenfalls zum Einsatz kamen. Außerdem gibt es noch ein besonderes „Schmankerl“: Für Now and Then wurde ein Streicherarrangement geschrieben – dafür zeichnet offenbar Giles Martin verantwortlich, der Sohn des legendären Beatles Produzenten Sir George Martin. Ohne also bisher irgendetwas von dem Song gehört zu haben, bin ich jetzt doch auf einmal sehr gespannt und verspüre eine gewisse Vorfreude.

Hördurchgang 1: (Warnung: Ich bin extrem fixiert auf Harmonik, weswegen jetzt erstmal viele Beobachtungen dazu kommen … Darauf höre ich einfach immer als erstes …)

Nach wenigen Sekunden bin ich mehr als angenehm überrascht. Das klingt schön warm und nach den 1960er Jahren – gepaart natürlich mit der Transparenz moderner Aufnahme- und Mischtechnik. Gut gefällt mir gleich das etwas unorthodoxe harmonische Pendel zu Beginn – a-Moll und e-Moll über g. Da hätten meine Ohren eigentlich eine weiter absteigenden Basslinie erwartet (D-Dur über fis?) aber stattdessen schwingen die beiden Akkorde erstmal hin und her. Schön, stimmungsvoll und gleich mal ein wenig unerwartet.

Lennons Stimme klingt im ersten Höreindruck etwas dünn, aber das ist eigentlich sehr stilecht, schließlich hat Lennon immer schon gerne mit seinem Stimmsound experimentiert. Am Ende der ersten Strophe habe ich das Gefühl, ein neuer Teil beginnt, aber tatsächlich scheint das so etwas wie eine Coda der Strophe zu sein. Lennon hält lange und fast ein wenig sehnsüchtig ein h über der Tonika a-Moll. „Nice!“, wie die jungen Menschen heute sagen würden.

Dann, zweite Strophe. Die Drums, die sich vorher schon ein wenig reingeschlichen haben, setzen jetzt voll ein. Auch hier – toller Sound! Man hört sehr viel vom Aufnahmeraum der Drums mit, was das Ganze sehr „retro“ wirken lässt. So etwas habe ich bei jüngeren Aufnahmen schon länger nicht mehr gehört. Ringo spielt hier mit der ihm üblichen songdienlichen Zurückhaltung. Hat offenbar nichts verlernt … Gleichzeitig nimmt sich McCartney mit seinem Bass den Platz, den das Arrangement ihm lässt. Hier wird für mich wieder einmal deutlich, dass der Bassist Paul McCartney viel zu häufig ungerechtfertigterweise hinter dem genialen Songwriter McCartney übersehen wird. Er findet hier viele kleine geschmackvolle Linien, die das Arrangement bereichern, ohne sich dabei zu sehr in den Vordergrund zu drängen.

Als der Refrain einsetzt, kommt die Überraschung: Tonartwechsel! Was, jetzt schon? Nun gehe ich doch ans Klavier … Okay – fast schon nonchalant wechseln die Beatles hier von a-Moll nach G-Dur. Zählt das überhaupt als Tonartwechsel? Oder ist das eher eine Nutzung erweiterten tonalen Materials? Auf jeden Fall bin ich mir am Ende vom ersten Refrain und beim Übergang zur nächsten Strophe kurz unsicher, ob wir zurückmoduliert haben. Aber tatsächlich, da sind wir wieder – bei a-Moll und e-Moll über g. Es folgt ein weiterer Refrain und dann die nächste kleine harmonische Überraschung – für das anschließende Gitarrensolo gibt es wieder einen kleinen Tonartwechsel, dieses Mal in die andere Richtung, nach d-Moll. Jetzt bin ich richtig begeistert! Lennon war immer schon ein harmonischer Freigeist und heute in Zeiten von fast schon normiert wirkenden Akkordverbindungen im Pop finde ich diese herrlich mäandernde harmonische Struktur ausgesprochen erfrischend!

Hördurchgang 2: Jetzt fällt mir das Klavier zu Beginn noch deutlicher auf. Das ist eigentlich schon fast rustikal – immer wieder leere Intervalle in der linken Hand und die rechte spielt die Melodie bisweilen mit. Das klingt definitiv mehr nach einer Klavierspur für ein Demo als ein komplex ausarrangierter Popklavierpart, wie man ihn heute scheiben würde. Schön, dass das trotzdem so belassen wurde.

Ab Strophe 2 bin ich mir dann fast sicher: Lennons Stimme wurde gedoppelt (auf deutsch: Es klingt, als sängen mehrere Lennons unisono im Chor)! Das ist ein sehr schönes kleines Detail. Lennon hat früher häufig seine Gesangsspuren mehrmals übereinander eingesungen, um so einen „fetteren Sound“ zu erzielen. Nachdem es sich beim vorliegenden Ausgangsmaterial um ein einfaches Demo gehandelt hatte, vermute ich, dass hier jemand nachträglich sehr originalgetreu Lennons Stimme gedoppelt (also zusätzlich eingesungen) hat. Erneut lohnende Liebe zum Detail!

Im weiteren Verlauf fallen mit noch eine Reihe von Kleinigkeiten auf. Ähnlich wie das Schlagzeug bei Strophe 1 schleichen sich die Streicher am Ende von Strophe 2 dazu. Sehr elegant gelöst! Im Refrain gibt es dann zum ersten Mal den Beatles-typischen Gruppengesang, durch den sich ihr Band-Sound in ihrer Anfangszeit, den frühen 1960er Jahren, so markant von denen anderer Formationen unterschieden hatte.

Beim erneuten Hören des Gitarrensolos muss ich dann fast ein Tränchen wegdrücken. Wie ich bei meiner Vorabrecherche gelernt hatte, stammt das Gitarrensolo von Paul McCartney. Eigentlich waren Solos bei den Beatles aber traditionell Harrison-Domäne. Von dem gab es, wie oben geschrieben, zwar aus einer Aufnahmesitzung der 1990er Jahre Gitarrenspuren zum Song, aber kein Solo. Also hat McCartney hier ein „Harrison-Solo“ mit der Slide-Guitar gespielt. In einem Interview zur Entstehung von Now and Then sagt McCartney sogar explizit, dass er versucht hat, dass Solo soweit möglich im Stil seines Freunds George Harrison zu halten. Wie gut ihm das gelingt, finde ich wirklich berührend.

Jetzt, beim zweiten Durchgang fällt mir auch auf, wie schön metrisch „eckig“ der Schluss geschrieben ist. Auch eine wunderbare Abwechslung zu den vielen Fadeout-Lösungen der heutigen Popmusik – ein Song mit einem echten Schluss!

Diese Erkenntnis führt mich dann auch erstmal zu einem Ende meiner „Listening-Party“. Nicht nur ist das hier ein Song mit einem echten Schluss: Sollten die Ankündigungen in der Presse korrekt sein und dies hier der letzte gemeinsame Beatles-Song sein und bleiben, wäre das hier auch ein würdiges und versöhnliches Ende dieser Band, bei dem die beiden verbliebenen lebenden Mitglieder noch einmal mit den schon verstorbenen musizieren konnten. Und das mit einem Ergebnis, dass zwar ohne neueste technische Errungenschaften nicht möglich gewesen wäre, aber gleichzeitig ungemein authentisch nach den 1960er klingt. Der Kolumnist der SZ hat heute die Hoffnung geäußert, dass es vielleicht ja noch weitere Demos von Lennon geben könnte. Ich hoffe fast nicht und würde mir zunächst eher wünschen, dass dieser wunderbar melancholische Song als Endpunkt dieser Band stehen bleiben würde.

Link zum offiziellen Video auf Youtube


30.10.–5.11.2023: ausgesucht von Katelijne Schiltz

Jules de Corte, Ik zou wel eens willen weten

Frei nach dem Motto „variatio delectat“ habe ich für das Musikstück der Woche diesmal kein Werk aus dem Bereich der Älteren Musik gewählt, sondern mich dazu entschieden, ein niederländischsprachiges Lied vorzustellen, das bei uns zuhause häufiger zu hören war. Gesungen und gespielt wird Ik wou wel eens willen weten („Ich würde gerne wissen“) von Jules de Corte (1924–1996), der es 1957 als Single aufnahm. Da es an unserem Institut nicht wenige Studierende gibt, die sich für meine Muttersprache interessieren, liefere ich den Text mit. Auch wenn man die Sprache nicht bis in alle Details beherrscht, glaube ich, dass man den Inhalt verstehen kann (die Übersetzung unter DeutscheLyrics.com ist leider an mehreren Stellen problematisch):

Ik zou wel eens willen weten, waarom zijn de bergen zo hoog
Misschien om de sneeuw te vergaren
Of het dal voor de kou bewaren
Of misschien als een veilige stut voor de hemelboog
Daarom zijn de bergen zo hoog.

Ik zou wel eens willen weten, waarom zijn de zeeën zo diep
Misschien tot geluk van de vissen
Die het water zo slecht kunnen missen
Of tot meerdere glorie van God die de wereld schiep
Daarom zijn de zeeën zo diep.

Ik zou wel eens willen weten, waarom zijn de wolken zo snel
Misschien dat 't een les aan de mens is
Die hem leert hoe fictief een grens is
Of misschien is het ook maar eenvoudig een engelenspel
Daarom zijn de wolken zo snel.

Ik zou wel eens willen weten, waarom zijn de mensen zo moe
Misschien door hun jachten en jagen
Of misschien door hun tienduizend vragen
En ze zijn al zo lang onderweg naar de vrede toe
Daarom zijn de mensen zo moe.

In vier Strophen beschäftigt sich de Corte mit vier großen Fragen: Warum sind die Berge so hoch, die Meere so tief, die Wolken so schnell – und die Menschen so müde. Seine Antwort ist immer zweiteilig: Nach einer im weitesten Sinne als „poetisch“ zu bezeichnenden Deutung (wie etwa: die Geschwindigkeit der Wolken zeigt den Menschen die Relativität von Grenzen) sucht de Corte eine Erklärung, die eine transzendente Ebene eröffnet. Es ist vom Himmel, von Gott, den Engeln und schließlich vom Frieden die Rede.

Man kann im Text den Ausdruck einer christlichen Lebenshaltung sehen, muss es aber nicht. Jules de Corte war jedenfalls gläubig (er war Mitglied der niederländisch-reformierten Kirche) und auch gesellschaftlich engagiert: Als etwa 1953 die Flutkatastrophe die Niederlande (und Teile von Belgien und Großbritannien) traf, komponierte de Corte ein Lied, mit dessen Einnahmen er die Opfer finanziell unterstützen wollte.

Insbesondere die letzte Strophe, die den Blick von der überwältigenden Schönheit der Natur zur Unvollkommenheit des menschlichen Daseins lenkt und somit inhaltlich einen Bruch darstellt, finde ich treffend. De Corte thematisiert mit der Ruhelosigkeit und der Hektik (dem „jachten en jagen“) ein allzu erkennbares Phänomen und findet die Ursache in der Suche nach Frieden.

Das nachdenklich stimmende Strophenlied mit seiner schlichten, aber berührenden Klavierbegleitung hat die niederländische Liedkultur stark geprägt. Allein bei YouTube findet man mehrere Hommagen an den blinden Musiker, bei denen Ik zou wel eens willen weten einen prominenten Platz einnimmt. Herman Van Veen, dessen unverwechselbare Stimme wir mit dem Lied Fiets bereits im letzten Semester hören konnten, hat es in sein Programm aufgenommen. Erwähnenswert ist auch die Version von Frans Halsema (1939–1984), der die Fragen von Jules de Cortes Lied aufgriff und statt einer poetisch-metaphysischen Antwort eine naturwissenschaftliche Alternative formulierte.

Auch in der heutigen Zeit gibt es zahlreiche Gründe für die von de Corte konstatierte Rastlosigkeit, wenn man bedenkt, mit wie vielen Herausforderungen und akuten Krisen wir auf allen möglichen Ebenen konfrontiert werden – und wie viele Fragen sich damit verbinden. Es wird immer deutlicher, wie fragil sowohl die Natur als auch das menschliche Zusammensein sind – und wie wichtig es ist, nicht zu „ermüden“ und zu resignieren, sondern sich aktiv dafür einzusetzen.

Ich würde gerne wissen, warum wir uns damit so schwertun.

YouTube-Link
Version mit Transkription
„Antwort“ von Frans Halsema
Version mit Herman Van Veen


23.–29.10.2023: ausgesucht von Emily Martin

Fanny Mendelssohn Bartholdy, Nachtreigen (1829)

Wenn sich die Blätter an den Bäumen bunt verfärben, die Tage kürzer und die Nächte länger werden, dann sind das sichere Anzeichen dafür, dass der Übergang von Sommer zu Winter in vollem Gange ist. Während es noch den ein oder anderen „goldenen“ Herbsttag gibt, der einen mit warmen Sonnenstrahlen und faszinierenden Farbenspielen ins Freie lockt, laden Nebel, Kälte und Wind an anderen Tagen dazu ein, es sich in einer warmen Stube gemütlich zu machen.

Der von Fanny Mendelssohn Bartholdy im Sommer des Jahres 1829 komponierte und mit den Worten „Es rauschen die Bäume“ eingeleitete Nachtreigen für achtstimmigen Chor, in dem Reflexionen über die Beziehung zwischen Mensch und Natur zum Ausdruck gebracht werden, passt meiner Meinung nach sehr gut in die aktuelle Jahreszeit, in der sich die Natur stärker als in anderen Monaten in das Bewusstsein der Menschen drängt.

Der Text des Nachtreigen stammt von dem beruflich eigentlich als Maler tätigen Wilhelm Hensel, der drei Monate nach der Entstehung dieser Komposition Fanny Mendelssohn Bartholdy heiratete. Die Künstlerehe war geprägt von einem großen gegenseitigen Respekt für die Arbeit des jeweils anderen, sodass sich die beiden nicht selten gegenseitig inspirierten. Bereits im Nachtreigen zeigt sich die enge künstlerische Verbindung des späteren Ehepaares. Denn mit ihrer Vertonung des Gedichts gelang es Fanny Mendelssohn Bartholdy, die im Text von Wilhelm Hensel angelegte Spannung zwischen zwei unterschiedlichen Arten der Naturerfahrung klingend zum Ausdruck zu bringen.

Um den im Text vorherrschenden Kontrast zwischen den Menschen, die einen eher passiv-betrachtenden Umgang mit der Natur pflegen, und jenen, die mit ihrer übermütigen Heiterkeit die Ruhe der Natur stören, zu betonen, nahm Fanny Mendelssohn Bartholdy eine Trennung des achtstimmigen Chores in Frauen- und Männerstimmen vor, denen sie jeweils eine der beiden Positionen zuordnete. Zu Beginn des Nachtreigen lässt sie zunächst nur den vierstimmigen Frauenchor einsetzen, der eine ruhige Stimmung vermittelt, während er leise seine Einheit mit der Natur besingt.

Die besinnliche Atmosphäre wird schlagartig zerstört, wenn der Männerchor wenig später mit einem forte ausgestoßenen Ruf unvermittelt in die Ruhe der Natur einbricht. Das laute „Hallo, hallo“ weckt zusammen mit dem Wechsel von gerader Taktart in einen Dreiertakt, der Besetzung mit ausschließlich Männerstimmen und der im Text besungenen Freude anlässlich der schrankenlosen Freiheit beim Aufenthalt in der Natur, Assoziationen an einen Jägerchor, die sich an dieser Stelle als durchaus passend erweisen. Denn gleichermaßen, wie der Jäger das Wild aufschreckt, stellt auch das in dieser Strophe beschriebene Eindringen der Menschen in die Natur einen störenden Eingriff dar. Mit der Aufforderung „Still! Still!“, die im Anschluss daran wiederum leise von den Frauenstimmen vorgebracht wird, soll der ausgelassenen Stimmung Einhalt geboten werden.

Die respektvolle und friedliche, fast schon ehrfürchtige Haltung gegenüber der Natur, die innerhalb der Vertonung Fanny Mendelssohn Bartholdys dem Frauenchor zugewiesen ist, wird im Gedicht Wilhelm Hensels als erstrebenswert dargestellt. Die zu Beginn des Nachtreigen noch als Störenfriede inszenierten Männerstimmen erleben schließlich einen Sinneswandel, der sie einen ebenfalls ruhigen und harmonischen Zugang zu ihrer Umwelt finden lässt. Gleichzeitig mit der Änderung der inneren Haltung kommt es zu einer Aufhebung der strikten Trennung zwischen Männer- und Frauenstimmen. Eine Weile lang lässt Fanny Mendelssohn Bartholdy die zuvor kontrastierend gegenübergestellten Chöre zur gleichen Zeit, jedoch noch mit unterschiedlichen Texten hervortreten. Erst für die Vertonung der letzten beiden Verse mit den Worten „Und gemeinsam sei empfunden / was der einzelne gedacht“ behandelt sie die acht Stimmen des Chores als zusammengehörige Einheit. Der zunächst als Doppelfuge beginnende Satz bewegt sich schließlich sowohl in freier Polyphonie als auch in homophoner Stimmführung fort, wodurch die im Text besungene Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer Gemeinschaft, die nach anfänglich gegensätzlicher Haltung schließlich die gleiche Einstellung vertritt, zum Ausdruck kommt.

YouTube-Link (Kammerchor der Universität Dortmund, Willi Gundlach)


16.-22.10.2023: ausgesucht von David Hiley

Ernest John Moeran, Concerto for Violin and Orchestra (1941)

E. J. Moeran gehört dem Zeitalter zwischen Edward Elgar (1857–1934) und Benjamin Britten (1913–1976) an, wie auch John Ireland (1879–1962), sein Freund Arnold Bax (1883–1953), Arthur Bliss (1891–1975) und Herbert Howells (1892–1983), von der Zweiten Wiener Schule unberührt, auch wenig von der zeitgenössischen französischen Musik beeinflusst. Als spätromantisch könnte man Moerans Musik bezeichnen, und wie viele spätromantische Werke sind einige von Moeran mit bestimmten Ländern bzw. Landschaften verbunden, in seinem Fall mit Norfolk in Ostengland und County Kerry in Südwestirland. Moerans Vater wurde in Irland geboren und kam als Kleinkind nach England. Moeran's Mutter stammte aus Norfolk. Sowohl Vater als auch Großvater waren anglikanische Priester. In Irland wurde der Familienname normalerweise „Morawn“ (zweite Silbe betont) ausgesprochen, der Komponist selber sprach ihn „Moran“ (erste Silbe betont) aus.

Moerans 1913 begonnenes Studium bei C.V. Stanford am Royal College of Music in London wurde 1915 durch den Kriegsdienst unterbrochen. 1917 erlitt er eine schwere Halsverletzung (wohl mit langfristigen Gesundheitsschäden) und wurde ausgemustert. Nach Kriegsende konnte er bis 1923 privat bei John Ireland studieren. In den 1920er Jahren komponierte er Lieder, Klavierwerke und Kammermusik, sammelte Volkslieder vor allem in Norfolk und veröffentlichte deren Bearbeitungen (Six Norfolk Folksongs 1923, Six Suffolk Folksongs 1931, etc.). In den 1930er Jahren kamen seine bedeutendsten Werke zustande, vor allem das Trio für Streicher (1931), die großartige Orchestersinfonie in g-Moll (1937 vollendet), und das Violinkonzert (1937–1941). Während dieser Jahre und bis zu seinem Tode verbrachte er viel Zeit in Kerry. Zum ersten Satz der Sinfonie sagte Moeran, er sei „among the mountains and seaboard of County Kerry“ inspiriert worden. Seine letzten Jahre wurden durch gesundheitliche Probleme beeinträchtigt, trotzdem stellt das Cellokonzert (1945), für seine Frau Peers Coetmore komponiert, eine bedeutende Leistung dar (Aufnahme 1970,Coetmore mit Adrian Boult, Lyrita). Er starb an einem Schlaganfall, sein Leichnam wurde aus dem Meer bei Kenmare, County Kerry, geborgen.

In mancher Hinsicht ist das Violinkonzert eine Antwort auf die große Sinfonie in g-Moll, sozusagen der Trost nach der Trauer. Beides ist gleich am Anfang des Konzerts angedeutet, die trauernd fallenden Akkorde der Streicher werden durch die tröstend aufsteigenden Töne der Violine beantwortet. Im ersten Satz (Allegro moderato) ist das tragische Element dominant, gegen Ende des dritten Satzes (Lento) kommt die wunderschöne Versöhnung, gleichsam ein Abschied von der irdischen Betrübnis und ein Aufstieg in eine bessere Zukunft auf den Flügeln der singenden Violine. Zwischen den Ecksätzen ein stürmisch frohlockendes Rondo (Vivace) mit vielen Nachklängen irischer Volkstänze. Ein Netzwerk an Themen und Motiven verbindet alle drei Sätze. Bezaubernd lyrisch, spätromantisch ... aber achtzig Jahre nach ihrer Entstehung kann diese Musik doch zu uns sprechen, nicht zuletzt, wenn sie Trost und Hoffnung zu erkennen gibt!

IMSLP

YouTube-Links: Albert Sammons, 1946 - John Georgiadis, 1976 -
Tasmin Little, 2013 und (in Kombination mit der Partitur)


Sommersemester 2023

17.–23.7.2023: ausgesucht von der Forschungsgruppe Fietsliedjes

HB Effect, Fietsen Fietsen Fietsen

Fietsen, fietsen en nog eens fietsen!

Das Semesterende steht kurz bevor, und mit den letzten Kurseinheiten neigt sich auch das Musikstück der Woche allmählich der Sommerpause entgegen. Während sich einige nun sehnsüchtig in den Planungen für eine aktionsreiche vorlesungsfreie Zeit verlieren, dürften sich in anderen jedoch auch beunruhigende Gedanken einer drohenden Langeweile auftun. Vom üppigen Zeitreservoire überfordert zu werden oder gar unproduktiv den Tag verstreichen zu lassen, sind berechtigte Sorgen, die sich in einer derartigen Periode völlig unangekündigt bewahrheiten können. Die Forschungsgruppe Fietsliedjes (siehe auch Musikstück der Woche vom 26. Juni) möchte dagegen Abhilfe schaffen und als helfender vriend und liebevoller Radgeber den Verzweifelten zur Seite stehen.

Gemeinsam mit dem niederländischen Sänger HB Effect – dem mittlerweile zu sechs Abonnent*innen auf YouTube gratuliert werden darf – lädt die Forschungsgruppe zu einer gesunden, aktionsreichen und zugleich heerlijk erfüllenden Tätigkeit ein: zum Fietsen (oder auf Deutsch: Fahrradfahren)! Ob in der Stadt, im Wald oder bequem auf dem Heimtrainer zu Hause: Fietsen ist gesund! Das manifestiert auch HB Effect gleich zu Beginn seines legendären Songs. Nicht nur kräftigt Radeln die Muskeln und Atemwege, sondern es wirkt sich auch wunderbar stärkend auf das Herz-Kreislaufsystem aus. HB Effect geht in seinem Liedje sogar so weit, es mit den Worten „fietsen is mijn lijf“ zu einer lebensnotwendigen Tätigkeit zu erheben.

Doch damit noch lange nicht genug. Fietsen weist auch auf emotionaler Ebene ein bemerkenswertes Potenzial auf: es verbindet Personen oder dient – wenn man HB Effect hier richtig verstehen möchte – als Datingplattform par excellence. „Heel heerlijk!!!“ würde da der echte Nederlander wohl ausrufen! Dass hierbei selbstverständlich nicht zwangsläufig „von mir, zu dir und dann doch zu ihm“ (freie Übersetzung) gefietst werden muss, ist selbstredend. Es reicht auch völlig, sich unverbindlich auf eine oder einen Fietsgefährten zu beschränken oder die Zeit mit vielen wunderbaren vrienden zu verbringen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch das Fiets selbst ein stets loyaler vriend ist!

Da wäre dann nur noch das eine Problem, das HB Effect gegen Ende des Liedes sehr präsent in den Vordergrund rückt: „tegenwind“ (deutsch: Gegenwind). Eine zweifache Interpretation ist hier möglich und die Lösung, die HB Effect anbietet, in beiden Fällen genial! Folgt man Interpretation Nummer 1 und betrachtet „tegenwind“ im wörtlichen Sinne als Wind, der entgegengesetzt zu der Richtung weht, in der man sich bewegt, so bietet sich der Fietserin oder dem Fietser eine optimale Möglichkeit, sein/ihr Beintraining auf ein neues Level zu bringen. Muskeln können aufgebaut, die Sommerhitze gemildert und die Fahrradkünste bewiesen werden. Nicht also negativ sollte der Gegenwind hier betrachtet werden, sondern in den Worten Effects vielmehr als Herausforderung, die „durchgestrampelt“ werden kann. Eine ähnlich herrliche Ausdeutung des Begriffs, die zugleich als Metapher für das Leben verstanden werden könnte, ist Interpretation Nummer 2: „tegenwind“ im Sinne der Bestrebungen anderer, deren Zielrichtung gegen das eigene Wollen gerichtet ist. Oder aber anders gesagt: Hürden, die zunächst persönlichen Vorhaben im Wege stehen und uns an bestimmten Plänen hindern. Wie auch immer es verstanden werden möchte, ist auch hier HB Effects Rat mehr als nützlich: „Fahr einfach durch“ (frei übersetzt). Mit Vertrauen und Zuversicht, ein wenig Fleiß und Disziplin kann auch der stärkste Gegenwind überwunden werden – und zur Not gibt es immer noch die Möglichkeit, sein Fiets für eine kurze Strecke zu schieben.

Wie wir sehen, stellt Fahrradfahren also gleich in mehrerlei Hinsicht eine optimale Beschäftigung dar. HB Effect nutzt es, um Kontakte zu knüpfen und die Liebe seines Lebens zu finden. Wir wiederum haben es zu einem Forschungsthema erhoben, dem wir mit großer Freude zu mehr Verbreitung verhelfen wollen. Vielleicht konnten wir mit diesem Beitrag bereits Lust machen auf eine Fietstour in der vorlesungsfreien Zeit? Wenn nicht, empfehlen wir, sich vom Meister überzeugen zu lassen und das legendäre Lied HB Effects (nicht zu verwechseln mit Effects zweiter Erfolgsnummer Fietsen Fietsen Fietsen 2) in vollen Zügen zu genießen.

Für weitere entspannte, doch nicht völlig fietsfreie Stunden empfehlen wir einen Besuch unseres YouTube-Kanals, um unsere vielfältigen Fietsliedje-Playlists zu entdecken, die fortlaufend erweitert werden!

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10.–16.7.2023: ausgesucht von Franziska Weigert

Peter Fox, Album Love Songs

Stellen Sie sich vor, sie veröffentlichen Ihr erstes Solo-Album und sind so erfolgreich damit, dass es ein instant classic wird. Es ist wochenlang auf Platz eins der Charts, erhält mehrfachen Goldstatus und gehört irgendwann zu den meistverkauften Alben Ihres Landes. Was ist Ihre logische Schlussfolgerung daraus? Genau, ab ins Studio und Solo-Album Nummer zwei produzieren. Nicht so Peter Fox. 2008 – ja richtig gelesen – erschien sein legendäres Album Stadtaffe, dass die deutsche Popmusik seither stark beeinflusst. Fox‘ einzigartig cooler, mitreißender Sound und seine irgendwo zwischen rebellischem Hipstertum und modernem Spießbürgertum changierenden Texten ist unnachahmlich. Alles neu und Haus am See wurden zu modernen Klassikern, der Aufforderung Schüttel deinen Speck folgte man gern und Schwarz zu Blau ist bis heute die inoffizielle (Anti-)Hymne Berlins. Weitere Musik von Fox wurde sehnlichst erwartet, doch er ging zurück zu seiner Band Seed und veröffentlichte vorerst nichts mehr auf eigene Faust. Peter Fox schien nur eine kurze Exkursion als Solokünstler gemacht zu haben.

Im Oktober 2022 erschien dann plötzlich Zukunft Pink (feat. Inéz). Ein Song, der nur so vor Zukunftsmut sprüht – und das nach zwei Jahren Pandemiefrust: „Alle malen schwarz, ich seh‘ die Zukunft pink, wenn du mich fragst, wird alles gut, mein Kind.“ „Kommt da noch mehr?“, fragte man sich. Die Monate verstrichen und nichts geschah. Im Mai 2023 dann endlich die Auflösung: Peter Fox‘ zweites Studioalbum Love Songs erschien. 15 (!) Jahre nach seinem ersten Solo-Album und trotzdem sofort wieder erfolgreich. Die Love Songs sind eine Liebeserklärung an das Leben und könnten der Soundtrack des Sommers werden. Kein Regen in Dubai kann als ironische Abrechnung mit Deutschen (v.a. Influencer:innen) gelesen werden, die während der Pandemie nach Dubai ausgewandert sind, um dort vermeintlich mehr Freiheit zu genießen. Noch mehr Pandemie-Verarbeitung findet in Vergessen wie statt: Nach langem social distancing kann darin endlich wieder getanzt und gefeiert werden. Die für mich größte Überraschung ist der Titel Toscana Fanboys (feat. Adriano Celentano). Genau, der Azzurro-Celentano! Ein Duo, von dem nicht zu erwarten war, dass es jemals zustande kommt. Wie lange es wohl bis zum nächsten Fox-Album dauern wird?

Zukunft Pink (feat. Inéz)

Vergessen wie


3.-9.7.2023: Ausgesucht von Bettina Berlinghoff-Eichler

Giacomo Carissimi, Jephte

Das Musikstück der Woche möchte Sie heute in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts entführen, in eine Zeit, in der im Abstand von nur wenigen Jahrzehnten mit der Oper um 1600 und dem Oratorium um 1640 gleich zwei große vokal-instrumentale Gattungen in Italien ihre Geburtsstunden erlebten. Als bedeutendster Komponist lateinischer Oratorien aus der Mitte des 17. Jahrhunderts wird auch heute noch – vermutlich unberechtigterweise – Giacomo Carissimi (1605–1674) benannt, der beinahe sein ganzes Leben in Rom verbrachte. Dort war er von Dezember 1629 an bis zu seinem Tod als Lehrer am Collegio Germanico u. a. für den Musikunterricht der Alumnen und Chorknaben sowie als Maestro di cappella für die Organisation der Musik an Sant’Apollinare zuständig.

Über die Aufführungsorte der meisten knapp ein Dutzend lateinischen Kompositionen Carissimis, die heute als Oratorien bezeichnet werden, wissen wir nur wenig. Nachweisen lassen sich lediglich zwei Aufführungen im Collegio Germanico 1656 in Anwesenheit Christines von Schweden. Und dass Carissimi im Rahmen seiner Verpflichtungen als Kapellmeister für jeweils eine Freitagsandacht während der Fastenzeit der Jahre 1650 sowie 1658 bis 1660 im Oratorio del Santissimo Crocifisso, einer der Hauptpflegestätten des lateinischen Oratoriums, eigene oratorienartige Werke aufführte, ist sicherlich mehr als wahrscheinlich. Nachdem keine Autographen dieser Stücke erhalten sind, gehen aber nicht nur Gattungsbezeichnungen wie „Oratorio“ oder „Historia“ auf spätere Abschriften überwiegend französischer Provenienz zurück, sondern auch alle Rollenbezeichnungen wie „Historicus“ oder – bezogen auf das hier vorgestellte Werk – „Filia“ oder „Jephte“, wenngleich sich die beiden letzteren natürlich aus dem Inhalt erschließen lassen.

Die auf dem Buch der Richter (Kap. 11,28 ff.) basierende Story dürfte – auch aus anderen Vertonungen des Stoffes – bekannt sein: Der israelitische Feldherr Jephte legt gegenüber Gott das Gelübde ab, im Falle eines Sieges über die Ammoniter dasjenige zu opfern, was ihm bei seiner Rückkehr als erstes begegnet. Unglücklicherweise ist dies jedoch seine über alles geliebte einzige (namenlose) Tochter. Diese erklärt sich bereit, ihr Schicksal anzunehmen, bittet Jephte jedoch, sich mit ihren Gefährtinnen für zwei Monate in die Berge zurückziehen zu dürfen. Mit diesem Zurückziehen endet bei Carissimi der Text, als dessen Autor entweder er selbst oder ein am Collegio Romano tätiger Priester in Frage kommen.

Das von einer Basso continuo-Gruppe begleitete sechsstimmige, auch als Solistentutti eingesetzte Ensemble besteht aus drei Sopranen, darunter die „Filia“, sowie jeweils einer Alt-, Tenor- (Jephte) und Bassstimme. Im Gegensatz zu späteren Oratorien sind die erzählenden Abschnitte noch nicht einer einzigen Stimme, einem „Historicus“ anvertraut, sondern verschiedenen Solisten oder, wie in „Transivit ergo Jephte“, sogar mehrstimmigen Ensembles.

In dem knapp halbstündigen einteiligen Werk lassen sich – der Story entsprechend – auch in musikalischer Hinsicht zwei stark kontrastierende Blöcke mit einem hiermit verbundenen  drastischen Wechsel des Affekts und des Tongeschlechts unterscheiden: Gelübde, Beschreibung des Kriegsgetümmels mit Nachahmung von Trompetengeschmetter in den Singstimmen und mehrteiliger Siegesfeier versus Schock Jephtes beim Anblick der Tochter (beginnend mit „Cum autem victor Jephte“) und unendliche Trauer in einem äußerst emotionalen zweiteiligen Lamento Jephtes bzw. der Tochter und ihrer Gefährtinnen. Vor allem dieser zweite Teil war es, der Athanasius Kircher dermaßen beeindruckte, dass er in seiner 1650 in Rom erschienenen Musurgia universalis Carissmis Jephte-„Dialog“ als ein Musterbeispiel für den Affekt des Schmerzes (Affectus doloris) besprach und das sechsstimmige abschließende Ensemble, in dem die Israeliten zur Trauer um Jephtes Tochter aufgefordert werden („Plorate, filii Israel“), als nachahmenswertes Modell „für die Musica pathetica“ abdruckte.

In der hier empfohlenen Aufnahme, die vor allem in Hinblick auf die Besetzung des Chores sicherlich nicht den Idealen einer historisch informierten Aufführungspraxis entspricht, musizieren das Ensemble Il Giardino Armonico sowie der Chor des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Giovanni Antonini.

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26.6.−2.7.2023: ausgesucht von der Forschungsgruppe Fietsliedjes

Herman van Veen, Fiets (1987)

Der niederländische Singer-Songwriter, Violinist, Schriftsteller, Clown und Schauspieler Herman van Veen (*1945) ist zwar nicht der eigentliche Urheber dieses sehr reizvollen Exemplars aus der Gattung des Fietsliedjes (Fachjargon für „Fahrradlied“), doch brachte er mit dem niederländischen Text und der Instrumentierung der Spätfassung eine besonders authentische Version dieser Komposition hervor, das damit hochqualifiziert ist für das Musikstück der Woche und zugleich durch die englischsprachige Original- und die deutschsprachige Zweitversion (Girl On a Bicycle, Ralph McTell bzw. Kleiner Fratz, Herman van Veen) der breiten Masse zugänglich. Es eignet sich damit auch ganz vorzüglich dafür, die Leserschaft des Musikstücks der Woche an die Gattung des Fietsliedjes heranzuführen, die Gegenstand eines (selbsternannten) hochaktuellen, wissenschaftlichen Diskurses ist.

Herman wählt für seine niederländische Fassung den minimalistischen, doch aussagekräftigen Titel Fiets („Fahrrad“). Während in der früheren Fassung (1970 auf dem Album Morgen) ähnlich wie in der Originalfassung von Ralph McTell (1969 auf dem Album My Side of Your Window) eine verhältnismäßig große Besetzung mit Gitarre und Geigen gewählt wird, ist die Besetzung der Spätfassung (1987 auf dem Album In Vogelvlucht) ähnlich reduziert wie der Titel und beschränkt sich nur auf polyphone elektronische Klänge, die den/die Rezipient:in bereits in der Einleitung in eine verträumte Stimmung versetzt. Der Text, eine Situationsschilderung, die ein kleines, fietsendes (Fachjargon für „radfahrend“, „radelnd“) Mädchen besingt, wird von einer Melodie untermalt, die bei einigen Mitgliedern der Forschungsgruppe eine Schlafliedassoziation hervorrief. Liegt es am wiegenden Dreiertakt und an einem Motiv in der Strophenmelodie, eine mutmaßliche Reminiszenz an das Schlaflied Heidschi-Bumbeidschi? Die Moll-Eintrübung der Melodie unmittelbar nach dem Heidschi-Bumbeidschi-Motiv ist dann nur allzu passend … Ist wohl ein nostalgisches Zurückerinnern des/r Rezipient:in an das Fietsen in Kinderjahren intendiert und mit dem Wiederaufgriff der Strophenmelodie samt Heidschi-Bumbeidschi-Motiv zugleich eine Bestärkung, dass die Liebe zum eigenen Fiets auf ewig bleibt? Nostalgie ist etwas so Schönes und Schlimmes zugleich. Neigt man in besonders akuten Anfällen von Nostalgie nicht dazu sich zu fragen: Wurde sie wohl zu Recht bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts für eine psychische Erkrankung gehalten? Manchmal fällt es doch sehr schwer, hinzunehmen, dass so manches unwiederbringlich vergangen ist – allem voran die unbeschwerte Kindheit, in der man fietste, fiel, aufstand, getröstet wurde und, ohne einen weiteren Gedanken an den gerade erfahrenen Schmerz zu verschwenden, einfach wieder los fietste. Oder wie Herman selbst 2003 in Weimar andeutete: Gerade sitzt man noch als Elternteil auf der Parkbank, beobachtet sein Kind beim fietsen, fallen und weiterfietsen, tröstet zwischendurch oder verteilt Apfelschnitze (denn Fietsen macht hungrig) und dann ist es plötzlich 34 Jahre alt und man fragt sich: Wo ist nur die Zeit hin? Musik vermag dieses Gefühl so besonders (und) präzise auszudrücken …

Wir – die Forschungsgruppe Fietsliedjes – empfehlen dieses Fietsliedje aufrichtig allen, insbesondere denjenigen, die in ihrer Kindheit gerne fietsten! Wir warnen aber zugleich vor den möglicherweise aufkommenden nostalgischen (Ver-)Stimmungen. … und dass uns nun die niederländische Fassung am besten gefällt – liegt es wohl daran, dass das Fietsen eine besondere Bravourleistung der Niederländer:innen ist?

Die empfohlene Spätfassung - Die Frühfassung

Die deutschsprachige Fassung - Die englischsprachige Vorlage


19.–25.6.2023: ausgesucht von Nina Kulig

Die Band I Drive und ihr Platz im Regensburger Kollektivgedächtnis

Die Auswahl des Musikstücks für diese Woche versteht sich in engem Zusammenhang mit der Vorlesung Musikgeschichte im 20. Jahrhundert, die dieses Semester am Institut für Musikwissenschaft gehalten wird. Sie kann als ein kleiner Beitrag zur Geschichte der populären Musik in den 1960er und 1970er Jahren gesehen werden und führt uns nicht nach Großbritannien oder in die USA, sondern nach Bayern, in die Stadt Regensburg. Auch wenn der angloamerikanische Raum als Geburtsstätte der Rockmusik der 1960er Jahre gilt und viele bedeutende Gruppen und Songs hervorgebracht hat, wurde natürlich auch in unserem eher provinziellen, regionalen Kontext sehr bald versucht, diese Musik vor Ort zu spielen, zu adaptieren oder etwas Neues auf der Basis der angloamerikanischen Rockmusik zu kreieren. Während solche lokalen Bands häufig in einer größer dimensionierten Betrachtungsweise aus dem Rahmen fallen, sind sie gerade in lokalen, städtischen Kollektivgedächtnissen noch sehr präsent, aus der jeweiligen Stadtgeschichte nicht wegzudenken und häufig mit bestimmten (Kult-)Orten in der Topographie der Stadt und bestimmten Akteuren verbunden. Denn häufig übernahmen sie wichtige Funktionen für eine Jugend, die Teil dieser populären Kultur sein wollte, von deren großen Ereignissen jedoch oft abgeschnitten war.

Eine solche Band, an die sich alteingesessene Regensburger*innen heute noch gerne erinnern, stellt die britische Gruppe I Drive dar, die lange Zeit in der Bundesrepublik unterwegs war. Die Auftritte dieser Rockband standen im engen Zusammenhang mit dem Tanzlokal „Colosseum“ in Stadtamhof, in dem I Drive als Hausband unzählige Male spielten. In Erzählungen über ihre als besonders lebhaft geschilderten Konzerte werden deswegen Band und Auftrittsort häufig im gleichen Atemzug genannt. Das gilt ebenso für den Pächter des Tanzlokals, Israel Offmann, einem mittlerweile verstorbenen Holocaust-Überlebenden. In einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk aus dem Jahr 2012 erzählte Offmann, was ihn dazu bewog, im Jahre 1962 das Tanzlokal Colosseum zu übernehmen, dessen Räumlichkeiten in der Zeit des Nationalsozialismus sogar als KZ-Außenlager von Flossenbürg benutzt worden waren: „Musik gibt Kraft zum Leben, weil wenn man Musik liebt und Musik hört und sich vertieft in die Musik, dann kann man Kraft schöpfen zum Leben und die Musik lässt vieles vergessen.“ Es war wohl diese bemerkenswerte Einstellung zur Musik und ihre besondere Wirkungsmacht, die Israel Offmann dazu bewegte, das Tanzlokal Colosseum ab 1962 zu einem wahren Musik-Eldorado und Treffpunkt einer rockbegeisterten und alternativen Jugend aufzubauen. Seinem Gespür für gerade angesagte und zeitgenössische Rockbands war es zu verdanken, dass große Namen aus der ganzen Welt im Colosseum für Auftritte engagiert wurden. Doch entdeckte Offmann auf seiner Suche auch immer wieder neue Bands, die beispielsweise bereits Gastspiele im berühmten Star-Club in Hamburg absolviert hatten und nun auf der Suche nach dem Durchbruch waren. Diese versuchte er dann oft, mit monatlichen Engagements im Colosseum gezielt zu fördern.

Zu diesen Bands gehörte auch I Drive. Die Engländer, die sich bis 1968 noch Some Other Guys nannten und seit 1967 mit einem Bus quer durch die Bundesrepublik tourten, wurden ab dem Jahr 1968 bis zur Schließung des Colosseums 1972 für zahlreiche Auftritte engagiert, daneben auch in Straubing in Offmanns zweitem Tanzlokal. Damit gehörte I Drive definitiv zum festen Repertoire der Regensburger Rockmusikszene jener Zeit. Als Höhepunkt dieser Jahre kann ihre einzige, selbstbetitelte Langspielplatte angesehen werden, die 1972 beim Label Metronome veröffentlicht wurde. Neben zwei Singles stellt sie für Menschen, die diese Zeit nicht miterlebt haben und retrospektiv betrachten müssen, das einzige greifbare musikalische Zeugnis dar. Natürlich stellt sich auch die Frage, inwiefern eine Studioaufnahme den Charakter und die Qualität einer Band wiedergeben kann, die es gewohnt war, live vor Ort aufzutreten. Aus Zeitzeugengesprächen mit Besucher*innen solcher Auftritte ist nämlich immer wieder hervorgegangen, wie deutlich wichtiger und auch qualitativ hochwertiger das Live-Konzert, die Nähe zur Rockband, das gemeinsame Erlebnis, die unverwechselbare Atmosphäre im Colosseum gewesen sein muss. Ein besonders häufiger Gast der Konzerte von I Drive betonte immer wieder die Lebhaftigkeit, die Authentizität und die Unmittelbarkeit dieser Konzerte, die auf einer Schallplatte nicht einzufangen seien. Rückschlüsse vom Album auf die Live-Auftritte seien deshalb schwierig. Deswegen verzichte ich hier auf eine musikalische Analyse einzelner Stücke und gebe vielmehr den Berichten der Zeitzeugen Raum, die die Musik auf einer anderen Ebene, die durchaus nicht minder interessant ist, wahrgenommen haben: Das Wort der „Authentizität“, das in den Gesprächen häufiger gefallen ist, bezog sich meist auf die Herkunft der Band und ihre Spielweise. In den Augen der Zeitzeugen beherrschte es I Drive einfach, „authentische“ Rockmusik zu spielen, da sie aus England stammten und allen Kriterien, die man in Regensburg an eine Rockband stellte, entsprachen. Die Auftritte seien mit dem üblichen Rockinstrumentarium gespielt worden, also mit elektrifizierten, lauten Gitarren, einem Schlagzeug und einer elektronischen Orgel, die noch eine echte Handwerkskunst am Instrument verlangt und offenbart hätten (im Gegensatz zu zeitgleichen Entwicklungen wie beispielsweise der Verwendung von Synthesizern). Diese Spielweise, die mir als „ein satter, harter, energiegeladener und ganz unkomplizierter Sound“ geschildert wurde, der weitestgehend auf virtuose Spielereien und Effekte verzichtete, muss für die damalige Jugend sehr ansprechend gewesen sein. Hört man sich die Langspielplatte heute an, wirken diese Beschreibungen ziemlich zutreffend. Weiterhin wurde auch die Rolle des Frontmanns und seiner Gesangsstimme als bedeutend eingeschätzt. Das war in diesem Fall der als charismatisch geschilderte Sänger Geff Harrison, der allerdings kurz vor den Studioaufnahmen aus der Band ausstieg. Ansprechend sei eine sehr emotionsgeladene Stimme, ein dunkler, rauer Ton und der Ausdruck einer ungebremsten „Wildheit“ gewesen. Diesen ungehaltenen, getriebenen Charakter vermitteln auch die einzelnen Studioaufnahmen in ihrer Gesamtheit, zum Reinhören empfehle ich die Nummer Before the Devil auf der A-Seite.

Trotz der großen Beliebtheit im Regensburger Colosseum stiegen I Drive nie in den Rang der international bekannten Rockbands der Siebziger Jahre auf, lediglich Sänger Geff Harrsion erlangte mit seinen nachfolgenden Projekten überregionale Bekanntheit. Bis heute ist I Drive im internationalen und nationalen Vergleich eine eher unbekannte Band geblieben und ihr einziges Album größtenteils in Vergessenheit geraten. Dies gilt jedoch nicht für Regensburg und Umgebung. Dort sind Erinnerungen an I Drive, ihre Auftritte und ihre Musik noch sehr präsent – und wie verschiedene Gespräche ergeben haben – auch heute noch aufs engste mit dem Kult-Ort Colosseum und seinem Pächter, Förderer und Musikliebhaber Israel Offmann verbunden. Dieser Umstand kann als ein schönes Beispiel für funktionierende, lokale Musikgedächtnisse verstanden werden, auch wenn es aus dieser vergangenen Zeit kaum klingende Hinterlassenschaften gibt.

YouTube-Link (Trackliste in der Video-Beschreibung)


12.–18.6.2023: ausgesucht von Gregor Herzfeld

Aufführung des Violinkonzerts in D-Dur op. 77 von Johannes Brahms am 17. April 2023 im Audimax der Universität Regensburg

Musikstück der Woche – das muss ja nicht ein „Musikwerk“ (im engeren Sinne), sondern kann auch eine bestimmte Aufführung davon sein. Die Frage, was ein „Musikstück“ oder, mit etwas mehr Emphase gesagt, ein „Musikwerk“ eigentlich ist, darf ohnehin weiter als ungeklärt (unklärbar?) gelten. Die möglichen Kandidaten bzw. ihre Kombinationen – vom Notentext über Intentionen der Urheber*in bis zur (Re-)Konstruktion der Struktur durch Musikanalytiker und -historiker – schließen jedenfalls auch die Aufführungen und das damit verbundene Hören mit ein. Ich berichte daher in dieser Ausgabe von einem Konzert. Nicht aber, um damit in musikkritischer Manier, die Qualität der Interpretation durch die Musiker zu bewerten, sondern vielmehr, um ein „Erlebnis“ inklusive sich daran anschließender Reflexionen zu schildern. (Dass diese Reflexionen sich mit Gedanken überschneiden, die Carl Dahlhaus in seiner Schrift „Grundlagen der Musikgeschichte“ äußert, ist angesichts meiner Lehrveranstaltung zu diesem Text im aktuellen Semester sicherlich kein Zufall; wobei mir scheint, dass der Zusammenhang nicht einfach nach dem Prinzip „Ursache – Wirkung“ herzustellen ist. Nicht weil ich den Text las, hatte ich das Erlebnis und die anschließenden Reflexionen, sondern die entsprechenden Passagen bei Dahlhaus las ich erst in den Wochen nach dem Konzert und wurden im Licht des Konzerterlebnis besonders lebendig.)

Die Aufführung des Brahms’schen Violinkonzert im Audimax am 17. April 2023 mit Christian Tetzlaff und dem Hamburgischen Staatsorchester unter Kent Nagano war tadellos; nicht nur das: Sie war besonders schön – wunderschön, um vielleicht etwas zu emotional zu sprechen. Insbesondere der zweite Satz glitt hin in makelloser Schönheit, die mir regelrecht den Atem verschlug. Wenn Dahlhaus von einer „ästhetischen Präsenz“ der Musik – er meint Musikkunstwerke im hervorgehobenen Sinne – spricht, dann denkt er vermutlich genau daran: Ein altes Musikstück – hier das vor 125 Jahren erstmals und seitdem unzählige Male aufgeführte Violinkonzert in D-Dur op. 77 von Johannes Brahms – wird wieder einmal aufgeführt und vermag es, Hörer*innen völlig einzunehmen, zu berühren – technischer ausgedrückt: eine ästhetische Erfahrung zu bescheren. Aus der Perspektive der Ästhetik scheinen solche Stücke dann eine nicht an die Geschichte gebundene, sondern überzeitliche, kulturübergreifende Gültigkeit zu besitzen. Deswegen saßen da die Menschen mit mir im Saal (ich war sicherlich einer der Jüngsten unter ihnen, was entweder an der sehr alten Musik oder ihrem extrem hohen Ticketpreis lag – ich hatte die Karte geschenkt bekommen – vermutlich an beidem). Sie wollten sich, aus den vielfältigsten Gründen heraus, jener überdurchschnittlich großen Schönheit in einer überdurchschnittlich guten Wiedergabe hingeben. Als Musikwissenschaftler kann man das natürlich auch. Mehr noch. Ich gehe eigentlich davon aus, dass solche Erlebnisse junge Menschen zu einem Studium der Musikwissenschaft treiben. Doch ach, die deformation professionelle! Denn beim Hören fing ich an, erst mich, dann meine Umgebung zu beobachten. Fragen stellten sich ein: Warum reagierst Du so stark auf die doch sehr alte Form von musikalischer Schönheit? Überzeitlich? Von wegen! Sie stammt aus einer anderen Zeit. Aus einer vergangenen Zeit mit ganz bestimmten Voraussetzungen und Kontexten, die so heute nicht mehr gelten; zum Glück eigentlich, wenn man sich klar macht, dass die Kultur um Brahms herum von weißen Männern dominiert, Ausdruck einer exklusiven imperialistischen Gesellschaft war. So etwas wie Brahms‘ Violinkonzert gibt es heute nicht mehr, außer in dieser Form des performativen Museums, genannt Klassikkonzert. Aber nochmal: Wenn dem so ist, warum spricht es mich jetzt gerade an? Und warum spricht es die anderen so an? Und wer sind die eigentlich? Schau dich um! Hoher Altersdurchschnitt, elegant, small-tallkend, Häppchen und Wein in der Pause schmausend. Kurz: Ich spürte die historische Distanz zur Musik und die soziale zu meiner Umgebung. Eine gewisse Schattierung meines ästhetischen Erlebnisses war die Folge. Wehmut über Zeitgebundenheit und somit Vergänglichkeit der Schönheit, die allenfalls in „Biotopen“ noch überdauert, aber darüber hinaus eine Angelegenheit der Vergangenheit bildet. Ästhetische Präsenz? Ja, aber unter bestimmten, eher musealen Bedingungen, die zudem noch kommerziellen Strukturen unterworfen sind (à propos Ticketpreise).

Was tun? Deswegen diese Musik nicht mehr hören? Klassikkonzerte meiden? Habe ich auch eine Zeitlang gemacht. Und es bleibt ja jedem selbst überlassen. In Gesprächen mit Kommiliton*innen jedoch, die solche Musik kaum kennen oder kennen lernen wollen, die solche Erlebnisse nicht zum Studium motiviert haben, denen folglich Brahms‘ Kunst der Motivableitungen ein bloßes Schulterzucken abgewinnt, verspüre ich oft ein gewisses Unbehagen. Mir stellt sich die Frage nach der „Geschäftsgrundlage“, nach dem wörtlichen Involviert-Sein, nach einer möglichen gemeinsamen Basis des Zugangs zur Musik oder einer Diskussion über ihr Fehlen …
Also: Doch lieber Hingehen zu den Konzerten und die Distanzen und Differenzen, die Spannungen, die Wehmut, aber auch die Schönheit aushalten!

Nachdem es hier weniger um eine konkrete Komposition als um einen Moment der Reflexion ging (den niemand aufzeichnen konnte), drängt sich ein Audio-Link nicht unbedingt auf; eine Aufnahme mit Christian Tetzlaff als Solist und Kent Nagano als Dirigent ließ sich ohnehin nicht auftreiben. Wer dennoch Lust bekommen hat, das Brahms-Konzert mit Tetzlaff als Solist zu hören, sei auf folgende Einspielung verwiesen:

Christian Tetzlaff, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin unter Robin Ticciati (NML)


5.–11.6.2023: ausgesucht von Lukas Fröhlich

Evoken, Antithesis of Light (Antithesis of Light)

Man könnte vieles zu Antithesis of Light schreiben: dass es der Titeltrack des gleichnamigen dritten Albums der amerikanischen Band Evoken ist; dass dieses Album ein Klassiker im Genre des Funeral Doom ist; dass die Ursprünge des Begriffs „Funeral Doom“ unbekannt sind, möglicherweise aber mit der Genrepionier-Band Funeral zu tun haben; dass das Genre seinem Namen durchaus gerecht wird, da es mit seinem fast durchweg langsamen Tempo, dem Verzicht auf technische Klarheit und Virtuosität und dem Fokus auf breite, erdrückende Klangmassen nahezu immer eine triste, düstere Atmosphäre schafft, geprägt von hypnotisch tief dröhnenden Gitarren und unwirklichen ätherischen Keyboard- oder Streicherklängen … Doch all das soll hier nur in Kürze erwähnt sein, denn so interessant all diese Hintergründe sind, so ist es vor allem der wortgewaltige Text dieses Stücks, der mich fasziniert, sowie seine musikalische Umsetzung, die treffender wohl nicht sein könnte. Aus diesem Grund beschränkt sich das Folgende auf einige meiner Gedanken zu ebendiesem Text.

Was also ist nun die titelgebende „Antithese des Lichts“? „Die Dunkelheit“, wäre wohl eine naheliegende Antwort, doch das ist hier nicht gemeint. Dunkelheit ist schließlich nichts weiter, als das Fehlen von Licht, und damit etwas überhaupt erst fehlen kann, muss es an anderer Stelle vorhanden sein. Licht und Dunkelheit gehören zusammen; nur wenn das eine ist, kann auch das andere sein, nur wenn es die Nacht gibt, kann es den Tag geben. Die „Antithese des Lichts“ muss also jenseits unserer Welt aus Licht und Dunkelheit liegen. „Das Nichts“, ist daher womöglich die nächste Idee. Wo das Nichts beginnt, endet das Sein, und damit auch der Zyklus von Licht und Dunkelheit. Doch das Nichts ist nur ein Paradoxon. Die Frage, was das Nichts ist, erübrigt sich, denn das Nichts kann nicht sein – sonst wäre es nicht nichts. Vielmehr ist das Nicht-Sein ebenso wie das Sein nur ein flüchtiger Teil des Zyklus aus Werden und Vergehen, und damit gehören diese beiden ebenso zusammen wie Licht und Dunkelheit. Es bleibt also nur noch eine Lösung; etwas das nicht wird und vergeht: die Ewigkeit. Sie ist die wahre „Antithese des Lichts“, das wahre Nichts. Sie verändert sich nicht, sie endet nicht und sie beginnt nicht, sie lebt nicht und ist nicht tot, weder ist sie, noch ist sie nicht, und sie verschlingt alles: es genügt das Addieren einer noch so kleinen Zahl, um die Null zu eliminieren, doch das Unendliche bleibt auch nach dem Abziehen von Milliarden und unvorstellbar hohen Zahlen immer noch Unendlich. In der Ewigkeit wird alles zu Nichts, versinkt bedeutungslos in ihrer grenzenlosen Leere; sie ist die absolute Negation von allem, das ist. Allein der Gedanke an sie übersteigt unser Vorstellungsvermögen, und könnten wir sie uns doch vorstellen, einen Blick in ihre unendliche Weite werfen, so würde es uns wohl den Verstand kosten. Und so kann auch der Text von Antithesis of Light sich nur überaus eindrucksvoller Metaphern bedienen, um sie zu beschreiben, und überlässt den Rest der Musik. Am Ende steht der Sieg der Ewigkeit, denn auch wenn alles andere endet, kann sie nicht enden und wird immer fortbestehen und alles verschlingen, was ist, wird oder vergeht. Hier aber trennen sich Musik und Text, denn die Musik endet weitaus weniger endgültig, als der Text es vermuten lassen könnte. Sie hält einfach an und verklingt und lässt so den Moment langsam zurückkehren und an die Stelle der Ewigkeit treten. Und nach diesem kurzen, klang- und wortgewaltigen Blick in den bodenlosen, stumpfen Abgrund der Ewigkeit; wie schön ist da doch die Gewissheit, fernab dieses Abgrunds inmitten einer Welt aus Licht und Dunkelheit und Werden und Vergehen zu sein!

Text - YouTube-Link


29.5.–4.6.2023: ausgesucht von Franziska Weigert

Claudio Monteverdi, Lamento della Ninfa (Anna Prohaska)

Oftmals werde ich außerhalb der Musikwissenschaft mit dem Argument konfrontiert, dass man klassische Musik so ungern höre, weil man sie nicht verstünde bzw. zu wenig Ahnung davon habe. Ich kann nachvollziehen, was hinter einer solchen Aussage steckt. Klassische Musik im weitesten Sinne ist immer noch oft von einer elitären Aura umgeben, Konzert- und Theaterhäuser können abschrecken oder einschüchtern, und wer setzt sich schon gerne in ein Symphoniekonzert, wenn man sonst keinerlei Berührungspunkte damit hat. Trotzdem habe ich aber immer ein Gegenargument zur Hand: Man muss Musik – egal welcher Zeit – nicht rational verstehen, muss nicht alle zeitgeschichtlichen oder musiktheoretischen Hintergründe kennen, um ein bereicherndes Hörerlebnis zu haben. Manchmal kann einem die „Analysebrille“ sogar im Weg sein, wenn man einfach nur genießen will. Stattdessen gibt es Themen, Emotionen und Klänge, die zeit- und kulturübergreifend existieren und wirken können. So ist etwa Liebeskummer ein bedauerlich stabiles menschliches Gefühl, das gestern wie heute wie morgen existiert. Ein Beispiel dafür ist das Lamento della Ninfa von Claudio Monteverdi, die „Wehklage der Nymphe“.

Das dreiteilige Madrigal veröffentlichte Monteverdi 1638 in seinen Madrigali guerrieri et amorosi, den „Kriegs- und Liebesmadrigalen“. Im Lamento della Ninfa besingt eine namenlose Nymphe wehklagend ihre verlorenen Geliebten, während drei Hirten sie bemitleiden und die Rahmenhandlung beschreiben. Wie der Erzähler aus dem Off zu Beginn einer romantischen Komödie leiten die Hirten in die Szene ein: „Hier sehen Sie die Nymphe. Seufzend und mit blassem Gesicht zertrampelt sie die Blumen, weil sie ihre Verflossenen beweint.“ Im Basso continuo startet ein in vier Schritten herabsteigender Lamentobass, der die traurige Basis für die nun einsetzende Liebesklage der Nymphe bildet: „Amor, wo ist sie, die Treue, die mir der Verräter schwor?“ Sie fühlt gleichzeitig Verachtung für die Person, die sie verlassen hat, aber auch Sehnsucht in ihr und zeigt damit die unausweichliche Zwiespältigkeit von Liebeskummer. Die Hirten schenken ihr Mitgefühl und werfen wiederholt ein „miserella“ („die Ärmste!“) ein. Nach der Klage beenden sie das Lamento mit einer moralischen Botschaft: „So kommt es, dass Amor in den Herzen Liebender Flammen mit Eis vermischt.“ Eine anrührende 6-minütige Szene, die auch heute noch ihre Wirkung nicht verfehlt.

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22.–28.5.2023: ausgesucht von Michael Braun

Jonny Greenwood, Musik zu Phantom Thread (Paul Thomas Anderson, 2017)

Phantom Thread ist häufig beworben worden als voraussichtlich letzter Film mit Daniel Day-Lewis vor der Kamera. Ist man darüber einmal hinweg gekommen, lässt sich Phantom Thread auch ziemlich treffend als Film toxischer Beziehungen beschreiben. Im Zentrum der Handlung steht jene zwischen dem Modeschöpfer Reynolds Woodcock (Daniel Day-Lewis) und der Kellnerin Alma (Vicky Krieps), die eine Beziehung miteinander eingehen, von der sie aber sehr unterschiedliche Dinge erwarten. Er profitiert von ihr als Muse wie bereits von anderen Frauen vor ihr, sie will sich mit der ihr zugedachten Rolle nicht bescheiden und arbeitet entschlossen gegen die Asymmetrie an.

Die Szene, in der sich beide zum ersten Mal begegnen, ist eine Schlüsselszene der Handlung. Reynolds Woodcock hat soeben einen wichtigen Auftrag erfolgreich abgeschlossen, wir sehen ihn in einem offenbar ländlich gelegenen Hotel, wo er frühstücken möchte. Alma ist eine der Kellnerinnen im Frühstücksraum und nimmt – ihre Blicke haben sich da bereits getroffen – seine Bestellung entgegen. Äußerlich ist diese erste Begegnung der beiden Protagonist:innen also eine ziemlich triviale Szene, transportiert ihre Bedeutsamkeit aber mit ausgesuchter Subtilität. Dazu gleich mehr.

Die Musik zum Film stammt von Jonny Greenwood, der vielleicht besser als Mitglied von Radiohead bekannt ist denn als Komponist von Filmmusik. Seine Soundtracks haben dabei aber nichts von Gelegenheitsarbeiten eines „Fachfremden“; erst vor kurzem war mit The Power of the Dog (Jane Campion, 2021) ein Beispiel dafür in den Kinos und auf Netflix zu sehen. Greenwood hat zu diesem Film eine meiner Meinung nach beeindruckende und originelle Musik geschrieben. Was in Phantom Thread zu hören ist, klingt wiederum ganz anders als dort und belegt Greenwoods große musikalische Bandbreite.

Wer die oben beschriebene Frühstücksszene zum ersten Mal sieht, wird sofort bestätigen können, dass ihr Ende kräftig in Musik getränkt ist. Aber wann hat sie eigentlich eingesetzt? Raffiniert an dieser wichtigen Szene ist, dass die Musik, die wir am Schluss hören, von Anfang an präsent war, nur war sie da noch ohne Weiteres für einen Teil der Geräuschkulisse im Frühstücksraum des Hotels zu halten, gefälliges Klaviergeklimper, das gewissermaßen zufällig und ohne erkennbaren Hintergedanken der filmischen Erzählinstanz von irgendwoher in die erste Begegnung von Reynolds und Alma hineinrieselt („Ah, diegetische Musik“, sagen jetzt Insider:innen). Über den Verlauf der Szene hinweg gerät die Musik mehr und mehr in den Vordergrund, wird harmonisch auffälliger, zunehmend reicher instrumentiert und mutiert vom Hintergrunddetail zu einem engagierten Erzählmittel. Dieses Anwachsen geschieht beinahe zäsurlos und graduell, aber in ein paar wenigen Momenten macht sich dieser Vorgang dennoch subtil bemerkbar, etwa wenn Alma erstmals in Nahaufnahme ins Bild tritt („Good morning …“) und das Klavier mit einer präludierenden, aufsteigenden Akkordfolge zu hören ist, um auch danach noch eine kleine Weile arpeggierend präsent zu bleiben. Hier tritt jetzt auch eine Bläsergruppe hinzu und verstärkt die Spannungswirkung einer angesteuerten Kadenz, die sich auflöst, als Reynolds seine Brille absetzt, um Alma spielerisch herauszufordern („Will you remember?“). In die erreichte Tonika hinein setzt das Klavier, jetzt unterstützt von Bläserklängen, sein gelöstes Spiel fort.

So ziemlich alles an dieser Begegnungsszene ist bezeichnend für die weitere Handlung – insbesondere die vordergründige Dominanz von Reynolds; die Fähigkeit von Alma, dem selbstsicheren Reynolds Momente der Initiative abzutrotzen; ihre selbstbewusste und gleichzeitig fürsorgliche Art, die aus den wenigen Worten auf dem Notizzettel spricht, und dann unbedingt die Tatsache, dass die erste Begegnung der beiden in einem Setting stattfindet, in dem sie ihn mit Essen versorgt. Greenwoods Musik macht dabei scheinbar nicht viel, am Ende aber doch eine ganze Menge, indem sie die Suggestion stützt, dass aus einer banalen Alltagsbegegnung heraus ein außergewöhnlicher Moment entsteht.

YouTube-Link

(Es gibt auch mindestens ein Video auf YouTube, dass die Szene in besserer Bildqualität zeigt, aber später einsetzt und damit nicht die ganze Raffiniertheit preisgibt, die in dieser Szene steckt. Dass das verlinkte Video und mit ihr die Musik etwas abrupt endet, muss leider verschmerzt werden.)


15.–21. Mai 2023: ausgesucht von Simon Hensel

Toby Fox, Musik zum Videospiel Undertale (2015)

Auf den ersten Blick scheint Undertale ein typisches Rollenspiel im Retrostil zu sein, das Nostalgie für japanische Super Nintendo- und Gameboy-Spiele der 90er Jahre weckt. Tatsächlich begann das Projekt von Entwickler, Designer und Komponist Toby Fox als eine Hommage an das kultige EarthBound (1995), entwickelte aber schnell ein Eigenleben und erlangte schon kurz nach seiner Veröffentlichung selbst Kultstatus. Anders als andere Retrospiele appelliert Undertale nicht nur an die Nostalgie der Spielenden, sondern kommt ständig mit Überraschungen und narrativen Twists um die Ecke und spielt letztlich (auf höchst philosophische Weise!) mit den Erwartungen an ein ganzes Genre – wobei die Musik hierzu einen wesentlichen Beitrag leistet. Allen, die das Spiel nicht gespielt haben, aber dies noch tun wollen, würde ich empfehlen, jegliche Art von inhaltlichen Spoilern zu umgehen (von mir sind keine zu befürchten). Den Soundtrack kann man allerdings jederzeit anhören!

Wer wie ich den Chiptune-Sound der 80er- und 90er-Jahre liebt, wird bereits beim Vorspann von Undertale („Once Upon a Time“) die Ohren spitzen. Im Laufe des Spiels wartet Fox mit einer Unmenge an Chiptune-Hits auf, die mir noch lange nach Ende jeder Spielesessions und auch nach Beendigung des ganzen Spiels im Kopf blieben. Aber selbst unter diesen gibt es eine große Bandbreite an Stilen: rockige Tracks wie „Spear of Justice“, „ASGORE“ oder „MEGALOVANIA“, (Elektro )Swing-Nummern wie „Ghost Fight“ oder „Dummy!“, und Anleihen von Disco und EDM in „Another Medium“, „CORE“ und „Death by Glamour“.

Fox bricht aber fast genauso oft mit dieser Ästhetik, um Platz für mehr „akustische“ Elemente in seiner Musik zu machen (auch wenn diese ebenso digital per MIDI eingespielt wurden) und mit musikalischen Erwartungen zu spielen. So erzielt der warme Klang der akustischen Gitarre in „Home“ einen überraschenden und gleichzeitig hochemotionalen Effekt, wenn man sich nach dem Erkunden der doch eher trostlosen Ruinen zu Beginn des Spiels plötzlich in einem liebevoll eingerichteten Zuhause wiederfindet. Ebenso bestärkt das verspielte „Snowdin Town“ das Gefühl, nach dem Durchqueren einer größtenteils unbesiedelten Eislandschaft in einer lebendigen, gastfreundlichen Kleinstadt angekommen zu sein. Eines meiner absoluten Favoriten ist das mysteriös daherkommende, sich langsam zu einem epischen Höhepunkt aufbauende „Waterfall“, das die Unsicherheit beim Betreten einer unbekannten Umgebung begleitet, aber den Spieler*innen gleichzeitig die Entschlossenheit vermittelt, trotz aller Unsicherheit standhaft zu bleiben.

Genauso wirksam wie Fox’ Umgang mit Instrumentierung und Klangfarben ist die thematische Arbeit in der Musik von Undertale. So ist jeder der detailliert gezeichneten Charaktere (nicht im graphischen Sinne) mit eigenen Melodien versehen, die ihnen noch mehr Tiefe und Liebenswürdigkeit verleihen. Aber auch das mit wenigen Tönen auskommende Thema aus „Once Upon a Time“ wird im Laufe des Spiels immer wieder aufgegriffen – wie eine stetige Erinnerung, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. All das macht Undertale zu einem einzigartigen Abenteuer und auch die Musik zu einem eigenständigen Erlebnis.

Hörempfehlung: „Waterfall“, „Dummy!“, „Death by Glamour“, „MEGALOVANIA

Link zum kompletten Soundtrack
Link zu einer tollen Jazzbearbeitung


8.–14.5.2023: ausgesucht von Katelijne Schiltz

Thomas Tallis, O Lord, in thee is all my trust (Ensemble Alamire)

In diesem Semester biete ich nach dreijähriger Pause wieder die Übung „Singen aus alten Handschriften und Drucken“ an. Nachdem kollektives Singen während der Pandemie bekanntlich nicht gerade zu den „risikofreien“ Aktivitäten gehörte, freue ich mich umso mehr, dass das jetzt wieder möglich ist. Musik von Komponisten aus dem sogenannten elisabethanischen Zeitalter – einer künstlerisch, politisch und konfessionell hochspannenden Epoche – stand schon lange auf meiner Wunschliste, und so widmen wir uns geistlicher und weltlicher Musik von drei Mitgliedern der Chapel Royal: Thomas Tallis, Thomas Morley und William Byrd (dessen 400. Todestag wir dieses Jahr gedenken).

Nun arbeiten wir in der Übung zwar überwiegend mit Handschriften und Drucken in unterschiedlichen Formaten, aber Musik wurde manchmal auch auf anderen Medien notiert. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist der um 1568 angefertigte „Eglantine Table“, den man noch heute in der Hardwick Hall, einem Landhaus in England, das der Adlige Bess of Hardwick (1527–1608) Ende des 16. Jahrhunderts bauen ließ, bestaunen kann. Der Tisch, der aus verschiedenen Holzsorten verfertigt wurde (Details und Abbildungen findet man auf der Seite der National Trust Collections), zeigt eine Reihe von Objekten, die im weitesten Sinne ludischer Natur sind und für den häuslichen Zeitvertreib verwendet wurden: Dazu gehören nicht nur Spiele (wie etwa ein Kartenspiel sowie ein Schach- und Backgammonbrett), sondern auch Musikinstrumente und Quellen mit Musiknotation. Zur letztgenannten Kategorie zählt eine Buchrolle, die Musik von Thomas Tallis zeigt: sein vierstimmiges Anthem O Lord, in thee is all my trust. Das Stück ist darüber hinaus auch in mehreren Drucken und Handschriften überliefert, doch die Version auf dem „Eglantine Table“ enthält an einigen Stellen Verzierungen, die man in den anderen Quellen nicht vorfindet.

Ansonsten ist das dreistrophige O Lord, in thee is all my trust durchweg homophon gestaltet. Die kompakte, syllabische Vertonung, das tänzerische Dreiermetrum und die klare Struktur (jede Zeile endet mit einer Kadenz, meistens auf d, manchmal auch a oder f) machen dieses Anthem – hier zu hören in einer Aufnahme mit dem Ensemble Alamire – zu einer äußerst wirkungsvollen Komposition, die nicht zuletzt durch den sich allmählich erweiternden Ambitus der Oberstimme dramatisch geschickt aufgebaut ist und im Gedächtnis haften bleibt.

(Eine hervorragende Publikation zur „Eglantine Table“, welche der Tisch in seinem materiellen, ikonographischen und historischen Kontext untersucht, erschien vor zwei Jahren: Music and Instruments of the Elizabethan Age: The Eglantine Table, hrsg. von Michael Fleming und Christopher Page, Cambridge 2021)

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1.–7.5.2023: ausgesucht von Patrick Ehrich

Hans Zimmer, Journey to the Line (1998) – das „verbotene Stück“

Der nachfolgende Text bezieht sich auf die ersten sechs Minuten der Komposition Journey to the Line von Hans Zimmer. Auf dem Soundtrack zum Film The Thin Red Line ist das Stück fast zehn Minuten lang, die letzten vier Minuten sind aber eigentlich eine selbständige, namenlose Komposition. Bei Live-Auftritten spielt Hans Zimmer Journey to the Line immer nur bis zur sechs-Minuten-Marke.

Hans Zimmers fast 40jährige Karriere als Filmkomponist ist nicht arm an Erfolgen. Seinen Durchbruch erzielte er 1988 mit der Oscar-nominierten Musik zu Rain Main, spätestens aber mit der mehrfach ausgezeichneten Musik zu The Lion King (1994) hatte er sich als einer der zentralen Protagonisten in Hollywoods Filmmusikwelt etabliert. So schien es in mehrerlei Hinsicht ungewöhnlich, als Mitte der 1990er Jahr bekannt wurde, dass Zimmer die Musik für Terrence Malicks The Thin Red Line übernehmen würde.

Malick hatte sich in den 1960 und -70er Jahren einen Ruf als kompromissloser „Autorenfilmer“ erarbeitet, der sich nach einem Zerwürfnis mit seinem damaligen Filmstudio 1978 dann aber vollständig vom Filmgeschäft zurückgezogen hatte. Allein der Umstand, dass dieser nun ins Filmgeschäft zurückkehren würde, stellte Mitte der 90er Jahre bereits eine kleine Sensation dar. Dass aber nun ausgerechnet dieser als exzentrisch verrufene Regisseur den für kommerzielle „Hochglanz-Projekte“ bekannten Hans Zimmer verpflichten würde, ließ zusätzlich aufhorchen.

Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit, der 1998 erschienene Film The Thin Red Line (Der schmale Grat), ist eine eindrucksvolle, aber bisweilen schwer zu ertragende Meditation über Mensch, Natur und Krieg. Er erzählt die Geschichte der Eroberung der Pazifikinsel Guadalcanal durch ein kleines US-amerikanisches Bataillon während des zweiten Weltkriegs. Während des Höhepunkts des Films (ab etwa Minute 100), als es den amerikanischen Soldaten endlich gelingt, die anvisierte japanische Stellung einzunehmen, erklingt Zimmers Komposition Journey to the Line. Dabei spannt die Musik einen fast zehnminütigen Bogen über den Angriff der Amerikaner.

Ungewöhnlich ist dabei zunächst das Verhältnis von Nähe und Distanz. Die Kameras folgenden den Protagonisten in dieser Sequenz physisch sehr eng, quasi „auf Schritt und Tritt“, und durch die schnellen zum Einsatz kommenden Schnittfolgen erlebt man den Kampf um die japanische Stellung als Zuschauer in schonungsloser Härte.

Die Musik hingegen nimmt eine deutlich distanziertere Perspektive ein. Sie schwebt zu Beginn scheinbar schwerelos über der Handlung und kommentiert sie so gut wie nie direkt. Gleichzeitig ist die Musik über viele Minuten hinweg ein einziges sich langsam steigerndes Crescendo, dass die Unerträglichkeit des im Bild Gezeigten trotz allem auf sehr effektive Weise zu unterstreichen vermag. Diese Spannung zwischen Nähe und Distanz auf verschiedenen erzählerischen Ebenen ist typisch für den gesamten Film.
Anders als der ebenfalls im gleichen Jahr erschienene Film Saving Private Ryan (R.: Steven Spielberg) blieb The Thin Red Line trotz seines Starensembles ein großer kommerzieller Erfolg verwehrt. Der Film gilt bis heute eher als Geheimtipp – sein Soundtrack, speziell aber das Stück Journey to the Line, prägten die Filmmusikästhetik in Hollywood über viele Jahre.

Der Grund dafür liegt in der Verwendung von sogenannten „Temp-Tracks“ bei der Filmentstehung: Nach Abschluss der Dreharbeiten setzten sich Regisseur und Cutter zusammen, um einen ersten Rohschnitt eines Films zu erstellen. Zu diesem Zeitpunkt existiert normalerweise noch keine Filmmusik, weil diese erst über die Endfassung des fertigen Films komponiert wird. Damit die Wirkung der zu schneidenden Szenen aber besser erahnt werden kann, legen Cutter und Regisseur bei diesem Arbeitsschritt häufig bereits existierende Musikstücke aus anderen Filmen an den Rohschnitt. Unter Filmkomponisten ist diese Praxis nicht sehr beliebt, denn häufig sehen Regisseur und Cutter die so entstandenen Szenen viele Male mit einer vorläufigen Musik, von der sie sich später nicht mehr trennen können und wollen. Die Filmmusikgeschichte ist voll von Beispielen, bei denen Filmkomponisten mehr oder weniger gezwungen waren, einen bestimmten „Temp-Track“ (temporary track – vorläufiges Musikstück) fast identisch und nahe am Plagiat zu imitieren, weil der Regisseur zwar gerne eine eigene Musik haben wollte, die betreffende Szene in seinem Kopf aber bereits untrennbar mit der vorläufigen Musik verschmolzen war (ein Phänomen, das in Filmmusikkreisen als „Temp-Love“ bezeichnet wird). In den 2000er Jahren erarbeitete sich Hans Zimmers Journey to the Line in Hollywood den Ruf des Musikstücks, das am häufigsten als Temp-Track eingesetzt wurde.

Der Grund dafür scheint darin zu liegen, dass es Zimmer offenbar gelungen ist, Musik zu schreiben, die in so gut wie jedem filmischen Kontext irgendwie funktioniert und jede Szene, bei der sie angewandt wird, in irgendeiner Form bereichert. Weil Journey to the Line scheinbar „überall passt“, wurde es in den Folgejahren auch überall verwendet – bei Filmsoundtracks, bei Musik zu Computerspielen und bei Film-Trailern (wo das Stück lange Zeit als so etwas wie der „Goldstandard“ galt).

Ein Grund hierfür dürfte vermutlich in der oben beschriebenen ungewöhnlichen Mischung aus emotionaler Distanz und sich gleichzeitig immer weiter intensivierender Dramatik liegen. Journey to the Line ist so großflächig strukturiert, dass die Musik immer über der Handlung schwebt. Gleichzeitig gibt es dem oder der Hörer*in durch seine unnachgiebige Steigerung fast keine Chance, sich der Musik emotional zu entziehen.

Ein weiterer Grund für den Erfolg des Stücks dürfte in Zimmers höchst effektivem Minimalismus liegen. Nüchtern betrachtet besteht Journey to the Line aus wenigen musikalischen Bausteinen. Es steht in d-Moll dorisch (Zimmers angeblicher Lieblingstonart, nur weiße Tasten…) und beginnt mit einem pulsierenden, tickenden Geräusch, das möglicherweise einem Synthesizer entstammt, aber später auch noch durch orchestrale Texturen angereichert wird. Darüber legt sich im Anschluss eine zweistimmige Streicherschicht, die fast durchgehend in Terzintervallen die folgende Harmoniefolge umreißt: Dm | F | Am | G | F | Am | G | Em | F | G | D (ohne Terz). Diese Akkordfolge wiederholt sich immer und immer wieder über das gesamte Stück hinweg und wird später nur noch durch ein in jedem Takt auftauchendes dreitöniges, absteigendes Motiv ergänzt. Alles andere an Journey to the Line ist Orchestrierung.
Was aus musikanalytischer musikwissenschaftlicher Perspektive nun vielleicht simpel wirken mag, ist für einen filmischen Einsatz ideal. Denn die Musik beansprucht nicht „zu viel Platz“. Durch die hypnotische Wiederholung des Immergleichen bleibt sie in gewisser Weise vorhersehbar und gibt dem Zuschauer Raum, sich gleichzeitig auf den Film zu konzentrieren.

Letztendlich hat Zimmer mit diesem bewussten Minimalismus eine Filmmusik-Sprache geprägt, die sich klar abhebt von der dichten und dramaturgisch eng am Film geschriebenen Filmmusik des 20. Jahrhunderts. Filmmusik heute ist tendenziell eher „athematisch“ (auch Journey to the Line hat keine wirkliche Melodie, maximal melodische Motive) und lässt akustisch deutlich mehr Raum, als es noch die Soundtracks der 70er, 80er und 90er Jahre taten. Statt von harmonischer und melodischer Dichte ist Journey to the Line, wie viele Filmmusik heute auch, vor allem geprägt von klanglichem Variantenreichtum. Abwechslungsreiche Klangstrukturen, meist erzeugt durch die Verbindung von synthetischen und orchestralen Instrumenten, prägen den „Sound“ des Stücks.

In Zimmers Umkreis gilt Journey to the Line heute angeblich als the forbidden cue – das „verbotene Stück“ –, weil Zimmer, so sagt man, nicht mehr bereit ist an Projekten zu arbeiten, bei denen Journey to the Line als Temp-Track eingesetzt wurde. Der Grund liegt wohl darin, dass selbst Zimmer sein eigenes Stück inzwischen schon mehrfach plagiieren musste.

Journey to the Line (Originalversion)
Journey to the Line (Live-Version)

Stücke, die mehr oder weniger klar Journey to the Line als Referenz verwenden:
Tennessee“ (aus dem Film Pearl Harbour, Musik: Hans Zimmer)
„Time“ (aus dem Film Inception, Musik: Hans Zimmer)
Safe Now“ (aus dem Film Captain Phillips, Musik: Henry Jackman)


24.–30.4.2023: ausgesucht von Emily Martin

Carl Philipp Emanuel Bach, Doppelkonzert für Hammerklavier und Cembalo in Es-Dur (Ars Lyrica Houston)

Mit der Entwicklung des Hammerklaviers gelang dem italienischen Instrumentenbauer Bartolomeo Cristofori in den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts eine bahnbrechende Neuerung. Anders als beim zu dieser Zeit dominierenden Tasteninstrument – dem Cembalo, dessen Töne durch das Anreißen der Saiten mit einem Kiel erzeugt wurden – schlugen nun Hämmerchen die Saiten an. Die Hammermechanik ermöglichte dem Spielenden, was auf anderen Instrumenten dieser Zeit bereits üblich, auf dem Cembalo und anderen Tasteninstrument bis dato jedoch nicht möglich war: die Erzeugung verschiedener Lautstärken und damit einhergehend eine differenzierte Gestaltung der Dynamik. Da auf dem Hammerklavier demnach sowohl forte als auch piano gespielt werden konnte, erlangte es auch unter Bezeichnungen wie „Pianoforte“ oder „Fortepiano“ Bekanntheit. Die neuen Möglichkeiten, welche mit dieser revolutionären Art der Tonerzeugung für das Tasteninstrument aufkamen, hatten wesentlichen Einfluss auf die in der Folgezeit und bis heute entstandenen Kompositionen.

Dass die Erfindung des Hammerklaviers seinerzeit zu einer schlagartigen Revolution der Klaviermusik geführt hat, kann dennoch nicht behauptet werden. Denn fast ein ganzes Jahrhundert lang waren die beiden Instrumente gleichermaßen verbreitet. Erst mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert konnte sich das Hammerklavier endgültig gegenüber dem Cembalo durchsetzen. Dass die beiden Instrumente gemeinsam auf Titelblättern erscheinen, stellt vor allem bei Drucken aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts keine Seltenheit dar. Denn je nach individueller Verfügbarkeit sollte es den Ausführenden dieser Zeit selbst überlassen sein, ob sie das entsprechende Werk auf dem altbewährten Cembalo oder dem neuen Hammerklavier spielten.

Aus ebendieser Zeit, in der Cembalo und Hammerklavier parallel nebeneinander bestanden, stammt das 1788 von Carl Philipp Emanuel Bach komponierte Doppelkonzert für Hammerklavier und Cembalo in Es-Dur (Wq 47 / H 479). Den Ausführenden dieses Werkes war es jedoch ausnahmsweise nicht frei gestellt, sich für eines der beiden Instrumente zu entscheiden. In der Partitur des Doppelkonzerts verlangt C. P. E. Bach explizit die Kombination der beiden Tasteninstrumente, wenn er das eine Soloinstrument als „Flügel“, das andere als „Forte piano“ bezeichnet. Indem in diesem Doppelkonzert das „alte“, aber lange Zeit vorherrschende Cembalo unmittelbar mit dem „neuen“ Hammerklavier zusammentrifft, ergibt sich ein für die Geschichte des Klaviers besonders interessanter Fall. Dass die beiden Instrumente in diesem Doppelkonzert als ebenbürtige Solisten auftreten und ganz im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des „Konzerts“ sowohl wetteifern als auch zusammenwirken, verweist besonders eindrücklich auf die Konkurrenz bei gleichzeitig enger Verwandtschaft dieser beiden Tasteninstrumente.

Indem C. P. E. Bach die Partien der beiden Tasteninstrumente aus kompositionstechnischer Hinsicht nicht unterschiedlich behandelt – von den neuen dynamischen Möglichkeiten des Hammerklaviers machte er in diesem Konzert keinen Gebrauch – kommt es dazu, dass die beiden Solisten des Doppelkonzerts völlig gleichwertig auftreten. Beide Instrumente sind mit ausgewogenen Anteilen am Konzert beteiligt, wobei Cembalo und Hammerklavier sowohl mit solistischen Passagen als auch im unisono erklingen. Wenn sich die Solisten imitieren oder gegenseitig ihre Phrasen ergänzen, sorgt nicht nur die unmittelbare Konfrontation der beiden doch recht unterschiedlichen Klänge für einen besonders reizvollen Effekt. Indem das Konzert gleichermaßen von Cembalo und Hammerklavier getragen wird und vor allem von der Kombination der beiden Instrumente lebt, wird besonders schön veranschaulicht, dass sich „Altes“ und „Neues“ nicht immer ausschließen müssen, sondern durchaus in ansprechender Weise in Einklang gebracht werden können.

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17.–23.4.2023: ausgesucht von Angelina Sowa

Barbara, Göttingen

„Es kommt für mich überhaupt nicht in Frage, nach Deutschland zu gehen, um dort zu singen!“

Mit diesen Worten erinnert sich die französische Sängerin Barbara (1930–1997) an ihre erste Konzerteinladung in das von ihr missbilligte Deutschland. Nicht einmal 20 Jahre waren bis zu diesem Zeitpunkt vergangen, seitdem die vollständige Kapitulation der deutschen Wehrmacht dem Zweiten Weltkrieg in Europa ein Ende gesetzt hatte. Das internationale Bild von den Deutschen hatte sich da bereits für immer verändert. So blickte neben vielen anderen auch die jüdische Sängerin noch stets mit Misstrauen auf das ‚Land der Täter‘, welches sie und ihre Familie schon in jungen Jahren zu einer Flucht vor den Nationalsozialisten gezwungen hatte. Empört über die Gräueltaten des Krieges, von denen sie selbst Zeugin geworden war, distanzierte sich Barbara zunehmend von dem von ihr verachteten Land. Es ist also durchaus kein Wunder, dass sie auf eine Konzerteinladung nach Göttingen im Juli 1964 ablehnend reagierte. Kategorisch weigerte sich die Sängerin das Gastspiel in der Universitätsstadt zu geben und beteuerte mit Nachdruck ihre Abneigung gegenüber den Deutschen.

Vielleicht fragen Sie sich an dieser Stelle nun zu Recht, weshalb ich für den Auftakt des Musikstücks der Woche ausgerechnet das Werk einer Sängerin gewählt habe, die aus tiefer Überzeugung und Antipathie ein Konzert in unserem Land verweigerte. Einige mögen die Entscheidung Barbaras dabei nur allzu gut nachvollziehen können, während andere auch ihr gegenüber eine ablehnende Haltung einnehmen dürften. So könnten wir den Charakter der Sängerin bis zu diesem Zeitpunkt als arrogant, voreingenommen oder vielleicht auch nur als zutiefst verletzt einstufen und vor dem Hintergrund ihrer Geschichte eventuell selbst eine sympathisierende oder ablehnende Haltung ihr gegenüber einnehmen. Fakt ist jedoch, dass wir uns nur allzu oft ein vorschnelles Urteil über andere erlauben und damit Diskriminierungen und Feindseligkeiten einen Raum geben. Es wird also Zeit, die Geschichte des Chansons weiterzuerzählen, die mit der Absage des Konzerts überhaupt erst begonnen hatte: War die Sängerin nämlich fest dazu entschlossen, das Gastspiel in Deutschland nicht zu geben, so ist es vermutlich den Überredungskünsten Hans-Günther Kleins geschuldet, dass sie das Konzert nur wenig später unter Vorbehalten doch zusagte. Man kann sich die Gemütslage Barbaras demnach nur allzu gut vorstellen, als sie im Juli 1964 voller Bedenken in Göttingen ankam. Was sie dort jedoch erlebte und wahrnahm, war nicht die Feindseligkeit eines ihr fremd erscheinenden Publikums, sondern Herzlichkeit und Enthusiasmus, mit dem sie von den Zuhörenden empfangen wurde. Nicht eine zerfallene, vom Krieg gezeichnete Stadt begegnete ihr während des Konzertaufenthalts, sondern „wunderschöne Rosen“ (Göttingen, 3. Strophe), welche sie auch in Paris nie schöner gesehen hatte. So verwundert es nicht, wenn die Sängerin allen Vorurteilen zum Trotz noch am selben Abend ihren Aufenthalt in Göttingen verlängerte und die unerwartet positiven Erfahrungen mit der Stadt in einem gleichnamigen Chanson zusammentrug. Als Hymne der Versöhnung und Ausdruck der Vergebung gilt ihr Lied noch heute als bedeutsames Zeichen für die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich und steht par excellence für die Verständigung zwischen den beiden Ländern.

Es ist also der tiefe Wunsch nach Versöhnung, die aufrichtige Bereitschaft zu verzeihen und schließlich die Fähigkeit, eingefahrene Muster und Vorurteile zu hinterfragen, die mich dazu bewogen haben, dieses Musikstück vorzustellen. In einer Welt, in der selbst der Frieden keine Selbstverständlichkeit mehr erscheint, erinnern uns Lieder wie dieses an die Notwendigkeit des Vergebens und vergegenwärtigen auch noch lange nach ihrer Entstehung die Bedeutung gegenseitiger Verständigung. Dass es sich dabei keineswegs um ein Vergessen von Vergangenem handelt, macht Barbara wiederum in ihren Memoiren – welche im Jahre 1998 posthum erschienen sind – deutlich. Vielmehr ist es der tiefe Wunsch nach Aussöhnung, der in dem Lied so unzweideutig mitschwingt und der es für mich gerade vor dem Hintergrund der aktuellen, weltpolitischen Ereignisse so wertvoll macht.

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Wintersemester 2022/23

6.–12.2.2023: ausgesucht von Gregor Herzfeld

Charles Edward Ives, The Pond (Remembrance), 1906 (instrumental) /1921 (in: 114 Songs)

George Ives, der Vater des amerikanischen Komponisten Charles Edward Ives, war ein nebenberuflicher, aber dafür umso passionierterer Musiker. Er diente im amerikanischen Bürgerkrieg den Truppen der Nordstaaten als Leiter einer Marching Band, womit er zu einiger Bekanntheit gelangte. Darüber hinaus war er ein exzeptioneller Experimentator mit Musik und Klang; er experimentierte mit Heterophonie, Vierteltönen und Klängen, die von unterschiedlichen Quellen des landschaftlichen Raums ausgingen. Von ihm – darüber sind sich die Ives-Forscher einig – hat Charles Ives seinen Hang zum Experimentieren erlernt und übernommen. Er war vermutlich sein wichtigster musikalischer Lehrer. Als George Ives 1894 starb, war Charles gerade 20 Jahre jung, und der Tod löste ein Trauma aus, dessen Bewältigung ihn sein gesamtes Leben beschäftigte. Dies schlug sich auch auf Ives’ musikalische Produktion nieder. Er machte es sich zur Aufgabe, gewissermaßen das musikalische Erbe seines Vaters fortzuführen, was direkt an den Kompositionen abzulesen oder -hören ist. Denn  – damit verbunden – er wählte Themen, Klänge und Kompositionstechniken, die an seinen Vater erinnern.

Das vielleicht in seiner Zartheit und radikalen Kürze von nur neun Takten eindrucksvollste Beispiel ist das kammermusikalische Instrumentalstück mit dem verräterischen Titel Remembrance von 1906 inklusive seiner Bearbeitung zum Song fünfzehn Jahre später. Es dient sowohl der Linderung des Trauerschmerzes als auch der Erinnerung, dem Gedenken, wodurch das Stück exemplarisch für das Gesamtschaffen Ives’ zum musikalischen Erinnerungshort des Komponisten wird – die Musik erzählt von dieser Erinnerung und führt uns zugleich den Prozess des Erinnerns vor als zeitliche Folge von klanglichen Ereignissen. Da sich der Komponist als Erzähler durch Musik an Musik oder zumindest an Klang erinnert, wird dieses Stück zum Sinnbild der Erinnerung oder des Erinnerns selbst. Sie kann das, was nicht eigentlich musikalisch ist an der Erinnerung – ein Mensch, seine Handlungen, die Beziehung zu ihm – aufrufen, da sie zeichenhaft darauf verweist.

Am Schluss der Komposition steht ein Militärsignal, nämlich die ersten Töne von Taps, das als amerikanischer Zapfenstreich den Tag und häufig auch das Leben eines Soldaten beschließt, indem es zur Beerdigung gespielt wird. Es steht somit in Verbindung zum Militär, zum Tod, zum Gedenken. Kenner*innen von Ives’ Biografie wissen erstens, dass sein Vater George Musiksoldat im amerikanischen Bürgerkrieg, und zweitens, dass dessen Instrument die Trompete war. Im Kontext dieses Wissens erzählt die Geschichte davon, dass am Ende des Stücks des Vaters, der offenbar tot ist, gedacht wird. Daher der Titel Remembrance und der später dazu gedichtete Liedtext: „A sound of a distant horn, O’er shadowed lake is borne, my father’s song“. Wie kommt es nun aber zu dieser Erinnerung? In welchem Verhältnis steht das finale Gedenken zu den Geschehnissen davor? Zuvor ist die kurze Komposition von Echowirkungen geprägt, die „Sounds of a distant horn, over shadowed lake“. Diese können, auch wenn sie hier artifiziell gestaltet werden, dem Bereich der akustischen Naturerscheinungen, der musica naturalis zugeordnet werden. Sie entstammen somit genau jener Sphäre, in welcher George Ives sich gern betätigte. Von ihm ist beispielsweise überliefert, dass er mit dem Klang zweier aufeinander zu laufender Marching Bands experimentierte, dass ihn der unkoordinierte Klang mehrerer simultan erklingender Kirchenglocken interessierte etc. Für Ives war sein Vater – wie gesagt – ein musikalischer Experimentator, der Experimentator im Bereich der Akustik, der ihn zu seinen eigenen Experimenten anspornte. Das Motto der Komposition Remembrance von William Wordsworth: „The music in my heart I bore / Long after it was heard no more“ spricht das zentrale Motiv aus, dass Musik lange, nachdem sie verklungen ist, noch im Herzen, also als Erinnerung und geistiges Vermächtnis, weitergetragen wird und – so darf man ergänzen – dort einen besonderen Ort, eine spezielle, persönliche Bedeutung einnimmt; sicherlich eine höchst subjektive, private Bedeutung, zu deren Entzifferung und insofern auch Teilhabe der Komponist dem Notentext diverse Paratexte beifügt (die sich wiederum mit anderen seiner Kompositionen zu einem intertextuellen Geflecht erweitern).

Naxos Music Library (Song) - Naxos Music Library (Kammerensemble) -
Naxos Music Library (Großes Orchester)


30.1.-5.2.2023: ausgesucht von Nina Kulig

The Electric Prunes, Mass in F Minor (1968)

Als das Institut für Musikwissenschaft der Universität Regensburg dieses Wintersemester zusätzlich zum bestehenden Schwerpunkt der älteren Musikgeschichte auch die neuere und populäre Musik stärker integrierte, musste ich unwillkürlich an eine Symbiose der klassischen und populären Musik aus dem Jahre 1968 denken. In diesem Jahr veröffentlichte die kalifornische Psychedelic-Rockband „The Electric Prunes“ beim Label Reprise Records eine groß angelegte Rock-Messe mit dem Titel Mass in F Minor.

Damit fällt die Veröffentlichung der Mass in F Minor genau in jene Zeit, in der speziell Rockmusiker immer mehr mit einer Annäherung an die traditionelle europäische Kunstmusik oder Kirchenmusik experimentierten, um auch ihrer Musik Kunststatus zu verleihen und als anspruchsvoll und progressiv wahrgenommen zu werden. Die Art und Weise der Annäherung oder Verbindung konnte in den späten 60ern und 70ern ganz unterschiedliche Formen annehmen, die Rock-Messe in f-Moll ist nur ein Beispiel hierfür.

Gegründet im Jahre 1966, waren die Electric Prunes bis zum Erscheinen der Messe für ihre Mischung aus Psychedelic Rock und hartem Beat bekannt. Dieser Ursprung hat natürlich auch deutliche Spuren in der Messe hinterlassen.

Die Entstehung der Mass in F Minor ist schließlich in Zusammenarbeit mit dem Komponisten David Axelrod und dem damaligen Produzenten Dave Hassinger zu sehen, wobei sich Axelrod alleine für die Kompositionen und das Arrangement verantwortlich zeichnete. Studiomusiker unterstützten die Schallplattenaufnahmen, und das gewöhnliche Rockinstrumentarium wurde um Blechbläser und verschiedene elektronische Tasteninstrumente erweitert, was zu dem vollen und vielfältigen Klangbild beiträgt und die Komplexität unterstreicht. Vertont wurde das komplette lateinisch-griechische Messordinarium bestehend aus Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei. Die Besetzung der Instrumentalisten und Gesangsstimmen wechselt von Teil zu Teil, wobei die einzelnen Messteile untereinander nicht verbunden sind. Mit der lateinischen Messe bedienten sich die Electric Prunes einer uralten und traditionsreichen Gattung der Musikgeschichte, die ihre Anfänge bereits im Mittelalter hatte und im Lauf der Zeit verschiedene Entwicklungen erlebte. Ob ein- oder mehrstimmig, auf Vokalisten beschränkt oder um Instrumente erweitert, es scheint auf jeden Fall, dass auch David Axelrod und die Electric Prunes versuchten, verschiedenste Elemente aus der Musikgeschichte mitaufzunehmen und in ihrem eigenen Stil umzusetzen.

So erinnern die kurzen einstimmigen Passagen, die ohne instrumentale Begleitung gesungen werden, besonders im Kyrie an die Tradition des Gregorianischen Chorals. Solche kurzen einstimmigen Passagen, in denen die Instrumente komplett schweigen, sind in der Messe immer wieder zu finden und können als Ruhepunkte wahrgenommen werden, in denen der Textvortrag im Vordergrund steht. Das Gloria wiederum ist, entsprechend einer alten Konvention, deutlich feierlicher gestaltet. Hier werden die Anfangsworte des Gloria wie eine Fanfare über die Musik hinweggeschmettert. Die klare und verständliche Deklamation der Anfangsworte lässt sich in jedem Teil der Messe ausmachen. Die einzelnen Teile werden meist von einer elektronischen Orgel eingeleitet, bevor sich die Musik entwickelt und in einen deutlich längeren, rein instrumentalen Teil übergeht. In diesen instrumentalen Passagen übernehmen dann die Elemente der Rockmusik die Führung, und der psychedelische Einfluss kommt zum Tragen. Eindeutig dominieren hier die Soloinstrumente, vorzugsweise die elektrisch verstärkte Gitarre samt experimenteller und virtuoser Behandlung. Auch das Gebot von Spannungsaufbau und Entspannung wird beachtet, beispielsweise durch Abwechslung der Dynamik und Kontraste in der beteiligten Besetzung. Besonders Momente der musikalischen Steigerung wurden von der Band gelungen umgesetzt. Ein toller musikalischer Höhepunkt wurde gegen Ende des Gloria platziert. Im ganz erhaben beginnenden Credo ist besonders schön zu hören, wie sich eine schneidende Solo-Gitarre behauptet, während der Rest der Besetzung inklusive Bläser das Motiv im Hintergrund spielt. Doch die schönste solistische Einlage ist im Benedictus zu entdecken, die improvisatorisch anmutet und sich zwischen elektrischer Gitarre und dem für diese Zeit ganz charakteristischen Fender Rhodes Piano entwickelt. Mit dem wieder feierlichen und majestätischen Agnus Dei wird die komplex angelegte Messe dann nach einer knappen halben Stunde schließlich abgerundet. Somit könnte – je nach Maßstab – von einer Kurzmesse gesprochen werden, die trotz dieser kurzen Zeit eine prächtige und abwechslungsreiche Vielfalt entstehen lässt.

Damit ist die Mass in F Minor meines Erachtens einer der gelungensten Beweise, dass es möglich ist, eine uralte Gattung wie die Messe mit der damals zeitgenössischen Rockmusik und ihren Elementen zu verbinden. Schade ist es nur, dass sich die Schallplatte zum Zeitpunkt ihres Erscheinens kaum besonderer Beliebtheit erfreute und auch heute noch ziemlich unbekannt ist. Ein Grund mehr, die Mass in F Minor im Musikstück der Woche des Instituts für Musikwissenschaft vorzustellen!

YouTube-Link zur Playlist mit allen Messteilen


23.-29.1.2023: ausgesucht von Isa Fallenbacher

Cäthe, „Unter meiner Haut“ (Album Ich muss gar nichts, 2011)

Cäthes Musik begleitet mich inzwischen seit über zehn Jahren. Mit ihrer unkonventionellen und kantigen Art, Texte und Musik zu kreieren, sind vier sehr unterschiedliche Alben entstanden, die mich je nach Laune durch den Tag begleiten. Obwohl ich in meinem Berufsalltag eigentlich rund um die Uhr von unterschiedlichster Musik umgeben bin, ist ihre Musik das, was ich dann an meinem Feierabend trotzdem auch noch hören will. Über die Jahre ist ihre Musik ein Zuhause für mich geworden, das mir Sicherheit und ein Wohlgefühl gibt, egal wo ich bin. Sie lässt mich aufhören zu denken und erlaubt mir, einfach zu sein. Nur einen Song aus ihrem Schaffen auszuwählen, der sie und ihre Musik repräsentiert, scheint mir fast unmöglich, da sie so viele musikalische Facetten abdeckt. Während sie mit ihrem ersten Album ein rotziges Ich muss gar nichts in die Welt schreit, ist ihr letztes Album Chill Out Punk mit seinen Disco- und Electro Funk-Vibes die perfekte Musik, um tanzend in den Tag zu starten. Und auch ihren anderen beiden Alben Verschollenes Tier und Vagabund haben ganz eigene Töne. Was sich als roter Faden durch ihre Musik zieht, sind ihre eigensinnigen Texte und ihre spielerische und mutige Art, akustische und elektronische Elemente bunt zusammen zu werfen und zu einer neuen Einheit zu verbinden. Generell kann ich nur dazu ermutigen, sich einmal querbeet durch ihre Musik durchzuhören und habe deshalb als konkreten Song „Unter meine Haut“ ausgewählt – den ersten Song ihres ersten Albums, mit dem alles begann. 2022 veröffentlichte sie mit Lügen ist scheiße auch ein Buch über ihren Musik- und Lebensweg, das dieses Jahr in einer Lesereise erlebbar gemacht werden soll. Wer ihre Musik live erleben möchte, hat außerdem am 25. Mai 2023 im Milla Live-Club in München die nächste Chance dazu.

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16.–22.1.2023: ausgesucht von Simon Hensel

Lingua Ignota, Sinner Get Ready (2021)

Inhaltswarnung: Besprechung von Missbrauch und Gewalt

Die Amerikanerin Kristin Hayter tritt erst seit einigen Jahren als Lingua Ignota (benannt nach der von Hildegard von Bingen konstruierten Sprache!) auf und veröffentlichte unter diesem Namen vier EPs und vier Alben. Ende des letzten Jahres kündigte Hayter dann an, dass sie in diesem Jahr ihre Karriere als Lingua Ignota beenden und sich neuen Projekten widmen wolle. Die Darbietungen ihrer bisherigen Musik, in der sie sich bewusst mit ihren persönlichen Erfahrungen als Opfer von physischem wie psychologischem Missbrauch auseinandersetzte, wurden zunehmend emotional und körperlich belastend für sie.

Diese emotionalen Performances finden sich auch auf Sinner Get Ready wieder und zogen mich sofort in ihren Bann. Gleichzeitig ist das Album deutlich zugänglicher als Lingua Ignotas vorangehende Veröffentlichungen, auf denen die akustischen Darstellungen von Gewalt auch die Zuhörer*innen viel Kraft kosteten (z. B. Caligula, 2019). Auf Sinner Get Ready finden zwar immer noch gewaltvolle Auseinandersetzungen statt – meistens mit Gott höchstpersönlich –, diese beschränken sich aber größtenteils auf den Anfang des Albums. Ich empfehle daher allen, die diese überspringen wollen, beim Anhören mit dem vierten Track „Pennsylvania Furnace“ zu beginnen.

Wie der Titel des Albums vermuten lässt, setzt sich Hayter auf Sinner Get Ready mit ihrem eigenen Glauben und einem dezidiert amerikanischen Christentum auseinander. Die klassisch ausgebildete Sängerin und Multiinstrumentalistin, die in ihrer Jugend ebenfalls kirchenmusikalische Erfahrungen sammelte, lässt in diesem Zuge verschiedene Arten liturgischer Musik in ihren Stil einfließen, der bis dahin von einer Mischung aus elektronischer Musik (vor allem Noise und Industrial), Kompositions- und Orchestrierungstechniken der ‚klassischen‘ und Neuen Musik, sowie der Ästhetik und den gutturalen Gesangstechniken des Metals geprägt war. Eine weitere Besonderheit der Musik von Sinner Get Ready ist eine gewisse ‚volkstümliche‘ Note, die dadurch zu Stande kam, dass Hayter sich im Vorfeld mit der traditionellen Musik der Appalachen beschäftigt hatte. Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Einflüsse treffen auf Sinner Get Ready u. a. kontemplative Klavierakkorde, lamentierender Gesang, tiefe Drones, Choräle, Minimal Music, clusterartige Stimmüberlagerungen und ein Banjo aufeinander. Dabei ist das Album so produziert, dass die Nuancen der einzelnen Klänge und Instrumente trotz einem stimmigen Gesamtklang immer klar hörbar bleiben. Zusammengehalten wird die Musik jedoch ebenso von Hayter selbst, die nicht nur durch ihre Texte, sondern noch stärker durch ihre Stimme die Zuhörer*innen am Durchleben ihrer religiösen Katharsis teilhaben lässt. Sinner Get Ready ist dadurch verständlicherweise keine leichte Kost, aber dafür ein einzigartiges, emotionales Hörerlebnis, wenn man sich darauf einlässt.  

Hörempfehlung: „Pennsylvania Furnace“, „Repent Now Confess Now“ & „Man Is Like A Spring Flower“

Link zu den Tracks des kompletten Albums


9.–15.1.2023: ausgesucht von Lukas Fröhlich

Igorrr, Cheval (Savage Sinusoid)

Als ich zum ersten Mal von „Igorrr“ gehört habe, dachte ich zunächst an einen etwas klischeehaften Russen, der in seiner selbstgebauten Holzhütte inmitten der sibirischen Tundra bei angenehmen -30° C den düstersten Black Metal aller Zeiten aufnimmt. Tatsächlich aber ist das nicht der Fall. Igorrr ist Franzose, heißt mit bürgerlichem Namen Gautier Serre und ist Komponist und Multiinstrumentalist – sein Lieblingsinstrument ist nach eigener Aussage das Huhn, und in der Tat war sein inzwischen verstorbenes Haushuhn Patrick sogar des Klavierspiels mächtig (sofern sich Futter auf den Tasten befand). Ein Black Metal-Musiker ist er allerdings nicht. Was er stattdessen ist, lässt sich gar nicht so leicht sagen… Am Beginn von Cheval ahnt man wohl noch nichts Böses, man fragt sich höchstens, wieso der verpasste Einsatz des Schlagzeugs und das anschließende nochmalige Beginnen in der fertigen Aufnahme des Stücks belassen wurden, doch wirkt das melodietragende Akkordeon noch relativ unschuldig. Dann kommt der Gesang, mit dem sich das Stück in eine Richtung entwickelt, mit der man vermutlich gar nicht gerechnet hätte, bis plötzlich und wieder völlig unerwartet über wunderschönem Mandolinentremolo ein kleines Gesangsensemble einsetzt, mit den wortgewaltigen Versen: „Ön mëä lëï / Kä lä mëä lëä / Mör të lï ö dä / Cö nä s gärm lä.“ Spätestens an dieser Stelle fragt man sich wohl, was man da eigentlich hört. Die beste Erklärung ist vermutlich die, die der Künstler selbst auf seiner Website gibt: „I just want to make the music I love, without asking myself if it’s gonna be too complex or too far from what people like. I want to make the music which has sense to me, with no restrictions, like a big party with metalheads, electronic nerds, classical and baroque-heads and gypsy violinists getting drunk and joining together to bring the best of every genre.” Als Haupteinflüsse für diese Musik werden „Meshuggah, Chopin, Cannibal Corpse, Bach, Domenico Scarlatti, Taraf de Haidouks and Aphex Twin“ aufgezählt. Darüber hinaus ist Igorrr Synästhet und erklärt in mehreren Interviews, dass er seine Musik oft komponiert, indem er gedanklich vorgestellte Bilder vertont. Diese Herangehensweise erklärt das bunte, scheinbar chaotische Durcheinander von Musikstilen und die damit verbundene Unvorhersehbarkeit der Musik, und tatsächlich ist Cheval in dieser Hinsicht noch ein relativ harmloses Beispiel. Warum dieses Stück „Cheval“ heißt und wovon der Text handelt, ist, wie bei allen anderen Stücken Igorrrs, völlig unklar. Die Sprache der Texte, deren ungewöhnliches Erscheinungsbild bereits in oben zitierten Versen ersichtlich geworden sein dürfte, heißt „Öxxö Xööx“ und ist die Erfindung einer Band gleichen Namens. Igorrr ist Mitglied dieser Band, ebenso Laurent Lunoir und Laure Le Prunenec, deren Gesang wir auch in Cheval hören können. Zwar gibt es durchaus wörterbuchartige Übersichten zu dieser Sprache, doch da viele der Wörter zahlreiche verschiedene Bedeutungen haben können und über die Grammatik der Sprache nur wenig bekannt ist, ist es äußerst schwer, die Bedeutung zu entschlüsseln (hier als Beispiel ein Übersetzungsversuch von Cheval ins Englische ). Letztendlich ist es bei Igorrrs Musik also wenig zielführend, nach dem Warum zu fragen. Aber wie ein Klick auf den folgenden Link hoffentlich bestätigen wird, tut es dem Genuss keinen Abbruch, wenn diese Frage unbeantwortet bleibt.

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19.–25.12.2022: ausgesucht von Michael Braun

Max Reger, Schlaf‘, mein Kindelein (Calmus Ensemble) - Gloria Shayne / Noël Regney, Do You Hear What I Hear? (Harry Simeone Chorale)

Weihnachtslieder haben etwas Zauberhaftes, nicht wahr? Gut, das mag nicht für alle gelten, nicht zu jedem Zeitpunkt, nicht unabhängig von der Sättigung, mit der sie unsere alltägliche Soundscape bevölkern. Aber sie können eben doch diesen unvergleichlichen Zauber entfalten, beim gemeinsamen Singen im Chor (neulich, letzten Dienstagabend …), durch das Blechbläser-Ensemble am Weihnachtsmarkt oder aus Lautsprechern in einem Moment der Ruhe. Selbst wer sich wenig mit der religiösen Substanz von Weihnachten identifiziert, ist davon nicht zwangsläufig ausgenommen. Dass das so ist, kann nicht ausschließlich mit der Jahreszeit zusammenhängen, mit Familienbesuchen oder mit der Aussicht, zu schenken und beschenkt zu werden. Vielleicht hat es ja auch damit zu tun, dass einige der christlich gemeinten Botschaften in Weihnachtsliedern eine Bedeutung haben, die nicht nur innerhalb bestimmter Konfessionen gelten. Hoffnung wäre ein Stichwort. Gerade jene Weihnachtslieder, die diesen Aspekt der Hoffnung mit einem Schlaf- oder Wiegenlied verbinden, mit dem Bild des neugeborenen Kindes in der Futterkrippe im Stall, umgeben von nächtlicher Kälte, haben in dieser Hinsicht etwas Berührendes.

Für Christ:innen ist das natürlich der singuläre Inbegriff der Hoffnung, der Heilsbringer im Moment seiner Ankunft. Aber auch ohne diesen Überbau hat ein schlafendes Kind etwas eigenartig Hoffnungsvolles: Hoffnungen auf eine glückliche individuelle Zukunft, Hoffnungen auf eine Welt von morgen, in der es sich friedlich leben lässt. Und wirkt Hoffnung nicht oft umso stärker, je unwahrscheinlicher ihre Erfüllung erscheint? (Auch die biblische Weihnachtsgeschichte zeigt Momente der Ausgrenzung und der extremen Brutalität.) Ich vermute, dass vieles von dieser Unwahrscheinlichkeit und von der realen Hoffnung, die vom Anblick eines schlafenden Kindes ausgeht, eine wichtige Rolle spielt, wenn ich Max Regers Chorsatz Schlaf‘, mein Kindelein höre. Er ist Teil seiner Zwölf deutschen geistlichen Gesänge WoO VI/13 für gemischten Chor, entstanden in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts. Bezeichnenderweise habe ich das Stück nicht auf einem Weihnachtsalbum zum ersten Mal gehört, sondern als Teil einer Sammlung mit Wiegenliedern (Wiegenlieder Vol. 1 aus dem „Liederprojekt“ von Carus).

Ein ganz anderes Beispiel, das aber trotzdem diese Verbindung aus schlafendem Kind und Zukunftshoffnung in sich trägt, hat dagegen größeres Kitschpotenzial: Do You Hear What I Hear von Gloria Shayne (Musik) und Noël Regney (Text), einem songschreibenden Ehepaar, sie aus den USA, er aus Frankreich (sein Vorname ist eigentlich Léon, „Noël“ rückwärts gelesen). Die erste Aufnahme dieses Titels erschien an Thanksgiving 1962, also rechtzeitig zur nahenden Adventszeit, und zwar in einer Aufnahme mit dem Harry Simeone Chorale, der sich schon ein paar Jahre zuvor mit einer Einspielung des Little Drummer Boy einen Namen gemacht hatte. Die markante Tonfolge zu „Do you hear what I hear“ ist das Unverwechselbare an der Melodik dieses Liedes, während der Text vertrautes, pastorales Weihnachtskolorit transportiert. Wie gesagt, nicht frei von Kitschverdacht. Nur: Das Lied ist wohl im Oktober 1962 entstanden, als die „Kubakrise“ die Welt in Atem hielt und ein nuklearer Schlagabtausch zwischen USA und UdSSR für einen Moment eine realistische Möglichkeit zu sein schien. An Thanksgiving, als die Aufnahme in die Plattenläden kam, war die Krise bereits auf diplomatischem Weg beigelegt worden. Wenn aber in der letzten Strophe der König auf das schlafende Kind verweist und alle zum Gebet für den Frieden auffordert, wird das damals für viele nicht belanglos geklungen haben.

Wie heißt es doch: „Was wäre die Welt ohne Hoffnung?“ Ja, und was wären Weihnachtslieder ohne diese Hoffnung. Wobei: Hätten wir nicht alle etwas davon, wenn sie weniger notwendig wäre? Uns allen friedliche Feiertage, wir sehen uns im neuen Jahr!

Max Reger, Schlaf‘, mein Kindelein (Calmus Ensemble) - Shayne/Regney, Do You Hear What I Hear? (Harry Simeone Chorale)


12.–18.12.2022:: ausgesucht von Patrick Ehrich

Johann Sebastian Bach, Präludium und Fuge in b-Moll BWV 867
(Glenn Gould)

Wie auch bei meinem letzten Beitrag verbinde ich die beiden hier ausgewählten Musikstücke mit einem eindrücklichen persönlichen Erlebnis.

Im Winter 1996 besuchte ich einen engen Freund in Irland. Dieser Freund verbrachte dort eine Art „Sabbatical“ zwischen seinem Zivildienst und Studienbeginn. Dazu hatte er sich für ein knappes Jahr in einem leerstehenden Cottage in der kleinen Ortschaft Toormakeady am Lough Mask im irischen County Mayo eingemietet und lebte für diese Zeit einfach in den Tag hinein. Ich hatte gerade mein Lehramtsstudium begonnen und fand diese Vorstellung von einem Jahr „Pause von allem“ extrem beneidenswert (das hat sich nicht geändert …).

Um das Folgende besser einordnen zu können, muss man wissen, dass dieser Landstrich Irlands schon im Sommer kaum den gängigen Touristenvorstellungen der Insel entspricht. Wo andere Counties mit saftigen grünen Weiden und Hügeln bestechen, ist Mayo meistens braun. Im Winter wird daraus ein noch tristeres Grau-Braun, das einem manchmal fast den Eindruck vermittelt, als würde man durch einen Schwarzweißfilm fahren. Heinrich Böll schrieb sein irisches Tagebuch während eines Aufenthalts im County Mayo. In diesem Reisebericht erwähnt Böll, dass die Iren immer, wenn jemand „Mayo“ erwähnt, dies mit „God help us“ ergänzen. Also: Mayo im Winter – ein „heimeliger“ Ort …

Da ich aber mit wenigen Erwartungen nach Toormakeady kam, hielt sich meine Enttäuschung auch eher in Grenzen. So verbrachte ich über den Jahreswechsel 1996/97 eine sehr entspannte Woche in einem nur partiell beheizbaren Cottage mit viel Guinness, Whiskey und Müßiggang.

An einem Tag nahm mich mein Freund auf einen kleinen Ausflug mit. Er hatte etwas im nahegelegenen Castlebar zu erledigen. Auf dem Rückweg fuhr er jedoch nicht den direkten Weg zurück, sondern einen Umweg, weil er Lust auf einen „scenic drive“ hatte (über den Wild Atlantic Way, wie ich heute weiß). So fuhren wir zurück zum Lough Mask durch den sehr dünn besiedelten Westen Mayos. Die 1990er Jahre waren die Zeit, in der man für gewöhnlich im Autoradio noch Kassetten abspielen konnte. Während der Fahrt lief ein Mix-Tape mit klassischer Musik, das mein Freund zusammengestellt hatte. Genau in dem Moment als die scheinbar endlose und einförmige Landschaft aus grauen Hügeln und Moorlandschaft sich plötzlich öffnete und den Blick auf den See „Doo Lough“ preisgab, erklang Bachs Präludium und Fuge in b-Moll aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers in der Interpretation von Glenn Gould – und dieser Moment amalgamierte für mich zu einem seitdem nicht mehr auflösbaren synästhetischen Gesamteindruck. 

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich – als Klarinettist – wenig über Bachs Werke für Tasteninstrumente und hatte, wenn, dann mal die eine oder andere Fuge in der Schule analysiert. Ich wusste nicht, dass Bach die beiden Stücke (möglicherweise), während er 1717 in Beugehaft war, als Zeitvertreib geschrieben hatte. Ich wusste ebenso wenig, dass die Fuge eine Reminiszenz an den stile antico ist, die kleine None im Themenkopf und die vielen frei eingesprungenen Dissonanzen im Werk aber für die Entstehungszeit wohl eher als progressiv zu bewerten sind. Ich wusste auch wenig bis gar nichts über den exzentrischen Interpreten dieser Aufnahme, der im Hintergrund gut hörbar vorhandene und nicht vorhandene Themeneinsätze mitsang und dessen Klavier vor der Aufnahme nach heutigen Standards eigentlich dringend einer Generalüberholung bedurft hätte. Doch trotz all dieser scheinbaren Defizite „verstand“ ich diese beiden Werke auf eine sehr unmittelbare Art und Weise. Sie waren vollkommen „schlüssig“ in dieser Situation.

Für mich als Musikpädagogen ist die Frage, wann ein Musikstück „verstanden ist“, ein zentraler Fixpunkt, an dem ich mich immer wieder finde. Die Musikpädagogik selbst hat hierfür verschiedenste Weg ausprobiert: Zu Beginn der „musikpädagogischen Neuzeit“ stand die These, dass Schüler:innen sich Werken quasi wie Musikwissenschaftler nähern sollten (vgl. meine oben erwähnten Fugenanalysen). Danach wurde der hermeneutische Blick auf Musik prägend (wie im vorangegangenen Absatz angedeutet). Beide Ansätze sind in der Musikpädagogik über 50 Jahre alt und dennoch nach wie vor sehr präsent. Wenn ich mit Studierenden arbeite, versuche ich aber auch, den „anderen Blick“ nicht aus den Augen zu verlieren – den Blick auf Musik, wie ihn wohl die meisten Menschen haben, die nicht sofort ein neu gehörtes Musikstück in Echtzeit analysieren, Instrumentierung nachverfolgen oder Themeneinsätze zählen. Nach Martin Seel wäre das der sinnlich-ästhetische Blick, der Blick auf ein Werk nur um seiner selbst willen.

Ich habe in den Jahren nach dem oben beschriebenen eindrücklichen Erlebnis die beiden Stücke intensiv studiert und viele kleine Details gefunden, die mich diese Musik noch mehr (oder anders?) schätzen haben lassen. Besonders die 5-fache Engführung gegen Ende der Fuge ist ein wirkliches Highlight, das mich als Gelegenheitshobbykomponisten immer noch sprachlos macht! Seitdem ich mich in den vergangenen Jahren jedoch auch immer wieder mit der Frage beschäftige, wie Schüler:innen Musik verstehen können (oder sollen?), frage ich mich auch ob es eine Steigerung von „sinnlich-ästhetischem Erfahren“ geben kann. Wenn ich jetzt Bachs Präludium und Fuge in b-Moll höre, ist diese Erfahrung eine andere als vor 26 Jahren. Sie ist zweifelsohne intensiver. Aber ist sie besser? Erstrebenswerter? Für mich sind das wichtige Fragen, die weit über meinen eigenen persönlichen Umgang mit Musik hinausgehen. Für mich betrifft das unmittelbar die Frage, wie Musik unterrichtet werden kann oder sollte.

Ich habe auf diese Frage bislang keine wirklich zufriedenstellende Antwort gefunden. Wenn Sie es bis hierher geschafft haben, und wir uns mal persönlich treffen, würde mich Ihre Meinung dazu interessieren.

Wenn Sie aber vor allem das oben beschriebene synästhetische Erlebnis interessieren sollte, kann ich nur empfehlen, den nächsten Flug nach Irland zu nehmen, in Dublin ein Auto zu mieten und quer über’s Land nach Mayo zu fahren. Die Jahreszeit passt gerade wieder ganz gut.

Wenn das nicht möglich sein sollte, hat das Internet eine tolle Alternative parat: Hier finden Sie einen Mitschnitt einer Motorradfahrerin, die genau die von mir beschrieben Straße fährt. Wenn Sie den Ton des Videos abstellen und die Wiedergabegeschwindigkeit reduzieren, dann dürfte das Erlebnis zumindest ähnlich dem von mir oben beschriebenen sein. Dann in einem zweiten Browserfenster die beiden Links unten öffnen und los geht’s …

YouTube-Links: Präludium - Fuge


5.–11.12.2022: ausgesucht von Sophie Pichler

Karl Jenkins, Kyrie aus The Armed Man: A Mass for Peace

Vor einiger Zeit habe ich mich für eine Hauptseminararbeit mit der Anti-Kriegs-Messe The Armed Man: A Mass for Peace von Karl Jenkins beschäftigt und musste in letzter Zeit immer häufiger daran zurückdenken. Meine einleitende Frage lautete damals: „Leben wir in Frieden?“ Wenn meine Antwort auch schon damals ein klares „Nein“ war, würde ich sie heute doch noch einmal ganz anders formulieren – dass es so bald in Europa wieder zu einem Krieg kommen würde, hätte wohl niemand gedacht.

Aktueller denn je ist daher das Friedensthema der Messe, welche anlässlich der Jahrtausendwende uraufgeführt wurde und unter anderem die bekannte jahrhundertealte L’homme armé-Melodie verarbeitet. Da sie auch für Amateure aufführbar ist, ist sie nach wie vor häufig in Konzerten zu hören. Einen – wenn auch traurigen – Teil seiner Bekanntheit verdankt das Werk gewiss auch dem Umstand, dass die CD ausgerechnet am Tag vor den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 veröffentlicht wurde.

Der Aufbau der Messe weicht zum Teil von den klassischen Bestandteilen des Ordinarium missae ab, indem Platz für Texte verschiedenster religiöser und geographischer Herkunft eingeräumt wird: Nebst einem islamischen Gebetsruf, Gedichten englischer Literaten und Auszügen aus dem indischen Epos Mahābhārata und der Bibel kommt der Japaner Tōge Sankichi als Überlebender des Atomangriffes auf Hiroshima zu Wort. Alle Texte vereint das Ziel, einen universellen Gott oder doch zumindest eine allen Menschen inhärente Spiritualität abzubilden. Die Anordnung der Texte in der Messe selbst folgt dabei einem angedeuteten Handlungsverlauf, welchen man als Kriegsvorbereitung – Kriegshandlung – Friedensschluss zusammenfassen könnte.

So hörenswert das gesamte Werk auch ist, möchte ich hier vor allem kurz das Kyrie vorstellen. Im Gegensatz zum Großteil der restlichen Messe, der sich nicht auf die Texte des Ordinarium missae stützt, wird im Kyrie die traditionelle Anlage aus Kyrie I, Christe und Kyrie II verwendet. Es beginnt mit einem sehr düsteren und bedrohlich wirkenden Einstieg der tiefen Bläser und Streicher, zu denen das erste Kyrie von einer Sopranstimme solistisch gesungen wird. Es macht auf mich den Eindruck eines Innehaltens, eines inständigen Bittrufs um Beistand für die bevorstehende Schlacht. Immer mehr Stimmen und Instrumente schließen sich dem an, sie agieren wechselweise homophon und polyphon. Das Kyrie II ähnelt in Form und musikalischem Material dem Kyrie I, vor allem gegen Schluss wird aber das Orchester noch deutlich verstärkt. Bemerkenswert beim Christe ist ein Stilbruch: Klingt das Kyrie eher modern, lässt das erhabene Christe an ältere Musik denken. Tatsächlich übernimmt hier Karl Jenkins Palestrinas Christe-Teil aus dessen fünfstimmiger Missa L’homme armé (Druck von 1570) und erweitert ihn lediglich um eine kleine Orchesterbesetzung.

Dieses Zusammenspiel von neuen und alten Kompositionen und Texten macht das Werk für mich so interessant. Frei vom christlich-liturgischen Kontext vereint es Menschen verschiedener Herkunft oder religiöser Zugehörigkeit durch ihre literarische und musikalische Vielfältigkeit. Dem eindringlichen Schlussappell der Messe „better is peace than evermore war“ kann man vor allem heutzutage gar nicht genug Bedeutung beimessen, in der Hoffnung, dass analog zum Handlungsverlauf des Werks auch bei uns endlich wieder Frieden einkehren kann.

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28.11.-4.12.2022: ausgesucht von Angelina Sowa

Sergio Endrigo, Teresa

Ich würde Sie gerne auf eine kleine Zeitreise einladen: Stellen Sie sich vor, Sie wären im Italien der 1950er Jahre. In einem Land, das – trotz der verheerenden Kriegsfolgen – aufgrund seiner dynamischen Entwicklungen in der Wirtschaft nach Italo Calvino soeben eine ‚belle époque‘ erreicht. Versetzen Sie sich in jene Zeit des Übergangs und der Anpassung, in der die grausamen Folgen des Krieges stets durch das Wissen über die Zukunft rehabilitiert werden und der Wandel zu einem wesentlichen Dogma zu werden scheint. Unter den vielfältigen Veränderungen innerhalb des Landes bemerken Sie auch eine allmähliche Revolution innerhalb der Alltagsgewohnheiten, die nicht zuletzt durch die Medien erheblich angetrieben wird. Und doch ertönt ausgerechnet, wenn Sie den Radio einschalten, ein schwärmerisches Loblied auf die Mutterschaft (vgl. z.B. Tutte le mamme von Gino Latilla und Giorgio Consolini aus dem Jahre 1954), das sinnbildlich für die italienische Liedkunst dieser Zeit die katholischen Moralvorstellungen bekräftigt und die vordergründige Minderwertigkeit der Frau manifestiert.

In der Tat scheint es also paradox, dass gerade die Popularmusik sich einem traditionalistischen Moralismus verpflichtet und die radikalen sozialen Veränderungen erst wenige Jahre später zu rezipieren beginnt. Erst ab den 1960er Jahren etwa kündigte sich eine tiefgreifende Veränderung innerhalb des eben erwähnten Liedguts an, die insbesondere mit der ersten Generation der sog. cantautori einhergeht. Entgegen dem alten Wertesystem und dem tatsächlichen Leben verschrieben, verzeichnet sich in ihren Liedern ein bemerkenswerter kollektiver Umschwung, der den sittlichen Wandel nun auch musikalisch begleitet und sich vermehrt den Gefühlen der Bevölkerung widmet.

Verfolgen wir den Weg zu einer liberaleren Geschlechterauffassung, muss uns das von Sergio Endrigo geschriebene Teresa aus dem Jahre 1965 auffallen. Obgleich sich jenes Stück zwar noch in den Fängen obsoleter Moralvorstellungen befindet, bekundet sich hier doch bereits eine nonkonformistische Tendenz, die sich auch in der Problematisierung der im Liedtext besprochenen Liebesbeziehung verdeutlicht. Über einen ungewöhnlichen Gebrauch der Sprache hinaus, der sich in einer Befreiung von gereimten Verspaaren zeigt, entfaltet sich das Lied auf einer Basis, die an eine volkstümliche Weise erinnert. So erhebt sich über einem statischen 2/4-Takt eine schlichte und durchaus eingängige Melodie, die in ihrer Einfachheit wohl weniger nach künstlerischem Anspruch und mehr nach inhaltlichem Verständnis strebt.

Was somit in der musikalischen Gestaltung lediglich angedeutet werden kann, findet freilich erst in der textlichen Umsetzung seinen endgültigen Vollzug. Das Lied dürfte sich hierbei als eindrucksvolles Beispiel für die ‚Entmystifizierung‘ der Frau erweisen, deren Umgang mit der Liebe sich auf eine konfliktreichere Ebene zu erstrecken beginnt. In Ablösung von der traditionellen Vorstellung einer auf Endgültigkeit beruhenden Partnerschaft erweist sich Endrigo als emanzipatorischer Vorreiter einer noch kommenden Zeit, der das Mädchen von seiner Bestimmung zur Ehe loszusprechen versucht. In einer Reihe von tröstlichen Feststellungen (vgl. V. 8, „Di te non penso proprio niente”), scheint der Sänger das bezeichnende Bild einer ‚neuen Frau‘ zu proklamieren, die den tradierten Verhaltenskodizes augenscheinlich widerspricht. Indem er das Vergnügen von der ihr traditionell zuerkannten Sündhaftigkeit losspricht, lädt der cantautore zu einer polemischen Auseinandersetzung mit der restriktiven Sexualmoral ein, deren allmählicher Verfall sich in Mädchen wie Teresa beispielhaft offenbart (vgl. V. 6f., „Per te non sono stato il primo, nemmeno l'ultimo lo sai, lo so”).

Erstaunlich ist es also doch, wenn das von Erneuerungsprozessen getragene Lied nicht wegen seines provokativen Charakters, sondern bezeichnenderweise über den Weg der Rhetorik auf Zensurprobleme stieß. Unter Verweis auf den Vers „non sono mica nato ieri” (V. 5), der sich angesichts des umgangssprachlichen „mica” als sprachlich ungeeignet erwies, sprach sich die RAI für ein Sendeverbot des Liedes aus, das erst nach einer Revidierung der entsprechenden Textzeile wieder aufgehoben werden sollte. Ob sich das Misstrauen der Radiokommission tatsächlich auf die lexikalische Dimension beschränkte, bleibt freilich zu hinterfragen. Wichtiger scheint jedoch die Tatsache, dass das Stück über jegliche Anfechtungen des Senders hinaus einen Wandel manifestierte, der sich in den folgenden Jahren auch in anderen Liedern beispielhaft illustriert.

Text
Teresa, quando ti ho dato quella rosa, rosa rossa
mi hai detto: «prima di te io non ho amato mai»
Teresa, quando ti ho dato il primo bacio sulla bocca
mi hai detto: «adesso cosa penserai di me»
Teresa, non sono mica nato ieri
per te non sono stato il primo
nemmeno l'ultimo lo sai, lo so.
Ma, Teresa, di te non penso proprio niente, proprio niente
mi basta restare un poco accanto a te, a te…
Amare come sai tu non sa nessuna
non devo perdonarti niente
Mi basta quello che mi dai.
Amare come sai tu non sa nessuna
non devo perdonarti niente
Mi basta quello che mi dai
Teresa
Teresa

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21.11.–27.11.2022: ausgesucht von Emily Martin

Felix Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre Die Hebriden oder Die Fingals-Höhle
(London Symphony Orchestra, Sir John Eliot Gardiner)

Mit zwanzig Jahren trat der junge Felix Mendelssohn Bartholdy seine erste Reise nach England an – eine Erfahrung, die sein Leben nachhaltig prägen sollte. Die Bildungsreise diente vorrangig dem Studium und Konzertauftritten, jedoch ließ Mendelssohn es sich im Rahmen des Englandaufenthaltes nicht nehmen, auch Land und Leute näher kennenzulernen. Die Besichtigung der berühmten Inselgruppe im Nordwesten Schottlands, Hebriden genannt, stellte sich im Nachhinein auch in musikalischer Hinsicht als lohnend heraus. Denn die Entstehung der nach eben dieser Inselgruppe benannten Hebriden-Ouvertüre op. 26 (MWV P 7) hängt unmittelbar mit diesem Ausflug zusammen. Von den weitreichenden Folgen ahnte Mendelssohn noch nichts, als er im Sommer 1829 in ein Schiff stieg, um sich ein eigenes Bild dieser schon damals recht bekannten Landschaft zu machen. Bei der Besichtigungsfahrt kam die Reisegruppe unter anderem an der berühmten Fingalshöhle vorbei, die sich in den spektakulären Basaltsäulen einer dieser Inseln befindet und seinerzeit als regelrechte Touristenattraktion galt. (Um eine Vorstellung von diesem Gebilde zu bekommen, das sich inmitten der Säulen aus erkalteter Lava befindet, bietet sich ein Blick auf ein Foto der Fingalshöhle an, beispielsweise hier). Mendelssohn muss stark beeindruckt vom Anblick dieser über 80 Meter tiefen Höhle gewesen sein, denn noch am selben Tag berichtete er seiner Familie in einem Brief von diesem Erlebnis. Um den Daheimgebliebenen die Gefühle, die er beim Anblick der Insel empfunden hat, zu übermitteln, fügte er diesem Schreiben 21 Takte bei – die ersten der späteren Hebriden-Ouvertüre. Auch nach seiner Englandreise ließen Mendelssohn diese Eindrücke nicht mehr los. Er erweiterte die noch vor Ort skizzierten Takte schließlich zu einer Konzert-Ouvertüre, die er auch in den darauffolgenden Jahren noch mehrmals überarbeitete.

In die Hebriden-Ouvertüre flossen all die Erinnerungen an den Ausflug zu dieser Inselgruppe ein. Mithilfe der Musik versuchte er zu bewahren, was sich durch Worte oder Bilder nicht festhalten ließ. Dabei gelang es ihm, sowohl die Landschaft als auch die Gefühle, die deren Anblick hervorrufen kann, musikalisch abzubilden. Die ersten Takte der Hebriden-Ouvertüre lassen unmittelbar die Wellenbewegungen des Meeres vor dem inneren Auge der Zuhörenden auftauchen. Das stete An- und Abschwellen der Musik im Laufe der Ouvertüre verdeutlicht nicht nur den Seegang, welcher im Übrigen an diesem Tag recht turbulent gewesen sein soll, sondern können auch als die wechselnden Gefühlsregungen verstanden werden, die durch den Anblick der Hebriden in dem jungen Komponisten ausgelöst wurden. Dabei wechseln sich Passagen, die eine nachdenkliche, fast schon beklemmende Stimmung erzeugen, mit stürmischen, geradezu überschwänglichen Abschnitten ab. Beim Hören der Musik kann sowohl die staunende Bewunderung nachempfunden werden, die der Anblick dieses Naturspektakels ausgelöst haben muss, als auch eine gewisse Demut und Ehrfurcht vor diesem überwältigenden Konstrukt, das allein durch die Natur hervorgebracht wurde.

Die langjährige Beschäftigung Mendelssohns mit der Hebriden-Ouvertüre verdeutlicht, welche prägende Wirkung die Besichtigung der Fingalshöhle auf ihn hatte. Dass das Motiv, welches gleich zu Beginn im Fagott vorgestellt wird, ganz am Ende noch einmal von den Klarinetten aufgegriffen wird, verschafft der Komposition nicht nur in musikalischer Hinsicht eine schöne Abrundung. Die Wiederholung verweist auch noch einmal zurück auf den Entstehungskontext, denn schließlich waren es diese ersten Takte, die Mendelssohn unmittelbar nach dem Ausflug zu den Hebriden skizzierte. Drei Jahre nach dem ersten Aufenthalt reiste Mendelssohn ein weiteres – und noch lange nicht das letzte – Mal nach England, wo die Hebriden-Ouvertüre zum ersten Mal aufgeführt wurde. Ein passender Ort, wenn man bedenkt, dass die erste Englandreise mit ihrer Schifffahrt zur Fingalshöhle die Anregung zu dieser Komposition darstellte.

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14.–20.11.2022: ausgesucht von Lukas Fröhlich

Heilung, In Maidjan (Album Ofnir)

Irgendwo in den tiefen Wäldern des vorchristlichen Germaniens bereitet sich ein Stamm auf den Krieg vor – eine Situation, die zu dieser Zeit und unter den damaligen Umständen wohl nicht allzu ungewöhnlich war, die aber auch heute noch bekanntermaßen traurige Realität sein kann. Die Hintergründe dieses Krieges kennen wir nicht, aber das spielt ohnehin keine Rolle. Denn das, wovon wir nach Klick auf den Link dort unten Zeuge werden, ist nicht der Krieg selbst, sondern ein Ritual, in dem der Stamm den Kriegsgott Tyr um Beistand in der bevorstehenden Schlacht bittet. Die Formulierung „Zeuge werden“ ist dabei weder übertrieben noch im metaphorischen Sinne zu verstehen. Das Stück, das wir gleich hören – und sehen – werden, heißt In Maidjan und ist eines der ersten Stücke der Band Heilung: ein Trio, bestehend aus dem Deutschen Kai Uwe Faust, dem Dänen Christopher Juul und der Norwegerin Maria Franz, meist unterstützt von zahlreichen Gastmusikern. Das erklärte Ziel von Heilung ist es, mit ihrer Musik eine „amplified history from early medieval northern Europe“ zu schaffen – der Hörer (und Zuschauer) von In Maidjan soll also tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes Zeuge der Tyr-Anrufung werden. Das ist natürlich ein schwieriges Unterfangen, da keine Musik aus dieser Zeit und Region erhalten ist und man nur vermuten kann, wie sie geklungen haben könnte. Das ist aber nicht schlimm, schließlich ist das Anliegen von Heilung ja „amplified history“, also keine absolut historisch korrekte Wiedergabe der damaligen Musik, sondern durch neue, „pseudo-historische“ Musik verstärkte und erweiterte Darstellung der Geschichte. Die verwendeten Instrumente sind daher im Gegensatz zur Musik selbst entweder historisch bestätigt oder zumindest als authentisch denkbar – von Loopgeräten und einigen elektronisch erzeugten oder abgespielten Hintergrundeffekten und Verstärkungen abgesehen. Ebenso orientieren sich die Texte entweder thematisch an Sagen, Erzählungen oder Berichten aus der vorchristlichen Zeit, oder stammen aus originalen Quellen oder Funden (auf dem ersten Album Ofnir, auf dem auch In Maidjan zu finden ist, soll es sich dabei oft um Gravuren auf Waffen und Rüstungen handeln, daher der Fokus auf der Kriegsthematik auf diesem Album). Da auch das Visuelle eine wichtige Rolle im Konzept der Band spielt, ist die Kleidung der Musiker ebenfalls zu einem großen Teil von alten Darstellungen oder Schilderungen inspiriert. Die unten verlinkte Aufnahme, in der diese Kleidung nicht zu übersehen ist, stammt vom Auftritt der Band auf dem Castlefest 2017 im niederländischen Lisse. Tatsächlich war es genau dieser Auftritt, der der Band zu ihrer heutigen Bekanntheit verhalf.

Das durch In Maidjan dargestellte Ritual beginnt nun also mit einem dreimaligen Hornsignal und der Anrufung Tyrs („Harigasti Teiwa“) woraufhin die beiden Herren des Trios in der Rolle von Runenmeistern den Grund für die Anrufung, nämlich die Bitte um Beistand, vorbringen – mit beeindruckendem Kehlkopfgesang. In einem zweiten Teil wird die magische Kraft der Runen beschworen, indem alle 24 der magischen Zeichen in Form von hypnotischem, mehrstimmigem Chorgesang in mehrfacher Wiederholung aufgezählt werden. Daraufhin folgt mit der überaus ungewöhnlichen Gesangspassage von Maria Franz tatsächlich der magische Höhepunkt des Stücks. Was genau das heißen soll, lässt sich wohl am besten durch Hören erkennen. Insgesamt wäre es wohl vergebens, hier viel über die Musik selbst zu schreiben. Durch ihren starken Fokus auf schlichte Rhythmen und den Klang ungewohnter Instrumente und Gesangstechniken sowie das fast völlige Fehlen von Melodie und Harmonie wäre eine Analyse kurz, unspektakulär und brächte letztendlich keinen nennenswerten Mehrwert. Die Musik ist primitiv – und das soll sie auch sein – und bedarf schlichtweg keiner weiteren Erklärung.

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(Leider ist das Video voller Werbung, was spätestens bei der zweiten Unterbrechung massiv stört. Um das Stück auch ohne Ad-Block oder YouTube-Premium werbefrei genießen zu können, empfiehlt es sich, zunächst – gerne auch ohne Ton – in ungefähr zwei-Minuten-Intervallen durch das Video zu springen, und somit alle Werbepunkte auszulösen. Springt man dann kurz vor Ende des Videos zurück zum Anfang – das Video darf nicht enden, sonst wird die Werbung wieder aktiv! – sollte es ohne Unterbrechungen durchlaufen.)


7.-13.11.2022: ausgesucht von Michael Braun

Joseph Haydn, Streichquartett in G-Dur, op. 33, Nr. 5, Hob. III:41, 1. Satz: Vivace assai, Goldmund Quartet

Beinamen berühmter Musikstücke sind schon ein eigensinniges Phänomen. In vielen Fällen sind sie durch bloß äußerliche Begleitumstände zustande gekommen oder beruhen auf halb willkürlichen Hörassoziationen, die irgendwann irgendwo für passend gehalten wurden. Trotzdem behaupten sie sich in vielen Fällen hartnäckig gegen alle Relativierungsversuche und beeinflussen so weiterhin unser Musik-Erleben. Joseph Haydns Instrumentalmusik ist ein reichhaltiges Reservoir für Beispiele. Einer der kurioseren Fälle ist das Streichquartett in G-Dur Hob. III:41 (= op. 33, Nr. 5), an dem der Beiname „Wie geht es dir?“ hängen geblieben ist. Inspiration für diese eigentümliche Benennung ist der auffällige Beginn des Kopfsatzes gewesen: Der eigentlichen Exposition ist hier eine zweitaktige Kadenzwendung vorgeschaltet, die nach konventionellen Maßstäben deplatziert wirkt und dabei (prosodisch einigermaßen stimmig) mit der Frage „Wie geht es dir?“ unterlegt werden könnte.

Kleiner Exkurs: Vor einigen Jahren hat Stand-up-Komikerin Gayle Tufts Lacher dafür geerntet, den Unterschied herauszukehren zwischen der US-amerikanischen und der deutschen Art und Weise, auf diese Frage zu antworten. Während nämlich in Übersee die Frage als höfliche, aber nicht übermäßig neugierige Redefloskel verstanden und pflichtschuldigst pauschal und kurz beantwortet werde, blühen den Fragenden in deutschen Gefilden schon einmal längere Selbstauskünfte. – Wer diese Pointe im Hinterkopf hat, könnte ins Schmunzeln kommen bei dem Gedanken, dass wir uns im Vivace assai des G-Dur-Streichquartetts für den Großteil des Musikgeschehens noch eine zuhörende Instanz vorzustellen hätten, die nach ihrer höflichen Einstiegsfrage von überbordendem Erzähleifer überrollt wird. („Zum Glück keine Antwort in amerikanischem Stil“, könnten wir uns denken, sonst wäre der Satz schon nach wenigen weiteren Takten wieder zu Ende.) Aber allzu lange schmunzelt sich’s dann auch wieder nicht, denn so richtig überzeugen will die „Wie geht es dir“-Assoziation einfach nicht. Da ist schon einmal der harmonische Duktus der angeblichen Frage, der in die Tonika mündet und nicht in die Dominante, was der Vorstellung einer auffordernden, „offenen“ Frage viel näher käme. Außerdem wird diese Wendung im späteren Verlauf des Satzes zweimal fast unverändert wiederholt: am Beginn der Reprise und ganz am Schluss des Satzes, da sogar zweimal. Wiederholt unsere fiktive Fragerin ihren Satz einfach, obwohl doch schon ausführlich geantwortet wurde? Wäre das schon seltsam, kommt noch dazu, dass die melodische Wendung der „Frage“ fast umgehend in die vierstimmige Struktur der „Antwort“ eingewoben wird (als würde immer wieder ein „Wie geht es mir?“ in den Redefluss eingestreut sein). Es hilft nichts: Als Vertonung eines „Wie geht es dir?“ wirkt die Initial-Floskel dieses Streichquartetts irgendwie sozial auffällig.

Ich finde, dass der Witz an diesen ersten beiden Takten des Streichquartetts nur musikalisch funktionieren kann, nicht über den Umweg einer Textierung. Kadenzen sind zwar floskelhafte Wendungen, aber anders als gesprochene Sätze in ihrer Unbestimmtheit und Formelhaftigkeit variabel an verschiedenen Stellen eines „Musikdiskurses“ einsetzbar. Natürlich sind Schlusskadenzen häufig nachdrücklicher gestaltet als vorher stattfindende Binnenkadenzen, so will es die Konvention. Aber darin liegt kein kompositorisches Muss, dessen Missachtung „falsch“ klingen würde. Aus meiner Sicht ist es eben dieser Zwiespalt zwischen Gestaltungskonvention von Kadenzen (das Wie) und ihrer Passepartout-Harmonik (die Dominante-Tonika-Folge), mit dem hier gespielt wird, und der dafür sorgt, dass die scheinbare Frage-Wendung bei jedem Auftreten irgendwie stutzig macht, ohne gleichzeitig zu irritieren – und letztlich witzig wirkt. So gesehen ist „Wie geht es dir?“ also wirklich kein treffender Beiname. Aber da er nun immerhin gut dafür war, ein wenig engagierter über die bezeichnete Musik nachzudenken, lässt sich ihm eigentlich kaum böse sein.

Naxos Music Library, Track #6


31.10.-6.11.2022: vorgestellt von Katelijne Schiltz

Guillaume de Machaut, Aucune gent m’ont demandé / Qui plus aimme / Fiat voluntas tua
Ensemble Musica Nova

Motetten des 14. Jahrhunderts sind ein komplexer Gegenstand: für die Aufführenden, die Hörer – und natürlich auch für die Forschung. Mich fasziniert diese Vielschichtigkeit, und so möchte ich für das Musikstück der Woche die vierstimmige Motette Aucune gent m’ont demandé / Qui plus aimme / Fiat voluntas tua des französischen Komponisten und Dichters Guillaume de Machaut (um 1300–1377) vorstellen, nicht zuletzt weil ich sie im Rahmen meines aktuellen Forschungsprojekts zu Techniken und Symboliken von Spiegelungen und Rückwärtsbewegungen in der Musik vom Mittelalter bis heute untersuche. Denn Machauts Motette bietet ein bemerkenswertes Beispiel für die Verwendung einer retrograden Technik. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, wie er das umgesetzt hat, sondern auch warum er sich dafür entschieden hat. (Allen, die sich die Komposition im Original anschauen möchten, sei ein Blick in die Handschrift Paris, Bibliothèque Nationale, fonds français 1584 ab Fol. 418v empfohlen.)

Die beiden Oberstimmen (Triplum und Motetus) singen einen französischen Text. Beide bieten eine Reflexion über die höfische Liebe, allerdings aus unterschiedlicher Perspektive. Der Text des Triplum, „Aucune gent“, fängt mit einer bemerkenswerten Einleitung an: „Einige Leute haben mich gefragt, was ich denn habe, dass ich nicht singe und kein fröhliches Herz habe, denn ich bin es gewohnt, mit einem glücklichen Herzen zu singen. Und ich sage denen: Wahrlich, ich weiß es nicht“. Doch das lyrische Ich korrigiert sich sofort selbst: „Aber ich habe gelogen, denn in meinem Herzen habe ich sehr großen Kummer, der nie erleichtert wird“. Doch obwohl der Liebende weiß, dass die von ihm verehrte Dame geschworen hat, ihn mit ihrem grausamen Herzen und ihrem Blick zu töten, möchte er der Gefahr nicht aus dem Weg gehen, denn er gehört ihr vollständig.

Am Ende des Triplum wird der Liebende mit dem Krieger Yvain verglichen, der die Gunst eines Löwen für sich gewann. Machaut zitiert hier aus dem Artusroman Yvain ou Le Chevalier au lion von Chrétien de Troyes (um 1140–um 1190), genauer gesagt die Episode, in der Yvain einen Löwen vor einem kriegerischen Drachen rettet. Von nun an wird der Löwe sein Beschützer und Diener. Im Kontext des Romans bedeutet Yvains Begegnung mit dem Löwen einen entscheidenden Wendepunkt: die Begegnung markiert nämlich seine Transformation von einem bloßen Kämpfer zu einem Ritter.

Während in der Triplumstimme das lyrische Ich seine Erfahrungen und Gefühle kundtut, nimmt die Motetus-Stimme eine beobachtende Perspektive ein und reflektiert über das Paradox der Liebe: Derjenige, der mehr liebt, leidet mehr. Die Motetus-Stimme bietet somit einen Kommentar zur Triplumstimme: Wenn der Liebhaber beschlossen hat, seine Dame bedingungslos zu lieben, erwartet ihn ein hartes Leben. Nach dem Ausruf „Hé! Diex“ wünscht sich der Dichter eine Umkehrung der Situation: dass die Damen diejenigen wählen mögen, die von Amors Liebespfeil getroffen sind, die also wirklich und aufrichtig lieben.

Es gibt noch zwei weitere Stimmen, einen Contratenor und einen Tenor. Letzterer singt einen Abschnitt aus einer liturgischen Melodie mit dem Text „Fiat voluntas tua“. Obwohl man bei diesen Worten vermutlich sofort an das Pater noster denkt („Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden“), zitiert Machaut die Melodie einer Antiphon Domine, si adhuc für das Fest des Heiligen Martin (11. November), in der die Phrase „fiat voluntas tua“ ebenfalls vorkommt. Martin war einer der ersten Christen, die heiliggesprochen wurden. Er ließ sich vom Kaiser vom Kriegsdienst suspendieren und wollte nur Gott dienen: aus einem miles Caesaris wurde somit ein miles Christi.

In kompositionstechnischer Hinsicht sind Tenor und Contratenor nach den Prinzipien der Isorhythmie aufgebaut: Die präexistente liturgische Melodie wird zwei Mal gesungen, beim zweiten Mal in rhythmischer Diminution. Dabei verhält sich der Contratenor spiegelbildlich zum Tenor. Genauer gesagt: der rhythmische Ablauf im Contratenor ist der Gleiche wie im Tenor, aber rückwärts. Das scheint mir mit einem Textimpuls zusammenzuhängen. Das Thema der Bekehrung spielt in dieser Motette eine wichtige Rolle: einmal explizit, in der Figur von Yvain, der im Moment des Kampfs für den Löwen von einem Krieger zu einem Ritter wird, und einmal implizit, im Zitat aus der Antiphon für das Fest des Heiligen Martin, der auch eine Verwandlung durchlebt. Yvains und Martins Transformation bedeuten somit einen radikalen Richtungswechsel, eine Umkehr. Im Verhältnis zwischen Tenor und Contratenor verbildlicht Machaut diesen Wechsel.

Es ließe sich zu dieser Motette noch viel mehr sagen. Aber grundsätzlich stellt sich die Frage, ob solche komplexen Strukturen wie die isorhythmische Anlage im Allgemeinen und der rhythmische Krebs im Besonderen beim Hören des Stücks überhaupt wahrgenommen werden können. Anna Zayaruznaya hat das Hörerlebnis von mehrtextigen Motetten einmal treffend mit dem „cocktail party phenomenon“ verglichen. Trotzdem schafft Machaut Anhaltspunkte, an denen das abstrakte, nach „mathematischen“ Regeln ablaufende Unterstimmengerüst zumindest stellenweise hörbar wird. Der Einsatz einer musikalischen Rückwärtsbewegung zur Darstellung einer Wandlung der Lebensweise bis hin zur religiösen Bekehrung ist in jedem Fall ein deutliches Beispiel für das intrikate Zusammenspiel von Texten und Musik. Das Ergebnis ist ein kaleidoskopischer Blick auf das Thema Bekehrung/Umkehrung – eine faszinierende Multidimensionalität, wie nur mehrstimmige Musik sie leisten kann.

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24.-30.10.2022: ausgesucht von Franziska Weigert

Taylor Swift, Midnight Rain, und Taylor Swift ft. Lana del Rey, Snow On The Beach

Geplant war ein ganz anderer Text, zu ganz anderen Liedern längst verstorbener Komponisten. Doch dann erschienen am 21. Oktober dreizehn ganz neue Songs, die für manche vermutlich irrelevant sind, nicht aber für weltweit 61 Millionen HörerInnen monatlich (zum Vergleich, so viele Menschen wohnen in Italien). Die Rede ist von Taylor Swifts neuem Album Midnights. Swift formt um jedes ihrer Alben eine „Ära“, also eine eigene musikalische und außermusikalische Ästhetik und Thematik. Während ihre beiden letzten Alben folklore (2020) und evermore (2021) sehr akustisch und „natürlich“ daherkamen, dreht Swift in Midnights den Glam-Pop-Regler voll auf. In mehreren Schichten legt sie mit ihrem langjährigen Produzenten Jack Antonoff rein elektronische Klänge übereinander, schafft damit eine homogene Klangkulisse, die sich mit keinem anderen ihrer Alben vergleichen lässt und eine ganz eigene Stimmung transportiert. Ebenso vielschichtig sind Swifts Texte. In Interviews betont sie, wie wichtig ihr ihre selbstgeschriebenen Texte sind, weshalb sie fast immer intertextuelle Bezüge einflechtet, was zu einem aufmerksamen Zuhören bewegen soll. Mit großem Erfolg! Was wir in musikwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen, Papers und Tagungen diskutieren, beraten Swifts Fans in den sozialen Medien. In Form von längeren oder kürzeren Videoessays dekonstruieren sie Texte, eastereggs und intertextuelle sowie autobiographische Bezüge. Eine engagiertere Fangemeinde kann man sich als KünstlerIn wohl kaum vorstellen. Und Swift gestaltet dies ganz bewusst. Ein Beispiel: Das Lied Karma auf dem neuerschienenen Album ist die Auflösung von jahrelangen Andeutungen und Fantheorien. In mehreren von Swifts Werken findet sich der Begriff „Karma“, weshalb davon ausgegangen wurde, dass dies der Titel eines nie erschienenen Albums sein müsse, das im Rahmen von Swifts Rechtsstreitigkeiten mit ihrem ersten Label untergegangen sei. Bei der Vorankündigung des Songtitels kichert Swift, denn sie ahnt, dass sie damit eine Welle an Reaktionen lostritt – und sie wird nicht enttäuscht. Für mich sind die zwei spannendsten Songs des Albums Midnight Rain und Snow On The Beach, letzterer featuring Lana Del Rey.

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17.-23.10.2022: ausgesucht von Gregor Herzfeld

Kate Bush, „Running Up That Hill“

Aus dem Zimmer meiner 14jährigen Tochter Klara drang vor kurzem ein ungewohnter Klang. Während üblicherweise gegenwärtige Pop-Diven wie Demi Lovato, Olivia Rodrigo oder Dua Lipa die Soundscape ihres jeweiligen Aufenthaltsorts in der Wohnung prägen, vernahm ich nun eine fast vergessene, doch sehr vertraute Musik: die Stimme der britischen New Wave-Musikerin Kate Bush und ihren Song „Running up that Hill“ – eine Musik mitten aus den 80ern, auf den Markt gebracht, als ich selbst zehn Jahre alt war. Es ist zwar nicht ungewöhnlich, dass sich meine gesangsbegeisterte Tochter auch mal für die „großen“ Popsängerinnen der 80er, allen voran Whitney Houston, interessiert, doch die wenig extrovertierte Elektropop-Nummer passte so gar nicht in ihr Beuteschema. Es musste also einen besonderen Anlass geben. Daraufhin befragt, meinte sie: „Ist doch aus Stranger Things!“ Ja, richtig, Stranger Things, die amerikanische Netflix-Serie hatte gerade ihre vierte Staffel herausgebracht. Und vielleicht noch deutlicher und systematischer als die Staffeln zuvor lässt sie die Popkultur der 80er Jahre aufleben, als hätten sich Stephen King und Steven Spielberg zusammengetan, um eine gemeinsame Fortsetzung von Alien, Nightmare on Elm Street und Akte X zu erschaffen. Man könnte geradezu davon sprechen, dass Stranger Things die 80er feiert, und dabei – quod erat demonstrandum – einer Generation der nach 2000 Geborenen nahebringt. Wir erleben es in zahlreichen Bereichen der Mode, des Designs, des Films, der Musik, dass die 80er Jahre eine Art Revival erleben, eine Art Kultstatus erworben haben. Für einen, der diese Zeit erlebt hat, wirkt das zunächst einmal etwas seltsam, waren doch die 80er im Rückblick der folgenden Jahrzehnte immer als das Jahrzehnt des schlechten Geschmacks verurteilt worden – Karotten-Jeans und Neonfarben eben. Doch vielleicht waren wir da noch zu nahe dran. Wie immer in der Geschichte, zumal in der Kultur- und Kunstgeschichte, vermag es die spätere Generation, Eigenschaften, Qualitäten zu erfassen, die zuvor nicht gesehen oder gewürdigt werden konnten, verklärend, idealisierend möglicherweise, aber auch verdichtend, zusammenfassend, überblickend und präzisierend. Als Vater und als Musikwissenschaftler habe ich großes Interesse an diesem durch Generationenfolgen transformierten Wissen. Es zu untersuchen, ist Teil meines Berufs.

„Running up that Hill“ war die erste Single-Auskopplung des Albums Hounds of Love, das Kate Bush 1985 im Wesentlichen selbst geschrieben und produziert hat. Der Song sollte eigentlich „Deal with God“ heißen, was das Label aber ablehnte, um (aus ökonomischen Gründen) potenzielle religiöse Gefühle beim Publikum nicht zu verletzen. Er war recht erfolgreich mit Platz 3 der britischen und deutschen Charts, Platz 30 in den USA. Den größten Erfolg damit allerdings hat die mittlerweile 63jährige Musikerin heuer im Jahr 2022, da – dank Stranger Things – das Stück erstmals in der Popgeschichte nach 37 Jahren in vielen Länder auf Platz 1 kletterte. Das Stück schreibt insofern im wahrsten Sinne Geschichte, denn es verweist auf die subtile Historizität der oftmals als oberflächlich und schnelllebig diffamierten Popkultur. Es führt die geschichtliche Dimension des Verweisens, Zitierens, Wiederholens und Variierens vor, die ein wesentlicher Bestandteil von ihr ist.

Als dem Genre „Lied“ zugehörig, bildet „Running up that Hill“ eine Einheit aus (a) Text und (b) Musik, die in Form einer (c) besonderen klanglichen Atmosphäre präsentiert wird.

(a) Im Text besingt das lyrische Ich die Schwierigkeit der Verständigung unter Liebenden. Die Trennung von „You“ and „I“ wird schmerzlich als Unmöglichkeit erfahren, fühlend zu verstehen, was im jeweils anderen vor sich geht („Do you wanna know how it feels?“). Es ist von tiefsitzenden Projektilen, Donner im Herzen und von Hass für diejenigen, die man liebt, die Rede. Als Lösung wünscht sich das Ich jeweils im Refrain, einen Pakt mit Gott zu schließen, welcher es ermöglichen würde, dass die Partner ihre Rollen tauschen („swap our places“), also die Erfahrungen des jeweils anderen machen. Man könnte dann – so die metaphorische Vision – ganz leicht Berge und sogar Gebäude rennend erklimmen. Die Lyrics schildern dies nicht als runden Fließtext, sondern als kurze, fast fragmentierte Momentaufnahmen, die isoliert erscheinen und deren metrische (und prosodische) Akzente auf die emotiven und sensuellen Signalwörter fallen (feel, know, hurt, hear, deep, unaware, tearing you, asunder, thunder, so much hate, love).

(b) Musikalisch wird die textliche Anlage so umgesetzt, dass die fragmentierten Sätze keine „schöne“, schnell nachsingbare, also eingängige Melodie finden, sondern zumindest in den verses allenfalls deklamatorische Einwürfe. Die Melodie des Refrains setzt sich am ehesten im Ohr fest, fällt allerdings durch eine seltsam sprunghafte Intervallik auf. Weder in der Harmonik, die sich im Wesentlichen auf drei Akkorde beschränkt, zwischen denen sie pendelt, noch in der melodischen Fortschreitung kommt das Stück von der Stelle. Es bewegt sich im Kreis mit wenigen Ausreißern. Was die Hörer*in am stärksten in Beschlag nehmen wird, ist die ebenfalls auf der Stelle galoppierende Rhythmik aus Schlagzeug und Bass im Verbund mit den Synthesizer-Einwürfen, die in meinen Ohren etwas wie ein heiserer Seehund klingen und eine Art „Duettpartner“ zu Kate Bushs einzigartig timbrierter Stimme bilden.

(c) Die textlichen und musikalischen Gestaltungsmittel zusammen mit dem kühlen, künstlichen Sound des Arrangements erzeugen eine klaustrophobische Atmosphäre; der Sound des New Wave in den von sozialer Kälte geplagten 80ern. Man kreist um sich, kommt nicht weiter, tritt auf der Stelle, ist dabei dennoch sehr bewegt, emotional angestrengt, weil verletzt, unverständig und gegenseitig nicht wirklich zu Empathie fähig. Zeitweise Verstärkungen des Schlagzeugs und Basses (der Donner im Herzen?) und kreischende Einwürfe der E-Gitarre (die schmerzenden Projektile im Körper?) gegen Ende des Songs lassen die verzweifelte Suche nach einem Ausweg aus dieser Schreckenskammer im Inneren immer dringender erscheinen. Kälte und Distanz können den Schmerz nicht lindern, sondern verstärken die Sehnsucht nach etwas anderem, das man spüren kann.

In Stranger Things ist der Song der Figur Max (eigentlich Maxine) zugeordnet. Max hat am Ende von Staffel drei ihren Stiefbruder Billy verloren. Ihr Dilemma dabei ist, dass Billy einerseits einen gewalttätigen, fiesen Charakter hatte, der zudem im Dienst des Bösen stand, andererseits aber im Staffelfinale seine Besessenheit abschütteln konnte, sich für Max und ihre Freunde geopfert und sich im Sterben bei seiner Schwester entschuldigt hat. In Staffel vier ist Max daher von Gewissenbissen und Schuldgefühlen geplagt, weil sie Billy eigentlich verachtet hat. Anzeichen ihrer inneren Isolation, in die sie sich deshalb begibt, ist Kate Bushs Song, den sie permanent mit ihrem Kassetten-Walkman hört (und wir mit ihr). Als das „Monster“ Vecna sich ihrer bemächtigen möchte, hilft ihr dieser Song, Stärke und somit einen Ausweg aus seinem Einflussbereich zu finden. Er entwickelt sich im Verlauf der Staffel zum musikalischen Symbol für die Suche nach Auswegen, positiver Energie, nach einem „Deal with God“. Ist das der Versuch eines Vorschlags, mit den vielen Krisen der letzten Jahre umzugehen? Empathie, Solidarität, „exchange the experience“ und „we won’t be unhappy“? Vielleicht ist es kein Zufall, dass es gerade diese Teenager-Generation ist, die mit diesem Song so viel verbinden kann …

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Sommersemester 2022

25.-31. Juli 2022: ausgesucht von Michael Braun

Samuel Barber, Summer Music (Philharmonisches Bläserquintett Berlin)

Eigentlich sollte Samuel Barber ein Septett für Streicher und Bläser schreiben, so lautete jedenfalls der Auftrag der Chamber Music Society in Detroit, der 1953 an den Komponisten herangetragen wurde. Zur Uraufführung kam drei Jahre später ein reines Bläserquintett (Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott), das den Titel Summer Music trug.

Summer Music ist ein etwa elf Minuten dauerndes Schmuckkästchen der Klangwirkungen und Stimmungen, die der kammermusikalischen Bläserbesetzung entlockt werden. Jedes der Instrumente bekommt seine Momente im Vordergrund, wobei Barber von den Ratschlägen profitierte, die er sich von Mitgliedern des New Yorker Bläserquintetts einholte. Die Komposition ist ohne Satzzäsuren geschrieben, dennoch aber deutlich hörbar in unterschiedliche Abschnitte unterteilt, die ineinander übergehen. Ungefähr die erste Hälfte der Summer Music besteht aus einer symmetrisch angeordneten Abfolge aus drei kontrastierenden Abschnitten (A-B-C-B-A), deren Rahmengedanke elegisch und seufzerreich daherkommt. Zur originellen Melodik entsteht vor allem durch die Abwechslung profilierter Rhythmen und zahlreiche, oft dicht gedrängte Taktwechsel ein schillerndes Klangerlebnis, das als technisch anspruchsvoll gilt, dabei aber kaum je angestrengt wirkt.

Obwohl die Komposition Summer Music heißt, ist sie nicht offen programmatisch angelegt. Assoziationen mit der heißen Jahreszeit dürften sich aber auch ohne explizite Autorenhinweise mehr oder weniger von selbst ergeben, wobei uns allen freigestellt ist, wie weit wir unseren Deutungseifer im Privaten treiben wollen: Den schwermütigen Beginn („slow and indolent“) könnten wir als Darstellung drückender Hitze hören, unter der die zunehmend ermattenden Menschen zu leiden haben (Vivaldi hat mit einer ähnlichen Idee sein Sommer-Konzert beginnen  lassen) oder auch als Klagegestus angesichts dicht gedrängter Prüfungen in den letzten Tagen der Vorlesungszeit. Zum Glück bleiben heitere Momente nicht aus (Sommerfeste? der beschwingte Weg hinaus aus der Klausur?), und der luftige Schluss entlässt uns in die offenen Arme der kommenden Sommerwochen.

Ob es die Chamber Music Society dem Komponisten übelgenommen hat, dass ein Quintett statt des angefragten Septetts abgeliefert wurde, weiß ich übrigens nicht. Angesichts der Musik, die Barber komponiert hatte, wäre es jedenfalls etwas pedantisch gewesen.

Link zur Naxos Music Library, Tr. #1


18.–24.7.2022: Ausgesucht von Bettina Berlinghoff-Eichler

Fanny Hensel, Das Jahr (Wolfram Lorenzen, Klavier)

Weihnachten 1841 in Berlin, Leipziger Str. 3 – Fanny Hensel (1805–1847), die ältere Schwester Felix Mendelssohn Bartholdys, überreicht ihrem Ehemann Wilhelm, einem preußischen Hofmaler, als Geschenk einen Band mit der ersten Niederschrift ihres Klavierzyklus Das Jahr. 12 Charakterstücke für das Forte-Piano, verbunden mit der folgenden Widmung: „Dem Mann, der schon manches Jahr daher, / So lang ich ihm verbunden war, / Zum steten Festtag mir verkürzt, / Mit Poesie das Leben gewürzt, / Ihm sey gereicht, dem Ernsten, Tüchtigen, / Das spielende Bild des Jahres, des flüchtigen.“ Überklebungen und zahlreiche weitere Änderungen weisen darauf hin, dass sie irgendwann in den nächsten Monaten den Zyklus überarbeitet, doch ist sie keineswegs zufrieden mit dem Ergebnis und erstellt noch 1842 eine später in Leder gebundene Reinschrift, für die sie ein neues, leichteres Stück für den Monat Juni komponiert. Wie in der Reinschrift des Reisealbums 1839/40 zeichnet Wilhelm Hensel auch hier Vignetten vor jedem Monatsstück. Die Musik jedes Monats ist darüber hinaus auf andersfarbigem Papier geschrieben; vorangestellt sind den Monaten Januar bis November jeweils einige Verse aus Gedichten von Ludwig Uhland, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Joseph von Eichendorff und Ludwig Tieck bzw. aus Goethes Faust I und II. Vor dem Dezember ist schließlich der Beginn des Chorals „Vom Himmel hoch“ abgedruckt, mit dessen Variation der Satz vor dem Nachspiel endet. Diese Verse sollen ebenso wie die Vignetten auf das folgende Klavierstück einstimmen und erzeugen in Verbindung mit der Musik beinahe kleine Gesamtkunstwerke (D-B, MA Ms. 155; Digitalisat, Faksimile-Ausgabe Kassel 2000). In dieser zweiten Fassung wurde Das Jahr im Jahr des Ankaufs durch die Deutsche Staatsbibliothek 1997 im Konzerthaus Berlin erstmals in der Öffentlichkeit aufgeführt. Vor diesem Zeitpunkt entstandene Einspielungen können daher nur die erste Fassung mit den Korrekturen wiedergeben. Dass die Reinschrift im Übrigen eher für den privaten Gebrauch bestimmt war, belegt ein Brief Fanny Hensels an einen befreundeten Maler vom 11. November 1841, in dem sie ankündigt, die 12 Klavierstücke nach der Fertigstellung sauber abzuschreiben und sie mit Vignetten verzieren zu lassen: „So suchen wir uns das Leben zu zieren u. zu verschönern, das ist der Vorzug der Künstler, daß sie solche Verschönerungen rings um sich her streuen, u. alle die daran Antheil nehmen lassen können, die ihnen irgend nahe stehn.“

In der Geschichte der Klaviermusik stellte eine nach den Monaten des Jahres geordnete Folge von 12 Klavierstücken (nebst einem Nachspiel) ein absolutes Novum dar. Entstanden sind diese Stücke, wenn man den Datierungen in der ersten Niederschrift vertraut, zwischen dem 28. August und dem 23. Dezember 1841. Ob Fanny Hensel die in der Reinschrift abgedruckten Verse, die das Verständnis des jeweiligen Stückes – zum Beispiel beim Anhören des in düster-melancholischer Stimmung beginnenden Juli – erleichtern, bereits beim Komponieren im Sinn hatte, wissen wir leider nicht. Dokumentiert ist auch nicht, ob sie den vollständigen Zyklus im Rahmen von Sonntagsmusiken oder zu anderen Gelegenheiten selbst spielte. Einem Brief ihrer Mutter Lea Mendelssohn Bartholdy ist immerhin zu entnehmen, dass sie das Mai-Stück in der Sonntagsmusik am 1. Mai 1842 aufführen wollte.

Für jedes der 13 kurzen „Charakterstücke“, die durch motivische Verwandtschaften und Übergänge zyklisch miteinander verknüpft sind, wählte Fanny Hensel – und das ist ungewöhnlich genug – eine andere Tonart, beginnend in H-Dur und endend in a-Moll, wobei das Ende des einen Monatsstückes in der Regel im Quint- oder Terzverhältnis zum folgenden Stück steht. Einige Monate, darunter Januar und Februar, folgen sogar attacca aufeinander. Zwei Stücke weisen bereits durch ihre Titel auf vokale Vorbilder hin: Nr. 5 „Frühlingslied“ und Nr. 6 „Serenade“, doch auch der September, den Fanny Hensel später – ohne Titel – in den Liedern für das Pianoforte op. 2 veröffentlichte, ist als Lied ohne Worte konzipiert. In den Sätzen März, Dezember sowie im Nachspiel weist sie durch das Einbinden von Chorälen („Christ ist erstanden“, „Vom Himmel hoch“ und „Das alte Jahr vergangen ist“) auf die in diesen Monaten stattfindenden Kirchenfeste hin. Aufmerksamen Hörer*innen wird darüber hinaus nicht entgehen, dass vor den einzelnen Choralversen im Nachspiel ritornellartig der Beginn des Eröffnungschores der Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs wiederkehrt, ein Werk, mit dessen Wiederaufführung unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy im Jahr 1829 eine Bach-Renaissance eingeläutet worden war.

Link zur Naxos Music Library, Tracks #1-13 (Erste Einspielung der Fassung der Reinschrift)


4.–11. Juli 2022: ausgesucht von Michael Braun

G. F. Händel, „Let rolling streams their gladness show“ (Ode for the Birthday of Queen Anne) (David Thomas, James Bowman, Simon Preston, Choir of Christ Church Cathedral, Academy of Ancient Music)

Zum 48. Geburtstag der britischen Königin Anne (1665–1714) komponierte Georg Friedrich Händel 1713 eine Geburtstagsode, deren Text Ambrose Philips verfasst hatte. Diese Kantatenkomposition zelebrierte nicht nur den königlichen Geburtstag (6. Februar), sondern gleichzeitig auch den Frieden von Utrecht (11. April), mit dem Großbritannien unter vorteilhaften Vertragsbedingungen aus dem Spanischen Erbfolgekrieg ausgeschieden war. Händel stand mit seinem Werk in der Tradition der „Court Odes“, die als Gelegenheitskompositionen vor allem für königliche Geburtstage und Rückkehrfeierlichkeiten seit Generationen gepflegt wurde, auch wenn ihre eigentliche Blütezeit – gemeinsam mit anderen Erscheinungsformen der repräsentativ-unterhaltenden Musikkultur am englischen Königshof – schon Ende des 17. Jahrhunderts zu Ende gegangen war.

Philips‘ Libretto besteht aus sieben vierzeiligen Strophen (im Kreuzreim), die jeweils vom zweizeiligen Refrain „The day that gave great Anna birth, Who fix’d a lasting peace on Earth“ abgeschlossen werden. Händel setzte die Textvorlage in einer kantatenhaften Mischung aus orchesterbegleiteten Chören, Ensembles und Solostücken um. Die Refrainzeilen brachte er dabei nicht in eine gleichbleibend wiederholte Form, sondern vertonte sie bei jedem Auftreten unter Aufbietung verschiedener Besetzungsmöglichkeiten neu.

Die vierte Strophe „Let rolling streams their gladness show“ ist als Duett von Bass und Alt über einem Bass-Ostinato des Orchesters umgesetzt, über dem sich ein virtuoser freier Kontrapunkt der beiden Singstimmen entfaltet. Dieses Ostinato, zusammengebaut aus Oktavsprüngen und Skalenausschnitten, die allesamt abwärts gerichtet sind, scheint bestimmt zu sein, immer weiter nach unten zu führen, um irgendwann aus dem hörbaren Bereich zu verschwinden – was wegen Registerwechsel und hinzutretenden Instrumenten aber natürlich nicht passiert (da könnte der Gedanke an eine Shepard-Skala kommen). Händel lässt das Ostinato nicht unverändert, geht pragmatisch mit ihm um und verlässt mit ihm sogar die Ausgangstonart G-Dur, wenn er es nach drei Komplettdurchläufen zuerst nach D-Dur, dann e-Moll lenkt. Das ist ein wesentlicher Grund, warum der Einsatz des Chores, der mit den Refrainzeilen „The day that gave …“ den Satz beschließt, so effektvoll ist; er fällt zusammen mit der Rückkehr aus der parallelen Molltonart zur Ausgangstonart G-Dur. Kombiniert mit dem Reiz des tänzelnden Ostinatos, das nach dem melismenreichen Duett nun wieder in Ursprungsgestalt erscheint und jetzt auch den homophon dahinströmenden Chorsatz auf seinen Schultern trägt, ist das für mich ein herrlicher Moment – deshalb auch die Wahl dieser Aufnahme unter der Leitung des im Mai 2022 verstorbenen Simon Preston, die ein langsameres Tempo nimmt als andere Einspielungen (und damit ein wenig auf den rhythmischen Vorwärtstrieb des Ostinatos verzichtet), dafür aber dem Chorklang im Schlussabschnitt des Satzes mehr Raum lässt, um sich entfalten zu können. Und schon früher habe ich es immer dankbar hingenommen, dass die abschließende Refrainzeile hier, statt irgendeine devote Demutsformel zu bringen, einen „bleibenden Frieden auf Erden“ besingt.

Link zur Naxos Music Library, Track #4


20.–26. Juni 2022: ausgesucht von Lukas Fröhlich

Bathory, Call From The Grave (Album Under the Sign of the Black Mark)

Der alte Friedhof liegt still im fahlen Mondlicht und erscheint ebenso tot wie die menschlichen Überreste, die er beherbergt. Doch der Schein trügt. Denn wer aufmerksam lauscht, hört ein leises Geräusch; ein gedämpftes Pochen und Klopfen und das Scharren von Fingernägeln über Holz, das gespenstisch und unheilvoll aus der schwarzen Erde eines namenlosen Grabes dringt. Und tatsächlich ist in diesem Grab die Hölle los. Der schon seit tausenden Jahren dort begrabene Mann hat nämlich das Problem, unsterblich zu sein und wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich die ewige Ruhe zu finden – selbst die Schrecken der Hölle würde er seiner jetzigen Situation vorziehen. Doch sein Flehen zu Gott bleibt unerhört und sein Leiden scheinbar endlos.

Diese Geschichte erzählt die schwedische Band Bathory im Stück Call From The Grave auf ihrem dritten Album Under the Sign of the Black Mark aus dem Jahr 1987. Doch während sich das lyrische Ich nach dem Tod sehnt, ist mit diesem Stück zugleich auch etwas geboren: der Black Metal. Selbstverständlich ist es immer sehr schwer bis unmöglich, einen konkreten Startpunkt eines Musikgenres zu finden, doch ist Call From The Grave wohl das erste Stück, das man ohne weitere Rechtfertigung dem Black Metal zuordnen kann. Wurde der Begriff „Black Metal“ seit den frühen 80er Jahren noch als Name für eine besonders düstere und rohe Spielart des Thrash Metal verwendet (vertreten durch Bands wie Venom, Hellhammer, Sodom und andere), so fügten Bathory diesem Stil zahlreiche Elemente hinzu, die ihn vom herkömmlichen Thrash unterschieden. In Call From The Grave sind schließlich erstmals nahezu alle Merkmale vorhanden, die den Black Metal als eigenständiges Genre definieren: die verzerrte, höhenlastig klirrende Gitarre, die Gesangstechnik des Screaming, Fokus auf Melodik und Wiederholung und die Verwendung von vollständigen Dreiklängen anstelle von den im Thrash und anderen Metal- oder Rock-Genres üblichen Powerchords. Lediglich das genretypische Gitarrentremolo findet sich hier nicht. Was sich dagegen bereits abzeichnet, ist das Selbstverständnis des Black Metal als ernste (und ernstgemeinte) Musik mit intellektuellem Anspruch. Zum einen zeigt sich dies durch den Text, der anstelle von provokantem Show-Satanismus à la Venom doch auch die eine oder andere philosophische Frage beim Hörer aufwirft (Ist ein Leben ohne Tod überhaupt ein Leben?), zum anderen zeigt es sich aber auch am musikalischen Höhepunkt des Stücks, der eine mit Sicherheit allbekannte, tatsächlich aus der klassischen Musik stammende Melodie zitiert – oder vielleicht sogar pervertiert, so wie das Leben des lyrischen Ichs durch seine Unsterblichkeit zu einer perversen Parodie des Todes geworden ist.

YouTube-Link


13.–19. Juni 2022: ausgesucht von Angelina Sowa

Heinrich Isaac (zugeschrieben), Morte che fay (Daedalus, Roberto Festa)

Welch tröstende Kraft der Musik innewohnen kann, dürfte sich wohl einem jeden erschließen, der sich ihr in einer Situation des Trauerns anvertraut hat. Unterstützend und mitfühlend zugleich, vermag sie emotionale Tiefen empathisch zu begleiten und als äußerer Beistand dabei den zermürbenden Gefühlen ein Ventil geben. Verständnisvoll kann sie sich als treuer Begleiter auf dem individuellen Weg der Trauerverarbeitung erweisen und nicht zuletzt als sicherer Anker den Betroffenen einen entscheidenden Rückhalt gewähren. Wer also wenn nicht sie scheint sich besser zu eignen, um sich der wohl schmerzhaftesten aller emotionalen Erfahrungen – der Konfrontation mit dem endgültigen Abschied – zu stellen?

Dieser Erkenntnis vermögen freilich eine Vielzahl von Komponistinnen und Komponisten gefolgt zu sein und doch gibt es wenige Stücke, die sich mir mit einer vergleichbaren Emotionalität eröffneten wie dieses:

„Tod was machst Du?“ lauten die eindringlichen ersten Worte des italienischen Dichters Serafino Aquilano in einem berühmten Gedicht aus dem Quattrocento. Verfasst in der damals durchaus populären strambotto-Form (bestehend aus nur einer einzigen Strophe mit acht 11-silbigen Zeilen), dürfte den Lesenden der Schmerz des in Trauer versunkenen lyrischen Ichs nahezu greifbar werden, während der unerbittliche Tod in Form einer Apostrophe direkt angesprochen wird. Durchdrungen von hoher rhetorischer Kraft weist das Gedicht die poetische Form einer Stanze auf und unterstreicht zugleich in seiner einstrophigen Anlage den bitteren Charakter einer von Hoffnungslosigkeit getragenen Kommunikation.

Dokumentiert sich also bereits in der dichterischen Vorlage ein trostloses Zeugnis für die Rigorosität des Todes, so dürfte sich in den drei erhaltenen Vertonungen eben jenes Gedichtes die Bewusstseinslage noch einmal intensivieren. Überliefert im Cancionero de Segovia – einem Manuskript mit Werken aus dem späten 15. und frühen 16. Jahrhundert – findet sich unter ihnen auch eine Heinrich Isaac zugeschriebene Vertonung des Textes, die in ihrem homophonen italienischen Stil gleichsam isoliert im übrigen Repertoire der Handschrift zu stehen scheint. Als ausgefeilte musikalische Miniatur lädt die dreistimmige Komposition zu einer ergreifenden Auseinandersetzung mit der Unwiderruflichkeit des letzten Abschieds ein, die nicht zuletzt in den kraftvollen musikalischen Gesten ihren Ausdruck findet. So vermögen die ausgedehnten sequenziellen Melismen am Ende einer Phrase den Tod gewissermaßen mit rhetorischer Beredsamkeit um Einhalt zu bitten, bevor die Kompromisslosigkeit desselben musikalisch untermauert wird. Das Forschen nach dem Wirken des Todes wird somit in der klingenden Umsetzung zu einer rein rhetorischen Frage.

YouTube-Link zu einer Aufnahme des Ensembles Daedalus unter Roberto Festa


6.–12. Juni 2022: ausgesucht von Peter Thoma

Charles Mingus, Fables of Faubus (Album Mingus Ah Um)

Charles Mingus (1922–1979) gilt als eine der exzentrischsten Figuren der Jazzgeschichte. So beschimpfte der Kontrabassist, Komponist und Bandleader während seiner Konzerte häufig das (seiner Meinung nach respektlose) Publikum oder seine Bandmitglieder, wenn sie nicht so agierten, wie er sich das vorstellte. Auf einer Europa-Tournée im Jahr 1964 beispielsweise bezeichnete er das Publikum in Bremen wohl aus einer üblen Laune heraus als Nazis, woraufhin der hervorragende und selbst sehr bedeutende Altsaxophonist Eric Dolphy schwor, nie wieder mit Mingus aufzutreten. (Er verließ Mingus’ Band tatsächlich, blieb in Europa und starb überraschend im Juni 1964 in West-Berlin.) Mingus konnte seine Emotionen sowohl im Alltag als auch auf der Bühne zeitlebens schwer kontrollieren und zertrümmerte bei einigen Auftritten seinen Bass auf der Bühne. In den 1960er Jahren war er zeitweise in einer psychiatrischen Klinik und nahm Beruhigungsmittel. Vermutlich litt er unter einer klinischen Depression. Mingus war sich seiner schwierigen Persönlichkeit durchaus bewusst und bereute sein Handeln oft im Nachhinein. Nichtdestotrotz gehört Mingus zu den wichtigsten Jazzmusikern des Hardbop. Er beherrschte sein Instrument virtuos, sowohl gezupft als auch gestrichen. Seine Kompositionen waren beeinflusst von Gospel, Free Jazz aber auch von klassischer Musik.

Der Titel der Komposition Fables of Faubus, die 1959 auf dem Album Mingus Ah Um erschien, lässt erst einmal eine harmlose märchenhafte Geschichte vermuten, die nun musikalisch erzählt wird. Es handelt sich bei dem äußerst interessanten Stück allerdings um ein Statement gegen die Rassendiskriminierung in den USA zur damaligen Zeit. So bezieht sich der Titel auf den Gouverneur von Arkansas Orval E. Faubus, der 1957 mit Hilfe der Nationalgarde die Rassenintegration an einer Schule in Little Rock zu verhindern suchte (letztendlich erfolglos). Zunächst hatte das Stück noch gar keinen Namen. Mingus forderte seinen Schlagzeuger Dannie Richmond auf, er solle ihm jemand Lächerliches nennen. So kam der Name des Gouverneurs Faubus ins Spiel. Diese Lächerlichkeit zeigt sich musikalisch in der fast schon „zickigen“ Phrasierung des A-Teils im Thema, während die erste Hälfte der Bridge sehr lyrisch gehalten ist, um in der zweiten Hälfte in ein kurzes Double Time Feel mit Kollektivimprovisation zu münden, das über seufzende „Schreie“ der Posaune und des Altsaxophons wieder zum A-Teil zurückführt. In den Soli experimentiert Mingus vor allem mit abrupt wechselnden Grooves. Mingus benutzte immer wieder ähnliche experimentelle Techniken und den Effekt von Kollektivimprovisationen (die es auch schon im frühen Jazz gegeben hat) bis hin zu Elementen des Free Jazz in seinen Kompositionen. So wurde das Album Mingus Ah Um mit Fables of Faubus ein äußerst wichtiges Werk der damaligen Avantgarde im Jazz.  

Link zur Naxos Music Library Jazz, Track #7


30.5.–5.6.2022: ausgesucht von Andreas Wehrmeyer

Jan Dismas Zelenka, Responsoria pro Hebdomada Sancta (Collegium 1704 & Collegium Vocale 1704, Václav Luks)

Der aus Böhmen stammende Jan Dismas Zelenka (1679–1745) wirkte von 1710 bis an sein Lebensende an der Dresdner Hofkapelle, unterbrochen nur von einem Studienintermezzo 1716 bis 1719 bei J. J. Fux in Wien. Zelenka lieferte seit 1722 (in schon fortgeschrittenem Alter) fortlaufend Werke für den katholischen Hofgottesdienst, was ihm 1735 den Titel eines „Kirchen-Compositeur“ eintrug, auf den er großen Wert legte. Zelenka ist ein eigenwilliger Komponist von Rang und als solcher inzwischen allgemein anerkannt. Hinsichtlich einer Breitenwirkung steht er im Schatten der Zeitgenossen J. S. Bach, G. F. Händel, G. Ph. Telemann und anderer. Eine zeitgenössische Rezeption Zelenkas fand so gut wie nicht statt. Zwar setzte sich Telemann (erfolglos) für eine Drucklegung von Zelenkas Responsorien ein, und auch J. S. Bach hat seine Musik, die ihm in Abschriften bekannt wurde, geschätzt. Ob sie sich je begegnet sind, steht nicht fest.

Zelenkas Musik wurde erst im 20. Jahrhundert (wieder-)entdeckt, erstaunlicherweise über die (in seinem Œuvre nur spärlich vertretene) Instrumentalmusik. Wichtige Impulse gaben der heute vergessene Musikhistoriker Camillo Schoenbaum (1925–1981), der erste Werkausgaben der Triosonaten und der Orchester-Capricci vorlegte, und der Oboist Heinz Holliger mit noch immer authentisch klingenden Sonaten-Einspielungen.

Über zahlreiche Messordinariums-Kompositionen hinaus schuf Zelenka vor allem Litaneien, Werke für die Vesper und für die Karwoche. Zu seinen beeindruckendsten Schöpfungen gehören die 1723, bald nach seiner Rückkehr aus Wien entstandenen dreimal neun Responsorien für das Triduum der Karwoche (Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag), die Responsoria pro Hebdomada Sancta (Zelenka-Werkverzeichnis 55) für gemischten Chor und Generalbass. Das ist einerseits funktionsgebundene liturgische Musik, die aber genauso gut als autonome ästhetische Einheit gehört werden kann – „als eine Art ‚Passion‘“ (Wolfgang Horn) – und damit als Alternative zu mancherlei ritualisierten Passions-Aufführungen Bachscher Werke u. a. noch zu entdecken wäre.

Zelenka ist ein kühner Ausdruckskünstler, der kontrapunktische Meisterschaft und harmonischen Erfindungsreichtum zu verschmelzen versteht, wobei das klangliche Moment, aus dem die „thematische“ Erfindung sich ableitet, stets das im Vordergrund stehende primäre ist. Man höre z. B. auf die chromatisch-affektgesättigten Soggetti in den Responsorien 19 („et inter sceleratos“ [CD 2, Track 15]), 20 („quia inter occisus est“ [CD 2, Track 17]) und 23 („et videte dolorem“ [CD 2, Track 23]). Die äußere Hülle des „stile antico“ ist hier mit gewagter, manieristisch anmutender Klangtechnik gefüllt. Anderseits gibt es ergreifend-schöne homophone Passagen, meist melancholischen Charakters (eines Grundzugs der Werke Zelenkas), z. B. im Responsorium 27 („Sepulto Domino“ [CD 2, Track 31]).

Zeitgenössisches Stimmenmaterial bezeugt, dass die Responsorien zu ihrer Zeit mit einer reichen und differenzierten instrumentalen Colla-parte-Besetzung aufgeführt wurden. Leider sind die Originalstimmen bei der Bombardierung Dresdens 1945 verloren gegangen. Klanglich geschulte Chorensembles können das Werk, sofern sie in der Lage sind, Tutti- und Solo-Passagen in Dynamik und Klang strukturscharf zu differenzieren, selbstverständlich auch mit minimaler Generalbass-Fundierung aufführen und auf diese Weise im Idealfall zu faszinierender Wirkung bringen.
Für diejenigen, die sich näher mit den Responsorien auseinandersetzen möchten: Das Werk liegt in einer vorbildlich kommentierten Erstausgabe im Carus-Verlag vor – eine Edition von Wolfgang Horn (der ein bedeutender Zelenka-Forscher war) in Zusammenarbeit mit Thomas Kohlhase:

Jan Dismas Zelenka, Responsoria pro Hebdomada sancta (Responsorien für die Karwoche) (ZWV 55), 27 Responsorien für die Matutin-Nokturnen zum Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag für gemischten Chor und Basso continuo, CV 40.466, Stuttgart 1995.

Link zur Naxos Music Library


23.-29.5.2022: ausgesucht von Simon Hensel

Kendrick Lamar, Album To Pimp a Butterfly (2015)

Kendrick Lamar hat vor etwas mehr als einer Woche, fünf Jahre nach DAMN. sein nun fünftes Studioalbum Mr. Morale & the Big Steppers veröffentlicht. Der Augenblick könnte für mich also nicht besser sein, noch einmal auf das Album zurückzuschauen, durch das ich nicht nur Lamars Musik kennengelernt, sondern auch meine Liebe zum Hip-Hop wiederentdeckt habe: To Pimp a Butterfly. Ich hatte damals mehr als einmal gehört, dass das Album jetzt schon als eine der wichtigsten Hip-Hop- und sogar Jazz-Veröffentlichungen des 21. Jahrhunderts betrachtet werden muss. Obwohl ich das beim ersten Hören natürlich noch nicht beurteilen konnte, wurde ich von Beginn an in den Bann der Musik gezogen. Die Beats verweisen häufig auf ältere Hip-Hop-Klänge, z. B. den West Coast Gangsta Rap der 1990er Jahre (auch ‚G-Funk‘ genannt) in der Eröffnungsnummer „Wesley’s Theory“, aber auch auf ‚echten‘ Funk und vor allem Jazz und Fusion. Die ‚Jazziness‘ des Albums ist nicht verwunderlich, wenn Produzenten und Musiker wie Flying Lotus, Terrace Martin, Thundercat, Robert Glasper und Kamasi Washington beteiligt sind, die schon lange für ihre Crossover-Projekte zwischen Jazz, Hip-Hop und R&B bekannt sind. Anders als beim frühen Jazz Rap, wo meist mit Samples älterer Aufnahmen gearbeitet wurde, verleihen die Performances der genannten und weiterer Musiker*innen dem Album einen lebendigen, organischen Sound, der sich in jedem Song auf eine etwas andere Weise entfaltet. Obwohl es bereits früher Projekte gab, die Rap und Live-Jazz zusammenbrachten (wie Gurus Jazzmatazz, 1993–2007), nimmt To Pimp a Butterfly doch eine Sonderstellung ein, da es sich bei den Beteiligten um Jazzmusiker*innen handelt, die bereits selbst stark vom Hip-Hop beeinflusst wurden. Man könnte sagen, dass sich auf die Weise der Kreis der Inspiration wieder schließt bzw. in eine Spirale mündet.

Zusätzlich zu den ‚im Hintergrund‘ beteiligten Musiker*innen ist auch die Auswahl der ‚Features‘ (also die in der Tracklist erwähnten Gast-Rapper*innen und -Sänger*innen) durch Lamar bemerkenswert, dem schon in Bezug auf sein zweites Album Good Kid, M.A.A.D. City (2012) nachgesagt wurde, dafür ein gutes Händchen zu haben. Von Funk- und Soul-Legenden George Clinton und Ronald Isley über R&B-Sänger Bilal bis hin zu der damals noch relativ unbekannten Rapperin Rapsody tragen Vertreter*innen verschiedener Genres und Generationen ihren Teil zu den Songs von To Pimp A Butterfly bei. Der Gastauftritt von Gangsta Rap-Urgestein Snoop Dogg in „Institutionalized“ zeigt darüber hinaus, dass Lamar die Auswahl der Features auch nutzt, um die Inhalte seiner Songs zu untermauern. So geht es im genannten Track darum, was es bedeutet, im Ghetto von Compton (CA) aufzuwachsen und in diesen Lebensumständen gefangen zu sein, was in vielen Fällen zu dem im Gangsta Rap zelebrierten gewaltverherrlichenden, statusfixierten Lifestyle führt. Diese Thematik wird explizit als Retrospektive dargestellt, was sich vor allem in der ersten Zeile von Snoop Doggs Strophe zeigt: „Once upon a time, in a city so divine / Called West Side Compton [...]“.

Wie bisher alle Studioalben von Kendrick Lamar ist auch To Pimp a Butterfly ein Konzeptalbum. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Good Kid, M.A.A.D. City, welchem eine fast lineare Handlung zu Grunde lag, verbindet es seine Songs selten direkt miteinander. Stattdessen taucht zwischen ihnen immer wieder ein Gedicht auf (interessanterweise sagt Lamar selbst am Ende des Albums „it ain’t really a poem“). Am Anfang sind es nur zwei Zeilen, beim nächsten Mal kommen zwei weitere Zeilen hinzu: Jedes Mal beginnt Lamar von vorne und fügt so nach und nach das Gedicht zusammen, das man in seiner Ganzheit erst in „Mortal Man“, bereits nach Ende des letzten Songs zu hören bekommt. Die jeweilige Stelle, an der das Gedicht abbricht, verweist auf den Inhalt des darauffolgenden Songs. Im Gedicht wie in den Songs geht es um Lamars Auseinandersetzung mit seinem eigenen Erfolg, seinem Einfluss und der damit einhergehenden Verantwortung, außerdem Depression, Rassismus und Bandenkriege. Lamar setzt sich detailliert mit jedem dieser Themen auseinander, beleuchtet sie von verschiedenen Seiten und verpackt seine Gedanken in intelligente Reime und Wortspiele sowie virtuose und abwechslungsreiche ‚Flows‘ bzw. Rhythmen.

Zu guter Letzt müsste ich noch den vermeintlichen, als Schmetterling getarnten „elephant in the room“ ansprechen: den Titel des Albums. Gleichzeitig würde ich das aber auch gerne vermeiden, um euer und Ihr Hörerlebnis von To Pimp a Butterfly nicht zu beeinträchtigen. Die ersten Male, als ich das Album anhörte, wurde mir nicht klar, was der Titel bedeuten soll. Das lag vor allem daran, dass das Album mit fast 1,5 Stunden eine beachtliche Länge besitzt und ich ¬– wie Lamar mit seinem Gedicht – in den ersten Sitzungen nie bis zum Ende kam, aber dennoch immer wieder von vorne begann. Die Bedeutung des Albumtitels wird allerdings erst ganz am Ende offenbart, nach dem vollständigen Vortrag des Gedichts und einem narrativen Twist, den ich hier ebenfalls nicht vorwegnehmen möchte. Kurz gesagt gelingt es Lamar mithilfe des Albumtitels und dieses Twists, seine persönlichen Erfahrungen mit den universellen Erfahrungen afroamerikanischer Rapper*innen, Musiker*innen und Künstler*innen zu verknüpfen, die ebenfalls aus schwierigen Verhältnissen stammen. Aufgrund dessen und der musikalischen Qualitäten des Albums gilt To Pimp a Butterfly meiner Meinung nach zurecht als eines der bedeutendsten Hip-Hop-Alben dieses noch jungen Jahrhunderts.

Hörempfehlung: „Institutionalized“ & „Alright“


16.-22.5.2022: ausgesucht von Katelijne Schiltz

John Dowland, Lachrimae (The Dowland Consort)

Alles fing an mit einem Stück für Laute solo, der Pavane Lachrimae, die der englische Komponist John Dowland (1563–1626) in seinem sehr erfolgreichen Second Booke of Songs or Ayres (London, 1600) unter dem Titel Flow my teares für zwei Stimmen und Laute bearbeitete. Nach wieder einigen Jahren sollte Dowland das Tränenthema noch einmal aufgreifen und es zu einem siebenteiligen Zyklus ausbauen: die Lachrimae, or Seaven Teares Figured in Seaven Passionate Pavans für fünf Gamben und Laute eröffnen eine Sammlung, die Dowland 1604 Anne von Dänemark, Schwester seines damaligen Brotherrn Christian IV. und Ehefrau des englischen Königs James I. gewidmet hat.

Wie das bereits in der Version für Laute und in Flow my teares der Fall war, steht ein melodisch und rhythmisch charakteristisches Motiv am Anfang jeder Pavane, womit gleichzeitig die zyklische Anlage der Lachrimae betont wird: eine (zweifellos die herunterrollenden Tränen darstellende) absteigende Quarte a-g-f-e, die sich meistens im Cantus oder im Altus befindet, bezeichnenderweise bei der letzten Pavane, den Lachrimae verae, im Bassus erklingt. Und wie typisch für diese Tanzform, ist jede Pavane dreiteilig, wobei jeder Teil wiederholt wird und zu Verzierungen einlädt.

„Aut Furit, aut Lachrimat, quem non Fortuna beavit“ (Wen das Schicksal nicht gesegnet hat, der rast entweder oder vergießt Tränen) – dieses lateinische Epigramm, das auf der Titelseite des Drucks erscheint, ist geradezu emblematisch für den Charakter der sieben Pavanen. Die Lachrimae sind ein musikalischer Ausdruck par excellence der Melancholie – einer schwer definierbaren Gemütsstimmung, die sich zu der Zeit in England zu einem wahren Kult entwickelte und nur wenig später von Robert Burton in seiner berühmten Anatomy of Melancholy als medizinisches, philosophisches und historisches Phänomen ausführlich analysiert wurde.

Mit seinem Zyklus von sieben Lachrimae (die Zahl dürfte kaum Zufall sein und wurde von Forscher:innen nicht umsonst immer wieder mit den sieben Bußpsalmen in Verbindung gebracht) präsentiert Dowland nun, so könnte man fast sagen, eine Art „Anatomie der Tränen“, trägt doch jede der Lachrimae einen eigenen Titel (Antiquae, Antiquae Novae, Gementes, Tristes, Coactae, Amantis, Verae). Das typologische Spektrum reicht also von alten über seufzenden und traurigen bis hin zu erzwungenen, liebenden und wahren Tränen. Auch im Vorwort zu seiner Sammlung schreibt Dowland, dass Tränen unterschiedlicher Natur sein können: „Though the title doth promise teares, unfit guests in these joyfull times, yet no doubt pleasant are the teares which Musicke weepes, neither are teares shed always in sorrow, but some time in joy and gladness“.

Dowlands Lachrimae genossen nicht zuletzt im Zuge des „early music revival“ große Beliebtheit. So gab Benjamin Britten 1950 seinem Opus 48 (für Bratsche und Klavier) den Titel Lachrymae. 1976, im Jahr seines Todes, arrangierte er den Klavierpart für Streichorchester. Es handelt sich um eine Reihe von Variationen, bei der die originale Gestalt des Themas allerdings erst am Ende „preisgegeben“ wird (dieses Thema ist jedoch, anders als es der Titel vermuten lässt, der Lute song If my complaints could passions move, während Flow my teares nur in der sechsten Variation zu hören ist) – eine Idee, die Britten in seinem Nocturnal after John Dowland op. 70 für Gitarre (1963) nochmals anwenden sollte.

Wie bereits ein flüchtiger Blick bei Youtube oder Spotify bestätigt, sind Dowlands Lachrimae unzählige Male aufgeführt worden. Und wie das halt so ist, sind es oft die Aufnahmen, die einen schon seit früher Kindheit begleiten, zu denen man immer wieder greift. In meinem Fall ist es eine im Jahr 1985 produzierte Einspielung mit The Dowland Consort, einem auf Instrumentalmusik des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts spezialisierten Gambenconsort unter der Leitung des Lautenisten Jakob Lindberg, die mich mit ihrem besonders warmen Klang maßlos begeistert und die melancholische Stimmung der Lachrimae wunderbar einzufangen weiß.

Link zur Naxos Music Library, Track 1–7


9.-15.5.2022: ausgesucht von Patrick Ehrich

John Scofield, Ideofunk (John Scofield Band)

Mit dem Künstler John Scofield verbindet mich eine fast 30 Jahre alte Geschichte. Wen diese nicht und stattdessen nur die Musik interessiert, die oder der möge ganz nach unten zum letzten Absatz springen …

Im April 1992 reiste ich mit meinem Cousin und meiner Großmutter nach Bergen, Norwegen, um dort Urlaub zu machen (eine Hurtigruten-Reise, als das noch nicht trendig war …). Ein Teil dieser Anreise bestand darin, von Hamburg nach Bergen zu fliegen. Wir reisten in einem sehr kleinen Flugzeug mit nur wenigen anderen Passagieren. Darunter war auch ein Trio von Musikern. Damals spielte ich schon seit ein paar Jahren Gitarre und hatte gerade meine erste Rock-Cover-Band gegründet. Mit den meisten „berühmten Rockmusikern“ der damaligen Zeit war ich recht gut vertraut, aber von dieser Gruppe erkannte ich niemanden. Trotzdem dachte ich mir, dass zumindest der Gitarrist ziemlich erfolgreich sein musste, denn er hatte einen Platz im Flugzeug neben sich, der nur für seine Gitarre reserviert war.

Die frühen 90er Jahre waren auch die Zeit der Musikkassetten und des Walkmans. Ich hatte einen dabei, und hörte damals ständig eine Kassette, die mir mein Gitarrenlehrer gemacht hatte. Darauf zu hören war ein Live-Bootleg des damaligen Mister-Big-Gitarristen Paul Gilbert, der bei einem Konzert alte Jimi-Hendrix-Stücke spielte. Ich kannte die Hendrix-Originale, fand aber auch das Gilbert-Live-Bootleg ziemlich gut. Da ich 15 war und voller unbekümmertem jugendlichen Leichtsinn, sprach ich den mir unbekannten und möglicherweise berühmten Gitarristen im Flugzeug an und fragte ihn, ob er sich mein cooles Tape anhören wolle … Rückblickend eine etwas peinliche Aktion, aber ich war jung …

Jedenfalls war Mister „unbekannter-vielleicht-aber-berühmter-Gitarrist“ sehr nett und sehr freundlich, stoppte seinen Walkman, nahm die Kassette heraus, die er gerade hörte, und legte meine ein. Am Ende des Fluges gab er mir meine Kassette zurück, und wir unterhielten uns kurz darüber, ob mir die Hendrix-Originale besser gefielen als die Paul-Gilbert-Cover oder nicht. Als wir aus dem Flugzeug stiegen, konnte ich einen Blick auf das Namensschild seiner Gitarrentasche werfen. Darauf stand: „John Scofield, New York“. Ich hatte noch nie von einem John Scofield gehört.

Zwei Wochen später: Ich war auf der Rückreise von Norwegen und wartete mit meiner Großmutter und meinem Cousin am Hamburger Hauptbahnhof auf unseren Zug zurück nach Regensburg. Um mir die Zeit zu vertreiben, kaufte ich mir die neueste Ausgabe der Zeitschrift „Gitarre und Bass“. Dort wurden in einem Beitrag alle Gitarristen vorgestellt, die einmal in einer der Bands von Miles Davis gespielt hatten. Ein Name sprang mir sofort ins Auge: John Scofield! Ich erinnere mich noch gut an die spontan einsetzende „Ganzkörpergänsehaut“ und an den unmittelbaren Drang, jemandem zu erzählen, wen ich da eben zwei Wochen zuvor getroffen hatte. Aber da waren nur meine Großmutter und mein Cousin, die sich beide nur mäßig für meine Entdeckung interessierten …

Es gibt keinen wirklichen Schlusspunkt in dieser Geschichte. Ich kann auch nicht sagen, dass unser Treffen meine unmittelbare Liebe zum Jazz oder Bebop entfacht hat. Das war nicht der Fall. Ich bin tatsächlich damals in einen Plattenladen gegangen (der „Stereo 2000“ für die Regensburger Leser), um mir etwas von John Scofields Musik anzuhören. Leider gefiel sie mir nicht besonders – oder besser gesagt: Ich habe sie noch nicht verstanden. Es dauerte weitere zehn Jahre, bis ich mich als Hörer und ein wenig auch als Musiker mit Jazz auseinandersetzte, obwohl ich mich immer noch nicht als „Jazzer“ bezeichnen würde. John Scofields Musik höre ich allerdings inzwischen sehr gerne. Bis heute ist mir im Gedächtnis geblieben, wie ausgesprochen freundlich, interessiert, bescheiden und ehrlich John Scofield mir gegenüber war. Er hat mich, den 15-jährigen Jungen, ernst genommen und mir das Gefühl gegeben, respektiert zu werden.

Aus den vielen möglichen Stücken habe ich Ideofunk ausgewählt. Scofield ist ein unglaublich vielseitiger Künstler, der sich mühelos durch komplexe Bebop-Nummern bewegen kann und dabei trotz allem eine erstaunliche melodische Erfindungsgabe unter Beweis stellt. Hier kommen allerdings auch noch andere seiner Qualitäten zum Tragen: Scofield war immer auch ein Gitarrist und Komponist mit unverkennbaren Rock- und Funk-Einflüssen und einem tollen Gefühl für Groove. Wer neue Jazz-Formationen wie Snarky Puppy kennt und schätzt, wird erstaunt sein, wie viel Lingus oder Chonks gefühlsmäßig bereits in dieser Anfang der 2000er Jahre aufgenommenen Musik steckt.

Da Jazz ohne ein gewisses Live-Feeling irgendwie „nur die halbe Miete ist“, habe ich hier sowohl Links zur Studioaufnahme des Songs … als auch zu einem schönen Livemitschnitt aus dem Jahr 2013


2.-8.5.2022: ausgesucht von Franziska Weigert

Philip Stopford, Lully Lulla Lullay (Voces8)

Wiegenlieder erzählen von den großen Freuden aber auch von den großen Leiden des Lebens. Sie beruhigen nicht nur die Kinder, denen vorgesungen wird, sondern auch die Vorsingenden. Ein Beispiel hierfür ist Lully Lulla Lullay vom britischen Komponisten Philip Stopford (*1977). Als Basis für diese Komposition nahm er das Coventry Carol, ein englisches Weihnachtslied aus dem 16. Jahrhundert, dessen Text auf das Massaker an den unschuldigen Kindern Bezug nimmt. Im Matthäusevangelium wird erzählt, dass König Herodes aus panischer Angst vor der Geburt eines neuen Königs alle Jungen bis zum Alter von zwei Jahren töten ließ. An diese Erzählung erinnert jährlich der „Tag der unschuldigen Kinder“, der in der katholischen und evangelischen Kirche am 28.12. gefeiert wird.

Lully Lulla Lullay ist ein Wiegenlied, das die Eltern ihren Kindern singen, bevor Herodes’ Soldaten mit ihrem Mordauftrag eintreffen. „Herod, the king, in his raging, / Charged he hath this day / His men of might, in his own sight, / All young children to slay.“ Im gemeinsamen Singen finden die hilflosen Eltern angesichts der unaufhaltsamen Katastrophe Trost und Zusammenhalt. Zudem können sie ihre Kinder beruhigen und buchstäblich einlullen: Die onomatopoetische Wendung „Lully lulla, lully lulla, bye bye, lully lullay“ zieht sich formelhaft beschwörend durch das ganze Lied. Stopford behält die Strophenform des Carol bei und wählt einen wiegenden 3/4-Takt sowie eine konstante, getragene Deklamatorik. Die bezaubernde, glasklare Interpretation vom Vokalensemble Voces8 geht einem durch und durch und lange nicht mehr aus dem Kopf.

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25.4.-1.5.2022: ausgesucht von Michael Braun

Genesis, Firth of Fifth (Album Selling England by the Pound)

Erst vor wenigen Wochen ist die große Abschiedstournee zu Ende gegangen, mit der Genesis einen Schlusspunkt unter ihre lange Band-Geschichte gesetzt haben. Und ein Schlusspunkt wird es diesmal wohl auch bleiben, trotz des Fragezeichens am Ende des Tour-Namens „The Last Domino?“, der einerseits einen eigenen Songtitel aus den 1980er Jahren aufgreift, andererseits aber wohl auch auf die Ungewissheiten des Alters anspielt. Alle Band-Mitglieder – seit 1977 mit Phil Collins (Drums/Gesang), Mike Rutherford (Bass/Gitarre) und Tony Banks (Keyboards) nur noch zu dritt – sind allesamt knapp über 70 Jahre alt, und dass damit auch ein physischer Tribut verbunden ist, konnte vor allem Collins nicht verbergen, wenn er die Live-Shows überwiegend auf einem Stuhl sitzend absolvierte und das Schlagzeugspielen – unmöglich geworden angesichts gesundheitlicher Probleme – seinem Sohn Nic überließ. Aber immerhin kommt so die lange Geschichte der Band, begonnen in den späten 1960er Jahren im englischen Surrey, auf gebührende Weise zum Abschluss, nicht per Presse-Mitteilung oder Social Media Post, sondern „on their own terms“ auf der Bühne.

Es gibt ein populäres Narrativ zu Genesis, das mich immer gestört hat, weil es übersimplifiziert und schief ist: Aus einer legendären Progressive-Rock-Truppe wird ein unambitionierter Lieferant von kommerziellem Pop-Einerlei, nachdem der exaltierte Sänger Peter Gabriel Mitte der 1970er Jahre die Band verlässt und diese durch den neuen Frontmann Phil Collins erbarmungslos in die Niederungen der Radiotauglichkeit getrieben wird. Wie gesagt, das ist eine ziemlich unfaire Verzerrung – unter anderem deshalb, weil das Progressive-Potential mit Gabriel nicht einfach von dannen zog, sondern sein vielleicht wichtigster Vertreter dort blieb, wo er auch vorher schon gesessen hatte: an den Keyboards. Verschiedene ausgedehnte, elaborierte Songs der Band entstanden schon immer aus gemeinsamen Improvisations-Sessions heraus, aber manche der stärksten Progressive-Rock-Beiträge stammen im Wesentlichen von Tony Banks allein. Dafür gäbe es wunderschöne Beispiele aus der Bandgeschichte nach Gabriels Weggang (One for the Vine auf dem Album Wuthering Heights oder Me and Sarah Jane auf dem bei Old-School-Genesis-Fans verschrienen Album Abacab); aber für den Start ins Sommersemester ist mir eher nach Firth of Fifth zumute, 1973 erschienen auf Selling England by the Pound, dem vorletzten Studioalbum mit Gabriel als Sänger.

Obwohl fast zehn Minuten lang, wirkt Banks’ Song auf mich relativ kompakt, was vermutlich am weitestgehend beibehaltenen Tempo (ungeachtet diverser Metrumwechsel) und der Konzentration auf weniges, wiederkehrendes Material liegt. Highlights sind sicherlich die elegische Kantilene im mittleren Teil des Songs, die erst von Gabriel auf der Flöte (!), dann von Steve Hackett sphärisch-schaurig auf der Gitarre interpretiert wird („the sirens’ cry“, von dem kurz vorher die Rede ist?), und natürlich das wunderschöne Klavierintro von Tony Banks, ein herrliches Stück Tastenmusik, das später nach einer fast schon groovenden Steigerung ein verwandeltes Comeback erleben wird. Und es sei bitte nicht übersehen, was Phil Collins in diesem Song an den Drums anstellt, wie er ihm nicht nur die dringend nötige metrische Akzentuierung, sondern abwechselnd auch Drive und Kontemplation gibt – keine Kleinigkeit bei einem Stück, das überwiegend von den Keyboards aus komponiert wurde. Überhaupt würde vieles gerade aus den früheren Jahrzehnten der Bandgeschichte als Song schlecht „funktionieren“, hätte da nicht mit Collins ein überragender Schlagzeuger die Sticks in der Hand gehabt.

Dass der Titel – wie oft zu lesen ist – sich als musikalisches Wortspiel auf den „Firth of Forth“ bezieht, eine Flussmündung an der schottischen Ostküste, ist – mal abgesehen von den häufigen Wassermetaphern – nicht zentral für den Text. Dieser gibt sich weniger wortverspielt als eher kryptisch, bedient sich bei der griechischen Mythen- und Sagenwelt und nicht der schottischen und bewegt sich mit ein paar seiner Wortgirlanden am Rande des Prätentiösen (Trivia: es ist außerdem einer von zwei Genesis-Songtexten, in denen „madrigal“ vorkommt, trotz schottischer Flussmündung und griechischem Kolorit). Aber wen kümmert’s, dass nicht alles rund wirkt, wenn die Worte doch passend genug sind, um von der Musik geadelt werden zu können: „Now as the river dissolves in sea …“ ist vielleicht genau die Portion bedeutungsheischender Lyrik, die der Wiedereinsatz Gabriels nach dem langen Instrumentalabschnitt gebraucht hat. Und auch wenn der Schlussvers „The sands of time were eroded by the river of constant change“ für sich allein genommen irgendwo zwischen Weltliteratur und Kitsch schwebt, verschmilzt er mit dem harmonisch offenen Ende und der Wiederaufnahme der Klavierintro-Gestik zum perfekten Schluss dieses Progressive-Rock-Juwels. Aber für so ein Urteil muss man vielleicht Genesis-Fan sein.

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Wintersemester 2021/22

7.-13.2.2022: ausgesucht von Bettina Berlinghoff-Eichler

Hugo Wolf, Abschied
(Roman Trekel und Oliver Pohl)

Abschied – Dieser eher lapidare Titel beschreibt nur unzureichend die skurrile Begebenheit, die der schwäbische Dichter Eduard Mörike (1804–1875) in seinem von Hugo Wolf vertonten Gedicht schildert: Ein aufdringlicher Kritiker, dem es an Höflichkeit fehlt, stattet unangemeldet und ohne anzuklopfen einem Künstler einen Besuch ab. Das Objekt seiner Kritik ist jedoch kein Kunstwerk, sondern lediglich das Schattenbild der etwas größeren „Weltsnase“ seines Gegenübers. Ob der Kritiker tatsächlich etwas Substantielles zu den Werken des Künstlers zu sagen hat, erfahren wir nicht. Am Ende befördert der Kritisierte seinen Kritiker mittels eines gezielten Tritts ins Gesäß die Treppe hinunter.

Mörike hatte seinen „Scherz“ am 6. Juni 1837 einem Brief an den befreundeten Schriftsteller Hermann Kurz beigelegt, um einer möglichen Verstimmung, die eine vielleicht nicht ganz so positive Beurteilung der Novellen, die Kurz ihm zugesandt hatte, hätte hervorrufen können, zuvorzukommen. Den ursprünglichen Titel des Gedichts, „Der kommt nimmer“, übernahm Mörike – leider – nicht in die Druckausgaben seiner Gedichte. In der ersten, 1838 veröffentlichten Ausgabe der Gedichte findet sich der Abschied übrigens noch an viertletzter Position; seit der zweiten, vermehrten Auflage von 1848 bildet es nach einigen anderen humoristischen Gedichten den Abschluss der Sammlung.

Wie Mörike setzte auch der österreichische Komponist Hugo Wolf den Abschied an das Ende seiner 53 Lieder für Singstimme und Klavier umfassenden Sammlung der Gedichte von Eduard Mörike, deren Texte auf der 1876 veröffentlichten sechsten Auflage der Mörike-Gedichte basieren. Hinsichtlich des Umfangs und der Zusammenstellung aus geistlichen und weltlichen Liedern stellte Wolfs 1888 komponierte Sammlung tatsächlich ein Novum in der Geschichte des Klavierliedes dar. Die Reihenfolge der im März veröffentlichten Druckausgabe der Lieder entspricht dabei im Übrigen nicht derjenigen der Entstehung. Der Abschied datiert vom 8. März 1888, fällt also in die Entstehungszeit der ersten, zwischen Februar und Mai 1888 in Perchtoldsdorf bei Wien komponierten 43 Lieder. Wie ein Brief an seinen Schwager Josef Strasser vom 23. März des Jahres bezeugt, war Wolf von der Qualität seiner neuesten Kompositionen offenbar restlos überzeugt: Er habe seit dem 22. Februar „25 Lieder komponiert, von denen eins das andere übertrifft, darüber es unter Musikverständigen nur eine Stimme gibt, dass seit Schubert und Schumann nichts ähnliches da war“. Mit der Veröffentlichung seiner ungewöhnlichen Liedersammlung im März 1889 sorgte Hugo Wolf schließlich sogar für die Verbreitung der außerhalb seines schwäbischen Umfeldes wenig bekannten Werke Eduard Mörikes.

Dabei zählt der Abschied sicherlich zu den auch heute noch am häufigsten – gern als Zugabe – aufgeführten Liedern dieser Sammlung. Die mehr oder weniger unfreiwillige Begegnung zwischen dem ungenannten Rezensenten und dem Künstler, in dem wir natürlich vorranging den Komponisten Wolf erkennen möchten, wird uns in der Musik geradezu plastisch vor Augen geführt. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass Wolf sich in den Jahren vor der Entstehung der Mörike-Sammlung 1884 bis 1887 selbst als mitunter scharfzüngiger Musikkritiker in über 100 Rezensionen im Wiener Salonblatt vehement für die Werke Wagners, Liszts und Bruckners eingesetzt, aber die Werke Brahms’ gnadenlos verrissen hatte und somit nicht nur die Perspektive des Kritisierten kannte, sondern auch die des Kritikers. Und wenn gegen Ende der ungebetene Gast nach dem Fußtritt – musikalisch umgesetzt in den über mehrere Takte letztendlich nach oben (!) führenden nachschlagenden Oktaven der linken und rechten Hand des Klaviers – die Treppe herunterpurzelt und der Triumph des Künstlers mit einem Wiener Walzer im 3/8-Takt ausgelassen gefeiert wird, fragen wir uns, wer denn hier am Ende so unsanft verabschiedet wird …

Naxos Music Library, Track 22


31.1.-6.2.2022: ausgesucht von David Hiley

Thomas Tallis, Videte miraculum, Responsorium zum Fest Mariä Reinigung (2. Februar)
(Stile Antico)

Zumindest in ihrer ersten Hälfte ist die lange Schaffenslaufbahn von Thomas Tallis (geb. um 1505, gest. 1585) eingebettet gewesen in die konfessionellen Wechselbäder der englischen Landesgeschichte. Tallis war Kirchenmusiker in Dover und in London, ab 1538 an der Benediktinerabtei Waltham, die jedoch 1540 unter Henry VIII. aufgelöst wurde. Daraufhin wurde Tallis an der Kathedrale von Canterbury angestellt, bis er 1544 zum Gentleman of the Chapel Royal (d. h. Mitglied der königlichen Kapelle) ernannt wurde. Danach diente er unter Edward VI. (ab 1547, anglikanisch), Mary (ab 1553, katholisch) und Elisabeth I. (ab 1558, anglikanisch), komponierte Musik für den Gottesdienst beider Konfessionen und war stets in Berührung mit den höchsten politischen Kreisen, wie seine Missa Puer natus est belegt. Sie wurde 1554 gemeinsam von zwei königlichen Kapellen aufgeführt, als Philipp II. von Spanien bei seiner Braut Mary in England weilte.

Tallis war Lehrer von William Byrd (und Taufpater von Byrds Sohn Thomas) und erlangte 1575 mit diesem das Privileg für die Veröffentlichung von Musikdrucken. Im selben Jahr (dem 17. der Regierungszeit Elisabeths) erschien ihre Sammlung lateinischer Motetten Cantiones sacrae mit 17 Werken von Tallis und 17 von Byrd. Nach Tallis’ Tod komponierte Byrd eines der schönsten aller Klagelieder, Ye sacred muses (YouTube), mit dem Schlussvers: „Tallis is dead …and Music dies.“

Videte miraculum entstand entweder unter Henry oder Mary. Es ist die sechsstimmige Bearbeitung eines liturgischen Responsoriums aus dem Vespergottesdienst am Fest Mariä Reinigung (2. Februar). Die gregorianische Melodie im phrygischen Modus (E) wird als Cantus firmus in der 5. (zweittiefsten) Stimme verarbeitet, sie ist im polyphonen Gewebe kaum zu hören. Tallis’ Bearbeitung, die sich in insgesamt fünf Teile gliedert, betont in ihrer Harmonik a-Moll und etabliert C-Dur und G-Dur als Alternativ-Pole. Sie ist vorwiegend kontrapunktisch, mit einigen homophonen Stellen (z.B. „Stans onerata“, Anfang der zweiten Periode). Oft zu hören sind die von den Engländern beliebten Querstände wie etwa a–gis–a in einer oberen Stimme gegen g–f–e in einer tieferen.

Die schöne Aufführung durch Stile Antico kommt ziemlich nah heran an die ersten Aufführungen dieser Art, die ich vor 50 Jahren erlebt habe, als das Ensemble The Clerkes of Oxenford von David Wulstan formiert wurde: gesungen von ca. 16–18 Stimmen, Frauenstimmen ohne Vibrato, schlanke Männerstimmen, eine möglichst „durchsichtige“ Textur. Nicht allein aus nostalgischen Gründen – ich habe immer noch eine BBC-Aufnahme des Videte miraculum mit The Clerkes – finde ich diese Motette eines der schönsten Werke des englischen 16. Jahrhunderts. Die Traurigkeit, die man so oft mit der Molltonart unterbewusst verbindet, scheint in eine Art Entzücken verwandelt zu sein. Tallis kommt immer wieder auf ähnliche musikalische Gesten zurück, die Zeit steht still …

Wir wissen ja nicht, wie diese Musik vor 450 Jahren geklungen hat – langsamer, schneller, rauher, sanfter? (Leider war eine BBC-Sendung am 1. April ca. 1987 über die Wiederentdeckung eines vergessenen, von Leonardo da Vinci erfundenen, aus Seemuscheln gebauten Tonaufnahmegeräts ein Aprilscherz.) Dennoch: Die Tatsache, dass Noten erhalten sind, mit deren Hilfe die Musik Tallis’ trotz aller Vorbehalte in Sachen Aufführung zu Gehör gebracht werden kann – ist das nicht auch ein Wunder? Audite miraculum!

Naxos Music Library, Track 1
YouTube (samt mitlaufender Partitur)


24.-30.1.2022: ausgesucht von Andreas Wehrmeyer

Igor Strawinsky, Requiem Canticles (1966)
(Philharmonia Orchestra, Simon Joly Chorale, Sally Burgess, Roderick Williams, Robert Craft)

In seinen letzten Lebensjahren schrieb Igor Strawinsky (1882–1971) in dichter Folge eine Reihe von geistlichen Werken, die er 1966 mit den Requiem Canticles für Alt- und Bass-Soli, vierstimmigen gemischten Chor und (Kammer-)Orchester beendete. Requiem Canticles sind ein Auftragswerk der Princeton University zum Gedenken an Helen Buchanan Seeger, die Förderin des Music Departments der Universität. Ursprünglich hatte das Werk seines umfangreichen Instrumentalanteils wegen (etwa die Hälfte der ca. 15-minütigen Spieldauer) „Sinfonia da Requiem“ heißen sollen. Drei instrumentale Sätze (Prelude, Interlude und Postlude) bilden den äußeren Rahmen, in den sechs vokal-instrumentale Sätze eingelassen sind (dem Prelude folgen Exaudi, Dies irae und Tubamirum, dem Interlude Rex tremendae, Lacrymosa und Libera me). Formal grenzen sich die Canticles vom römisch-katholischen Pflichtkanon ab (d. h. sind als „Gebrauchsmusik“ ungeeignet), da Strawinsky nur wenige der vorgeschriebenen Texte einbezieht, dabei zugleich aber den Bezugshorizont wahrt, beginnt er doch mit den Worten des Introitus (Exaudi) und schließt mit der Bitte um Erlösung (Libera me).     

Ein Blick auf die Instrumentalsätze: Das Prelude eröffnet mit pochend-gespanntem Vibrieren der Streicher, über dem sich die stöhnende Klage einer Solo-Violine (mit charakteristischer verminderter Terz) erhebt. Dieses Solo verzweigt sich im Weiteren in Neben- und Unterstimmen zu einem solistischen Streichquintett. Geschildert wird, was dem Trauerritual vorangeht – eine Sphäre der Bestürzung und des Schmerzes im Angesicht des Todes.

Im Interlude beginnen die versöhnenden Kräfte des Ritus zu wirken; es dominiert leidvolle Demut. Das Pulsieren der Bläserakkorde ruft das Schreiten einer Trauerprozession wach, unterbrochen vom expressiven Wechseln solistischer (klangfarblich der menschlichen Stimme angenäherter) Flöten und Fagotte. „Das Interlude ist im Kern Ausdruck der Wehklage“ (Strawinsky).

Das Postlude kreist in Klängen aus Celesta, Vibraphon und Glocken und schafft damit einen von aller irdischen Betriebsamkeit gereinigten, weltenthobenen Tonfall, der ausschließlich durch klangfarbliche Mittel erzielt wird. Ausgangspunkt ist der zentrale, periodisch wiederkehrende „Todesakkord“ – ein eisig-gläserner Klang in Klavier, Harfe und Flöte, fleischlos, gleichsam ausgebeint bis auf die Knochen. Ist das ein Abbild der Kälte und Leere des Nichtseins? Wie verhält sich dieser Klang zu den der reuigen Seele zugetanen Glockenklängen (christlich konnotiert)? Zu einer konkreten Assoziation bekennt sich der Dirigent Igor Blazhkov, der hier das Glockengeläut des orthodoxen Karfreitagsritus zu vernehmen vermeint. Wie auch immer: „Die Requiem Canticles sind auf eine alte, atavistische Art vom Ritual geprägt, sie sind dabei weder heidnisch noch christlich, ohne bewusst diesen Richtungen ausweichen zu wollen. Das Postlude ist einer jener Schlüsse, wie der zu Les Noces [1914–1923], die nicht oder erst im Unendlichen enden und mit denen Strawinsky die […] Musik über den Kanon der klassischen Komponisten hinaus um eine eigene Dimension bereichert hat.“ (P. Souvtchinsky, 1968)

Naxos Music Library, Tracks 9–17
YouTube


17.-23.1.2022: ausgesucht von Lukas Fröhlich

David Byrne, Horses

Im November 2011 tauchte auf YouTube vollkommen ohne Kontext ein Video mit dem Titel „The Ghost Song“ auf. Es zeigt ein ziemlich verstörend wirkendes Portrait einer sich nicht mehr im lebendigsten und intaktesten Zustand befindlichen Gestalt, während ebenjener „Ghost Song“ zu hören ist, der vor allem durch die unnatürlich verzerrte Stimme und ihre auf unverständliche Laute gesummte Melodie auffällt, die als eine Art Refrain mit Strophen aus reinen Heul- und Knurrgeräuschen abwechselt. Es entwickelte sich in diversen Kommentarspalten und Forenbeiträgen bald das Gerücht, der Komponist dieses Stücks, dessen Name nicht bekannt sei, wäre von seiner eigenen musikalischen Schöpfung derart heimgesucht worden, dass er binnen kürzester Zeit dem Wahnsinn verfiel und nur eine Woche nach Veröffentlichung des Stücks Selbstmord beging. Doch so unheimlich die Geschichte auch sein mag – sie ist gänzlich frei erfunden. Das im Video gezeigte Bild stammt vom Illustrator Stephen Gammell und ist ursprünglich in Alvin Schwartz’ Buch Scary Stories to Tell in the Dark zu finden. Die Musik hat nicht einmal einen fiktiv geisterhaften Hintergrund, so handelt es sich bei ihr um ein Stück mit dem Titel Horses, dessen Komponist weder unbekannt, noch tot ist, sondern niemand Geringeres als David Byrne, der vor allem durch seine frühere Band Talking Heads bekannt wurde, aber auch durch den Titel Like Humans Do, der standardmäßig im Beispielmusik-Ordner von Windows XP gespeichert war. Im eigentlichen Kontext verliert der vermeintliche „Ghost Song“ schnell jeglichen Gruselfaktor: Das Stück eröffnet das Album In Spite of Wishing and Wanting (erschienen 1999, also nur zwei Jahre vor Like Humans Do), das unter anderem einige Stücke aus der von Byrne komponierten Musik zur gleichnamigen multimedialen Tanzperformance von Wim Vandekeybus enthält. Auch Horses gehört zu diesen Stücken. Sieht man die Tänzer zur Musik galoppieren und das Verhalten von Rennpferden imitieren, so wirkt dies selbstverständlich weiterhin befremdlich – was wohl durchaus gewollt ist, ebenso wie die Musik gewollt unnatürlich klingt. Doch gerade dadurch, als parodistisch verzerrtes und zwar erkennbares, aber nicht unmittelbar verstehbares und entfremdetes Abbild der Realität, bekommt das Stück seinen Reiz und seine Faszination und ist mit der stets wiederholten, hypnotisierend summenden Refrain-Melodie und dem in der zweiten Hälfte des Stücks einsetzenden Galopp-Rhythmus tatsächlich ein erstaunlich hartnäckiger Ohrwurm … zumindest in dieser Hinsicht schafft es der vermeintliche „Ghost Song“ dann vielleicht doch noch, seine Hörer heimzusuchen.

YouTube-Link (nicht verflucht und vollkommen unbedenklich):
Die Performance aus der Filmversion von Vandekeybus‘ Werk


10.-16.1.2022: ausgesucht von Angelina Sowa

Heinrich Isaac, Virgo prudentissima
(Stile antico)

Sanft, in nahezu spielerischer Einfalt, erheben sich über einer erwartungsvollen Stille die von Leichtigkeit umhüllten lieblichen Klänge eines ersten andachtsvollen Duetts. Tänzerisch anmutend scheinen sie grazil über die von Spannung getragene Ruhe hinwegzugleiten, bevor ihre zarte Erscheinung durch den Wechsel in ein tieferes Register zunehmend an Erdung gewinnt. In kraftvoller Leichtigkeit, in sorgloser Stärke vollziehen sie hörbar den eindrucksvollen Übergang in die wuchtige Klangfülle einer sechsstimmigen Passage. Als träte eine himmlische Instanz in hörbaren Dialog mit einer irdischen. Als fände die Unüberwindbarkeit dieser sphärischen Kluft in der ergreifenden Musik tatsächlich Bewältigung …

Es ist gar nicht so leicht, etwas in Worte zu fassen, das beim hörenden Erleben keine Worte zur Vermittlung benötigt. Und doch möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um einen persönlichen Eindruck von dem kürzlich stattgefundenen Workshop mit dem amerikanischen Ensemble Sourcework zu teilen:

Wie die einleitenden Worte zu verdeutlichen versuchen, habe ich mich wohl so (oder so ähnlich) gefühlt, als ich an diesem Tag zum ersten Mal Heinrich Isaacs monumentale sechsstimmige Motette Virgo prudentissima hören durfte. Als eine gewaltige musikalische Hommage an die Jungfrau Maria einerseits und an Isaacs Dienstherrn Maximilian I. andererseits liegt in dem Werk für mich eine ganz besondere Faszination: Geprägt durch einen eindrucksvollen Wechsel zwischen imitatorisch geführten Duetten und der bemerkenswerten Klangfülle einer vollen Textur, erbittet die Motette eindringlich den Schutz der Gottesmutter für den Kaiser und sein Reich. Für einen kurzen Moment kam es mir also vor, als entstünde in der Musik ein einzigartiger Austausch zwischen diesen beiden Instanzen. Für einen kurzen Moment schien es – um die einleitenden Worte noch einmal aufzugreifen – als sei die unüberwindbare Kluft zwischen Himmel und Erde in diesem außerordentlich beeindruckenden Musikstück tatsächlich bewältigt.

Naxos Music Library
Youtube


13.-23.12.2021: ausgesucht von Arn Goerke

Luigi Dallapiccola, Piccola musica notturna
(BBC Philharmonic, Gianandrea Noseda)

Bei „Kleine Nachtmusik“ denkt man zunächst an die Streicherserenade von W. A. Mozart. Der italienische Komponist Luigi Dallapiccola (1904–1975) hat im Jahr 1954 ein Stück mit dem gleichen Titel komponiert: „Piccola musica notturna“. Dallapiccola, dem bescheinigt werden kann, die Zwölftonmusik nach Italien geholt zu haben (auch in seiner „Kleinen Nachtmusik“ gibt es verschiedene Reihen), hat diesem Stück, welches, auch aufgrund seiner komplizierten rhythmischen Notation, gar nicht so leicht zu spielen ist, das Gedicht „Noche de verano“ („Sommernacht“) des spanischen Lyrikers Antonio Machado zugrunde gelegt und der Partitur die Widmung „a Hermann Scherchen“ vorangestellt. Besonders interessant ist, dass hier strenge Prinzipien der seriellen Musik mit impressionistischen, lyrischen, sinnlichen Ausdrucksmitteln kombiniert werden. Auch wenn im Moment eher Winternächte vorherrschen, wünsche ich Ihnen viel Freude beim Nachempfinden des nächtlichen Spaziergangs (vielleicht schon gepaart mit einer gewissen Vorfreude auf kommende Sommerabende) über den verlassenen Dorfplatz, auf den das Mondlicht lange Schatten wirft und auf dem es, neben zarter Ruhe, auch einige unheimliche Momente gibt.

YouTube-Link


6.-12.12.2021: ausgesucht von Gabi Roth

Wolfgang A. Mozart, 12 Variationen über „Ah, vous dirai-je, maman“ KV 265
(Fazıl Say)

Nein, genau genommen hat Mozart keine Variationen über „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ geschrieben, auch wenn es allen, die deutschsprachig aufgewachsen sind, schwer fallen könnte, bei dieser Melodie an einen anderen Text zu denken (allenfalls noch an das „ABC-Lied“ mit seiner rhythmischen Hektik bei „L, M, N, O, P“). Im englischen Sprachraum kommen den meisten weder Alphabet noch Weihnachtsmann in den Sinn, sondern funkelnde Sterne („Twinkle, Twinkle, Little Star“). Von diesen Neutextierungen hat Mozart allerdings nichts wissen können, ihm war die Melodie durch das französische Lied „Ah, vous dirai-je, maman“ bekannt, das von Weihnachtsmann, Alphabet und Sternenhimmel nichts weiß, dafür eine kleine Geschichte von einem verschämten Techtelmechtel mit Hirtenkolorit erzählt. Die Kombination aus pastoraler Anzüglichkeit und prototypisch-einfacher Melodik muss gut angekommen sein, immerhin war das Liedchen schon seinerzeit sehr populär, was es zum mustergültigen Opfer einer Variationenfolge machte. Derartige Kunststücke improvisierend erfinden zu können, gehörte für einen Pianisten wie Mozart, der in der Lage sein musste, sich vor Publikum klavierspielend in Szene zu setzen, zum Handwerk dazu. Hier war es dem Improvisierenden durchaus eine Hilfe, dass es verschiedene Versatzstücke gab, die zu einer runden Variationsreihe einfach dazugehörten, etwa die Mollvariation, die verlangsamte Adagio-Variation oder die nach diesem retardierenden Moment unmittelbar anschließende Schlussvariation in verkürzendem Dreiermetrum. Das Wissen um derlei Konventionen sollte den Charme dieser Variationen aber nicht schmälern, zumal die Verfügbarkeit von Versatzstücken ja noch längst kein gelungenes Resultat garantiert. Mozarts Spiel mit dem französischen Liedchen soll Spaß machen – Musizierenden und Hörenden –, und genau das tun sie auch (wenn sie denn so effektbewusst gespielt werden wie von Fazil Say, und das kommt in verfügbaren Aufnahmen leider nicht immer vor). Wer möchte, kann dabei natürlich auch an den Weihnachtsmann denken.

Link zur Naxos Music Library (Tracks 4–16; warum die Variationen am Schluss jeweils ausgefadet werden, bleibt ein Geheimnis der Produzenten)

In dieser sehens- und hörenswerten Videoaufnahme spielt Say eine Auswahl der zwölf Variationen (unter anderem lässt er die Adagio-Variation weg):

YouTube-Link


29.11.-5.12.2021: ausgesucht von Johannes Schäbel

Arcangelo Corelli, Sonata a 3 in F-Dur, op. 3,1
(Musica Amphion, Pieter-Jan Belder)

Ich nutze die Gelegenheit, um eine Erinnerung an Wolfgang Horn zu teilen: Vor einigen Jahren saß ich in einer Überblicksvorlesung zur Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, in der er uns verdeutlichte, dass der gerade thematisierte Komponist ein sehr gut überschaubares Œuvre habe: Nur sechs Opus-Zahlen, die jeweils 12 Stücke der gleichen Gattung zusammenfassen, müsse man sich merken und schon habe man alles im Überblick. Es handelte sich, wie mancher Kenner oder Liebhaber bereits erraten haben mag, um Arcangelo Corelli. Eine gewisse Sympathie für Corelli mochte man zu erkennen glauben. Er sei ein „sehr empfehlenswerter“ Komponist und habe nicht einfach publiziert, was ihm in die Finger kam, sondern nur eine erlesene Auswahl nach langer Prüfung das Licht der Welt (oder sagen wir die Finsternis der Druckerschwärze) erblicken lassen.

Ein paar Jahre später durfte ich bei der Organisation einer kleinen musikalischen Begleitung für eine universitäre Absolventenfeier helfen – es war auch meine eigene „Bachelor-Verabschiedung“, wenn ich mich auch danach nicht verabschiedet habe. Bei der Frage, was für eine Musik sich für diesen Anlass eignen und umsetzen lassen würde, fiel mir Corelli ein. Die Mischung aus festlicher Anmut, leicht süßlicher Melancholie und unbeschwerter Beschwingtheit schien mir zu passen, und es wurde schließlich seine Triosonate op. 3, Nr. 1. Einige Zeit nach der Veranstaltung kam Herr Horn in einem Gespräch darauf zurück und wollte sich vergewissern, ob ich es denn gewesen sei, der sich diese Musik gewünscht hat. Ich kann mich täuschen, aber es wirkte so, als fand er die Auswahl nicht allzu schlecht.

An der hier verlinkten Aufnahme mag ich besonders den holzigen Klang der Orgel.

Link zur Naxos Music Library (Disc 4, Tracks 1–4)


22.-28.11.2021: ausgesucht von Emily Martin

Richard Wagner, Tristan und Isolde, Vorspiel 1. Aufzug
(Orchestra of the Royal Opera House, Antonio Pappano)

Kaum hörbar erklingen die ersten Töne des Vorspiels zu Wagners Tristan und Isolde, auf die eine Reihe geradezu wehmütig aufwärts schreitender Halbtonschritte folgt. Schon hier kommt eine besondere Charakteristik des Werks zum Ausdruck: eine extreme Verwendung von Chromatik, die das Leiden des unglücklichen Liebespaars musikalisch nachzeichnet. Unaufgelöste Dissonanzen produzieren eine immer weiter anwachsende Spannung, die der unstillbaren Sehnsucht der Protagonisten gleicht. Das Glück der Liebe bleibt Tristan und Isolde jedoch verwehrt, das Verlangen kann nur verstärkt, nicht aber gestillt werden. Zwischenzeitliches Aufblühen und Glück führen am Ende nur wieder zu einer unverlöschlichen, verzehrenden Sehnsucht. Tristan und Isolde zeigt, wie untrennbar Liebe und Leid verbunden sein können. Die immer wiederkehrenden, von Chromatik geprägten Motive und die unaufgelösten Dissonanzen stehen für die Ruhelosigkeit, die die Protagonisten letztendlich dazu drängen wird, den einzigen Ausweg aus dem Kreislauf unerfüllten Sehnens und das Glück der Liebe im Tod zu finden.

Eigentlich wollte Wagner Tristan und Isolde möglichst schnell in die Opernhäuser bringen, um sich aus einer finanziellen Notlage zu retten. Möglichst simpel und vor allem schnell einzustudieren sollte das neue Werk werden, das dann aber doch erst fünf Jahre nach der Drucklegung das erste Mal aufgeführt wurde. Denn von einem einfachen Werk konnte nach der Fertigstellung der Komposition nicht mehr die Rede sein. Mehrmals wurde Tristan und Isolde von Theatern in Angriff genommen und abgelehnt, bis man es sogar als „unaufführbar“ abstempelte. Erst dank König Ludwig II. wurde das Werk schließlich doch noch zur Uraufführung gebracht. Das Vorspiel allein hatte etwas mehr Erfolg und wurde schon früher separat aufgeführt. Die wichtigste Thematik von Tristan und Isolde kommt darin auch ohne szenisches Geschehen und Text zum Ausdruck: der Schmerz einer verzehrenden Liebe, für die es im Diesseits keine Hoffnung auf Erfüllung gibt.

Link zur Naxos Music Library (Track 1)


15.-21.11.2021: ausgesucht von Raphael Schwarz

Ralph Vaughan Williams, A Sea Symphony, 2. „On the Beach at Night Alone“
(London Philharmonic Choir & Orchestra, Bernard Haitink, Jonathan Summers)

Der Titel A Sea Symphony weckt womöglich zuallererst Erwartungen an plastisch ausgestaltete Programmmusik, grandios klingende Bilder des Meeres, vielleicht sogar an ein mögliches Gegenstück zu Eine Alpensinfonie, dem ausladend-symphonischen Bergbesteigungsgemälde Richard Strauss’. Aber A Sea Symphony, die erste von neun Symphonien Ralph Vaughan Williams, ist etwas ganz anderes (und außerdem früher entstanden als die Strauss-Komposition): Sie besteht aus aufwändigen Vertonungen von Gedichten des amerikanischen Poeten Walt Whitman (1819–1892), die aus dessen Hauptwerk Leaves of Grass stammen. Vaughan Williams hat sie für Chor, Orchester und Soli gesetzt und in eine Anordnung gebracht, die der traditionellen symphonischen Viersätzigkeit entspricht: gewichtiger Kopfsatz („Behold, the sea itself …“), langsamer Satz („On the beach at night alone …“), Scherzo („After the sea-ship …“) und ausgedehntes Finale („O vast Rondure, swimming in space …“). Die Texte, die er dazu auswählte, stehen unverkennbar mit dem titelgebenden Thema in Verbindung – dem Meer, den Ozeanen und den Schiffen, die wir Menschen über sie hin- und herschicken. Sie gehen dabei aber weit hinaus über plakatives Abenteuer oder eingängige Romantik und greifen auf Philosophisches, Metaphysisches aus. Der zweite Satz, „On the Beach at Night Alone“, schildert uns nicht weniger als einen genialen Moment, der das lyrische Ich die Einheit des Universums erleben lässt, eine Zusammengehörigkeit allen Lebens, aller Zeiten, zusammengehalten von etwas, das bezeichnet wird als „a vast similitude“. Es ist ein Augenblick, in dem – wie es so schön heißt – alles Sinn ergibt.

Vaughan Williams lässt den Satz mit einem tief registrierten, charakteristischen Akkordwechsel beginnen (c-Moll – E-Dur), der auf den Anfang des Kopfsatzes verweist (dort b-Moll – D-Dur) aber hier, im langsamen Satz, für eine eigentümliche nokturne Stimmung sorgt. Vor der Kulisse der nächtlichen Brandung („As the old mother sways her to and fro singing her husky song“) werden die Gedanken weit und empfänglich für die Idee einer metaphysischen Einheit („A vast similitude interlocks all …“) und schwingen sich im Zwiegespräch zwischen Bariton und Chor auf zu einem Einblick in den Zusammenhang von allem. Der Text des Satzes lautet:

„On the beach at night alone, / As the old mother sways her to and fro singing her husky song,
As I watch the bright stars shining, I think a thought of the clef of the universes and of the future.
A vast similitude interlocks all, ... / All distances of place however wide,
All distances of time, ... / All souls, all living bodies though they be ever so different, ...
All nations, ... / All identities that have existed or may exist ...,
All lives and deaths, all of the past, present, future,
This vast similitude spans them, and always has spann'd,
And shall forever span them and compactly hold and enclose them.“

Wenn ich diese Zeilen lese, dann ist die Stimmung, die sie in mir erzeugen, nicht die Gleiche wie jene, die Vaughan Williams im zweiten Satz seiner Sea Symphony erschaffen hat. Aber das schreckt mich nicht ab, im Gegenteil. Ich spüre gerne dem Sinn nach, der aus Vaughan Williams’ Musik spricht, dem Sinn, den er aus diesen Versen gelesen haben muss. Was mich dann aber doch wieder direkt ergreift, ist der Schluss des Satzes, der den letzten Zeilen Whitmans folgt. Nachdem die Erkenntnis des Augenblicks in triumphalem E-Dur festgehalten wurde („… and enclose them.“) lässt Vaughan Williams den Eingangsvers noch einmal wiederholen, zurück ist die melancholische Atmosphäre vom Beginn. Von unserem allsehenden Flug durch das All sind wir zurück am kalten (ich stelle ihn mir kalt vor), nächtlichen Strand. Der erleuchtende Moment scheint vorüber zu sein. Aber es ist doch nicht alles so wie am Anfang (natürlich nicht, und im Übrigen kommt im Schlussabsatz von T. S. Eliots Little Gidding einmal sogar das Meer kurz vor). Um das Andere dort am Strand bei Nacht zu beschreiben, das der Gedankenflug hinterlassen hat, nimmt sich Vaughan Williams die verbleibenden, zauberhaften Momente dieses Satzes und endet: in E-Dur. Das anfängliche Pendeln zwischen düsterem c-Moll und wärmerem E-Dur, in ihm scheint von Anfang an der weltumspannende Bogen von der Melancholie ins Genialische verborgen gewesen zu sein.

Link zur Naxos Music Library, (Tracks 6 & 7)

8.-14.11.2021: ausgesucht von Franziska Weigert

Max Richter, Recomposed: Vivaldi – The Four Seasons, 1. Spring
(Daniel Hope, Max Richter, l’arte del mondo, Werner Ehrhardt)

Vivaldis Vier Jahreszeiten (Le quattro stagioni) sind bekannt und omnipräsent wie kaum ein anderes Werk klassischer Musik. Sie begegnen uns Jahr ein Jahr aus in Fußgängerzonen in allen denkbaren Besetzungen (gehört habe ich es bisher etwa auf einem Akkordeon und von einem Saxophon-Ensemble). Die Vier Jahreszeiten sind so oft gespielt und gehört, dass sie wir sie eher wie einen Jingle im Ohr haben; ein nicht mehr ganz frisches Hörerlebnis. Dies motivierte den Komponisten Max Richter (* 1966) das Werk neu zu denken: Er schrieb eine Rekomposition. Herauskam ein Werk, das Vivaldi einen neuen Anstrich verpasst, ohne ihn dabei zu verbiegen. Recomposed sprudelt vor akustischen Überraschungen und nutzt neben akustischem Instrumentarium auch elektronisches. Geiger Daniel Hope hat Recomposed eingespielt und sich dadurch neu in die Jahreszeiten verliebt: „When I hear the original now, it’s alive again.“

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1.-7.11.2021: ausgesucht von Patrick Ehrich

Radiohead, Present Tense (Album A Moon Shaped Pool)

Ich bin ein großer Fan der Band Radiohead seit ihrem Album OK Computer aus dem Jahr 1997. Was mich an Radiohead immer wieder aufs Neue begeistert, ist ihre Unberechenbarkeit. Fast scheint es, als würde die Band bei jedem Album immer wieder neu ausloten, was noch im Bereich von „Popmusik“ möglich oder denkbar ist. So findet sich neben eingängigen Songs immer wieder auch vollkommen Unerwartetes im Œuvre der Gruppe: hier ein lang gehaltener, mikrotonal verstimmter Akkord (How to disappear completely), dort ein col legno spielendes Streichorchester als Begleitung für Sänger Thom Yorke (Burn the Witch) oder eine an Free Jazz anmutende Passage, über die sich Frank Zappa vermutlich auch gefreut hätte (The National Anthem).

Für das Musikstück der Woche habe ich eines meiner aktuellen Lieblingsstücke von Radiohead ausgewählt: den Song Present Tense von ihrem 2016er Album A Moon Shaped Pool. Present Tense reiht sich im Schaffen der Band ein in die Gattung der „fließenden, von verflochtenen Gitarren-Arpeggien getragenen Stücke“ (Weitere Beispiele: Let Down oder Weird Fishes).

Anders als auf A Moon Shaped Pool, wo der Song bisweilen in einem großen akustischen Raum zu versinken droht, ist er in der vorliegenden Aufnahme auf das Nötigste reduziert. Sänger Thom Yorke begleitet sich selbst auf der Gitarre, begleitet von Radioheads musikalischem Mastermind Jonny Greenwood an der zweiten Gitarre und einem alten Roland CR78 Drumcomputer.

An der vorliegenden kammermusikalischen Darbietung mag ich besonders die „Unperfektheit“. Thom Yorke ist in vielerlei Hinsicht ein unkonventioneller Sänger (meine Frau nennt ihn mehr oder weniger liebevoll den „Wuisler“), und die Brüchigkeit von Yorkes Darbietung, gepaart mit ihrer tiefen und gleichzeitig irgendwie auch distanzierten Melancholie machen diese Version von Present Tense für mich zu einem besonderen musikalischen Moment.

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25.-31.10.2021: ausgesucht von Katelijne Schiltz

Claudio Monteverdi, Hor che ’l ciel e la terra
(Concerto Italiano, Rinaldo Alessandrini)

Mit einer geradezu provozierenden und gleichzeitig paradoxen Art von Stillstand beginnt Monteverdis Vertonung von Francesco Petrarcas Sonett Hor che ’l ciel e la terra. Obwohl (oder besser: gerade weil) das italienische Madrigal doch der Inbegriff von Vielfalt und Variatio ist, wirkt Monteverdi dem hier dezidiert entgegen. Tatsächlich versucht er, die nächtliche Stille der Natur, wie sie der poeta laureatus in der ersten Strophe seines Gedichts so eindrucksvoll schildert, in Musik zu fassen: Fast quälend lang deklamieren die Stimmen den Text über einem einzigen a-Moll-Akkord, sodass die leichteste Bewegung (bei „notte“ [Nacht] findet eine Verschiebung zu einem E-Dur-Akkord statt) schon wie ein Erdbeben wirkt.

Schaut man sich Monteverdis Œuvre genauer an, so fällt auf, dass er Petrarcas Gedichte nur selten vertont hat – wenn er sich aber für sie entscheidet, dann spielen sie immer eine zentrale Rolle im Gesamtkonzept seiner jeweiligen Sammlung. Dies gilt auch für Hor che ’l ciel e la terra, das 1638 als Teil des achten Madrigalbuchs in Venedig veröffentlicht wurde. Dem vielsagenden Titel Madrigali guerrieri, et amorosi der Sammlung entsprechend, lotet Monteverdi in diesem letzten noch zu seinen Lebzeiten erschienenen Madrigalbuch die Grenzen, Gegensätze und Gemeinsamkeiten zwischen Krieg und Liebe (einen uralten, schon in der Antike besungenen Topos) aus. Ausgerechnet die enge Verwobenheit beider scheinbar konträren Bereiche ist nun die Crux von Hor che ’l ciel e la terra. Während Himmel, Erde, Winde, Tiere und das Meer – kurzum die gesamte Natur – sich friedlich zeigen und ruhen, ist das lyrische Ich aufgrund von Liebesschmerz aufgewühlt: mehr noch, „Krieg ist mein Zustand, voll von Zorn und Zagen“, heißt es in der Übersetzung von Karl Förster (s. unten). Von diesen ständigen Kontrasten lebt Petrarcas Sonett – und somit auch Monteverdis Vertonung.

Hor che ’l ciel e la terra ist nur eines von vielen Madrigalen, die wir im Februar 2022 beim Blockseminar Das italienische Madrigal – Gattungs-, Kultur- und Fachgeschichte analysieren werden, das uns (wenn es die Pandemie zulässt) nach Venedig, einem der damals wichtigsten Zentren für die Entwicklung des Madrigals, führt. Das ist aber nur ein Grund, weshalb ich diese Komposition für das „Musikstück der Woche“ präsentieren will. Von den vielen Aufnahmen, die es von diesem Madrigal gibt, habe ich das Concerto Italiano (Leitung: Rinaldo Alessandrini) gewählt. Sie ist zwar mittlerweile mehr als 20 Jahre alt, und in der Zwischenzeit gab es zahlreiche neue Aufnahmen mit anderen Ensembles, die interessanterweise stark in der Tempowahl (und somit auch der Gesamtdauer) variieren.

Alessandrini und seine Musiker:innen schaffen es, wie ich finde, sehr schön, die Naturschilderungen einerseits, den Seelenzustand des leidenden Ichs andererseits nuanciert einzufangen. Von einer geradezu überwältigenden Schönheit ist das Ende des Madrigals, wo das lyrische Ich darüber trauert, wie weit es noch von seiner geistigen Heilung entfernt ist: „Tanto dalla salute mia son lunge“. Nach einem aufsteigenden Dezimsprung lässt Monteverdi die Tenorstimme schrittweise fast zwei Oktave tiefer sinken. Dann kommen die weiteren Stimmen dazu, und bei gleichzeitigem Herabsinken von Tenor und Bass in Stufen lässt er die beiden Oberstimmen in parallelen Terzen in genau die entgegengesetzte Richtung laufen – ein größerer Spagat ist musikalisch wohl nicht möglich.

Karl Försters Übersetzung von Petrarcas Hor che ’l ciel e la terra

Jetzt, da der Himmel schweigt und Erd und Winde,
Vögel und Wild des Schlafes Zügel tragen,
Die Nacht im Kreise führt den Sternenwagen,
Das Meer sich ruhig streckt durch seine Gründe,

Wach ich, glüh, sinn und wein, und, wo ich stünde,
Ist nah mein Feind mit seinen süßen Plagen;
Krieg ist mein Zustand, voll von Zorn und Zagen;
Nur, denk ich sie, ich einigen Frieden finde.

So dringt aus einem hell lebendgen Quelle,
Draus ich mich nähre, Süßigkeit und Herbe,
Und eine Hand gibt Heilung mir und Wunden.

Und weil mein Jammer nie gelangt zur Stelle,
Ersteh ich tausendmal des Tags und sterbe;
So weit ach! hab ich noch, um zu gesunden!

Link zur Naxos Music Library, Track 13 und 14
YouTube-Video mit fortlaufender Partitur


18.-24.10.2021: Ausgesucht von Michael Braun

Liz Carroll, As the Crow Flies (Album Half Day Road)
(Liz Carroll, Jake Charron)

Ich sitze also mit der Familie beim Abendessen, und im Radio läuft eine Reportage über die vielerorts noch sehr lebendig gehaltene Tradition des Fiddling. Eine Zeitlang höre ich mit einem Ohr zu, aber als schließlich ein Beispielstück eingespielt wird – Liz Carrolls As the Crow Flies von ihrem aktuellen Album Half Day Road –, bin ich für die Tischkonversation endgültig nicht mehr verfügbar. Und weil mir das Stück auch danach nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist, habe ich das gemacht, was in diesen Situationen meistens das Beste ist: das ganze Album kaufen. Seitdem ist aus mir kein Experte für Fiddling oder das zugehörige Repertoire geworden, aber immerhin weiß ich, dass sich das Stück etwas wegbewegt („slightly away, very slightly away“, wie Carroll während eines Konzerts im Kennedy Center kommentierte) vom traditionellen Rahmen des irisch-amerikanischen Fiddling und seinem Kosmos aus Reels, Jigs, Hornpipes und anderen traditionellen Tanztypen. Es ist trotzdem eine Herausforderung, bei dieser Komposition Carrolls nicht mitzutanzen, und sei es auch nur in Form eines mitwippenden Fußes, rhythmisch zuckender Schultern oder einfach in Gedanken. Und das wäre dann gar nicht so unpassend angesichts der typischen Spielposition, die häufig beim Fiddling zu sehen ist: im Sitzen, die Taktschwerpunkte mit dem Fuß mitklopfend, mit einem scheinbar zurückhaltenden Musizierstil, der wenig zu tun hat mit der expressiven Bogenführung klassischen Solo-Violinspiels, und einem faszinierenden Fingertanz (!) auf dem Griffbrett, der sich um Lagenwechsel kaum kümmert, dafür großen Wert legt auf Borduneffekte und Doppelgriffe.  Ob Geiger*innen eigentlich wissen, dass sie auch eine Fiddle in Händen halten?

YouTube-Link


Sommersemester 2021

12.-18.7.2021: ausgesucht von Bettina Berlinghoff-Eichler

Richard Strauss, Krämerspiegel op. 66
(Dietrich Fischer-Dieskau, Gerald Moore)

„In dieser letzten Woche der Vorlesungszeit möchte ich Ihre Ohren auf einen der ungewöhnlichsten Liederzyklen in der Geschichte des Klavierliedes lenken, den in den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs komponierten Krämerspiegel von Richard Strauss. Bei diesem handelt es sich um ein etwa halbstündiges Gelegenheitswerk, in dem Strauss seiner Verärgerung über das zeitgenössische Musikverlagswesen Ausdruck verleihen wollte, ohne letztlich auf einträgliche Tantiemen hoffen zu können. Denn in großem Stil verkäuflich oder aufführbar waren diese Lieder keineswegs. Der Entstehungsanlass der 12 Gesänge ist hinlänglich bekannt. Strauss hatte 1903 oder 1904 dem Berliner Verlag Bote & Bock seine Symphonia domestica op. 53 für die horrende Summe von 35.000 Mark überlassen und sich ferner dazu verpflichtet, weitere 12 neu komponierte Lieder an diesen zu liefern. Nachdem Strauss dieser Verpflichtung mit den sechs Liedern op. 56 nur zur Hälfte nachgekommen war, monierte der Verlag, der Mitglied der von Hugo Bock, Oskar von Hase und Robert Lienau gegründeten Genossenschaft zur Verwertung musikalischer Aufführungsrechte und somit ein Kontrahent der Genossenschaft deutscher Tonsetzer und der Anstalt für musikalisches Aufführungsrecht war, als deren Vorsitzender Richard Strauss fungierte, tatsächlich erst 1917 den Vertragsbruch und drohte mit juristischen Schritten.

Um Bote & Bock auszutricksen, bat Strauss Anfang 1918 den wegen seiner spitzen Zunge berühmt-berüchtigten Theaterkritiker Alfred Kerr um eine Reihe von satirischen Gedichten, in denen die wichtigsten deutschen zeitgenössischen Musikverleger verunglimpft werden sollten. Dass Bote & Bock sich weigern würden, diese Lieder zu drucken, hatte Strauss dabei natürlich einkalkuliert. Und Kerr lieferte, was Strauss sich wünschte: 12 kurze und teilweise äußerst boshafte Spottgedichte, in denen Musikverleger und Händler als profitgierige Schröpfer der Komponisten, als Bedrohung für die Kunst oder sogar, wie in Nr. 9, als blutsaugende Wanzen verunglimpft werden. In den ersten sieben Nummern stehen denn auch Musikverlage bzw. deren Inhaber im Mittelpunkt – Bote & Bock und Hugo Bock (Nr. 1 und 2), Breitkopf & Härtel mit Oskar von Hase (Nr. 3), der Drei-Masken-Verlag mit Ludwig Friedmann (Nr. 4), der Verlag der Gebrüder Karl und Franz Reinecke (Nr. 5), der C. F. Kahnt-Verlag mit Robert Lienau (Nr. 6) und der Schott-Verlag mit Ludwig Strecker (Nr. 7), aber nicht Strauss’ neuer Verleger Adolph Fürstner –, während in den Nummern 8 bis 12 das Verhältnis zwischen Verlegern, Händler und Komponisten im Allgemeinen thematisiert wird. Als angeblicher Verfasser der Lieder wird in der letzten, zumindest in musikalischer Hinsicht versöhnlichen Nummer schließlich Till Eulenspiegel benannt.

Strauss vertonte die Gedichte Kerrs innerhalb weniger Tage im März und im Mai 1918 und bot diese kurz darauf unter dem Titel Die Händler und die Kunst Bote & Bock zum Verlag an, erhielt sie jedoch verständlicherweise kommentarlos zurück. Welcher Musikverlag hätte denn diese – im Prinzip in der Zeit kaum aufführbaren – Lieder auch veröffentlichen sollen? Der Liederzyklus erschien schließlich ohne Kenntnis der betroffenen Musikverleger 1921 in geringer Stückzahl unter dem Titel Krämerspiegel im Berliner Kunstverlag von Paul Cassirer als bibliophile Ausgabe mit Radierungen von Michael Fingesten und einer Widmung an Straussens engagiertem Mitstreiter in Sachen Urheberrecht, Friedrich Rösch. Eine der ersten Aufführungen fand, organisiert von Kerr, in halböffentlichem Rahmen November 1925 in Berlin mit der norwegischen Sängerin Sigrid Johanson und dem Pianisten Michael Raucheisen statt.

Alfred Kerr charakterisierte später Strauss’ von musikalischer Ironie geprägten Vertonungen als ‚bezaubernde Musik, witzig und holdselig; spaßhaft wie auch feierlich. Mit Anspielungen auf die eigenen symphonischen Gebilde. Kurz: bezaubernd.‘ Die erwähnten Anspielungen waren freilich bereits in den von Kerr gelieferten, vermutlich von Strauss beeinflussten Texten vorgegeben: In Nr. 2 sind es u. a. Walzerklänge aus dem Rosenkavalier, in den Nr. 7, 8 und 9 Zitate aus Tod und Verklärung, in Nr. 11 kaum wahrnehmbare Motive aus Ein Heldenleben und in Nr. 12, wie könnte es anders sein, ein Thema vom Beginn des Till Eulenspiegel. Darüber hinaus zitiert oder verarbeitet Strauss aber auch Musik anderer Komponisten wie Richard Wagner in Nr. 6 (Naturmotiv aus dem Ring des Nibelungen) oder Ludwig van Beethoven in Nr. 11 (sog. Schicksalsmotiv aus der Sinfonie Nr. 5). Und nun wünsche ich Ihnen viel Vergnügen beim Anhören dieser musikalischen Schätze!“

Link zur Naxos Music Library
Disc 5, Tracks # 7–18


5.-11.7.2021: ausgesucht von Christopher Dagleish

William Byrd, Great Service

„Der sogenannte Great Service ist eine Reihe von Cantica und anderen Elementen für die Matins (Morgenlob), Communion (Eucharistie) und Evensong (Abendlob), Gottesdienste der anglikanischen Kirche, komponiert von William Byrd (ca. 1540–1623). Der Great Service ist die letzte und aufwändigste seiner vier Vertonungen der Cantica für die anglikanische Liturgie. Byrd bringt Vertonungen von sieben Bestandteilen der drei Hauptgottesdienste des liturgischen Tages: Venite (Psalm 95), Te Deum (ambrosianischer Lobgesang), Benedictus (Lobgesang des Zacharias, Lukas 1:68–79), Kyrie eleison (die dreigliedrige Litanei), Creed (Glaubensbekenntnis), Magnificat (Lobgesang Marias, Lukas 1:46–55) und Nunc dimittis (Lobgesang des Simeon, Lukas 2:29–32).

Anders als ein Großteil von Byrds geistlicher Musik wurde der Great Service zu Byrds Lebzeiten nicht gedruckt, und sein Überleben ist hauptsächlich unvollständigen Sets von Kirchenchor-Stimmbüchern sowie drei zeitgenössischen Orgelstimmen zu verdanken. Der Great Service muss vor 1606 komponiert worden sein, dem letzten Datum, das in einer der frühesten Quellen angegeben ist, dem sogenannten Baldwin Commonplace Book (GB Lbl Roy. App. 24 d 2, vgl. www.diamm.ac.uk/sources/1910/. Neuere Forschungen deuten darauf hin, dass er etwas früher, zwischen 1592 und 1595, entstanden sein könnte.

Der Great Service ist für fünfstimmigen Chor, aufgeteilt in Decani und Cantoris (Namen für die beiden Chorgestühle, in denen die zwei Abteilungen des Chores einander gegenüber im Kirchenschiff saßen), geschrieben. Einige Abschnitte sind für Solistengruppen komponiert, die als ‚Verse‘ (Strophe) bezeichnet werden und im Gegensatz zu den ‚vollen‘ Abschnitten stehen. Der Chor wurde normalerweise durch die Orgel verdoppelt (wie die erhaltenen Orgelstimmen deutlich machen) und wahrscheinlich manchmal durch laute Blasinstrumente (Zinken und Posaunen), eine Praxis, die bei den zeitgenössischen Puritanern viel Empörung hervorrief. Byrd hatte den Great Service hauptsächlich für den Chapel Royal Choir vorgesehen, der ihn bei großen liturgischen Festen und Staatsanlässen während der frühen Stuart-Periode gesungen haben soll. Der Great Service wird immer noch zu festlichen Gelegenheiten von englischen Kathedralchören aufgeführt.

Als Chorsänger, der viele Jahre sowohl in Kirchenchören als auch in einem Kathedralchor gesungen hat, hatte ich das Glück, den Great Service nicht nur live in der atemberaubend hallenden Akustik einer Kathedrale zu hören, sondern ihn auch in einem Kirchenchor in Oxford zu singen. In den letzten Jahren sind mehrere Aufnahmen erschienen, die die Schönheit seiner Polyphonie und seine hypnotischen, meditativen Qualitäten demonstrieren. Ob Sie die schlichte Schönheit einer A-cappella-Aufnahme mit minimaler Besetzung bevorzugen oder die resonante Akustik des King’s College Cambridge mit seinem berühmten Chor und unaufdringlicher Orgelbegleitung, oder eine vollblütige Aufnahme mit Zinken und Posaunen, Sie können aus den folgenden Aufnahmen wählen, die alle über die Naxos Music Library oder YouTube erhältlich sind und Auszüge aus Byrds Great Service enthalten. Ich würde empfehlen, sich das Magnificat anzuhören: Versuchen Sie sich vorzustellen, wie Sie in einer Kathedrale beim Evensong (Abendlob) bei Kerzenschein sitzen, sich von der Architektur (z. B. einem Fächergewölbe) inspirieren lassen und die Gedanken mit den musikalischen Linien wandern. Viel Spaß beim Hören!“

Tallis Scholars (a cappella)
Link zur Naxos Music Library oder mit Partitur bei YouTube

Choir of King’s College, Cambridge / Stephen Cleobury (mit Orgelbegleitung)
Link zur Naxos Music Library oder YouTube

Musica Contexta, English Cornett and Sackbut Ensemble / Simon Ravens (mit Zinken und Posaunen)
Link zur Naxos Music Library oder YouTube


28.6.-4.7.2021: ausgesucht von Michael Wackerbauer

Talk Talk, The Rainbow (Album Spirit of Eden)

„Wer mit der 1981 gegründeten und bereits 1991 wieder aufgelösten Band um Mark Hollis lediglich Hits wie Such a Shame oder It’s My Life auf den kommerziell sehr erfolgreichen ersten Scheiben verbindet, wird über die elaborierten Klangwelten des 1988 veröffentlichten vierten Studio-Albums Spirit of Eden, das ganz neue Wege einschlägt, erstaunt sein und vielleicht – wie ich – nicht mehr davon loskommen. Schon die ungewöhnliche Länge des ausgewählten ersten Titels, in dem konventionelle Gitarren-Riffs und Beats nur ephemere Erscheinungen sind, macht klar, dass es sich nicht um Musik für den auditiven Schnelldurchgang nebenbei handelt. Das raffiniert konstruierte Klangkunstwerk bindet Aufmerksamkeit. Form, Harmonik und insbesondere die ganz ungewöhnlich ausgefeilten Sounds ziehen mich immer wieder in ihren Bann. Für mich ist dieses Album ein Stück Pop-Avantgarde von einem Anspruch, der wieder einmal zeigt, dass diese Musik für eine Beschäftigung in unserer Disziplin sehr attraktiv sein kann. Dass die Nummer am Ende abrupt abbricht, hat damit zu tun, dass hier eigentlich sehr kunstvoll in die nächste Nummer Eden übergeleitet wird – also weiterhören! Ein kleiner Beitrag zur Rehabilitierung der so viel geschmähten 80er.“

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21.-27.6.201 ausgesucht von Patricia Hahn

Alan Jackson, Remember When

„Darauf angesprochen, doch auch mal ein Musikstück der Woche beizutragen, stand für mich als bekennender Countryfan und Teil einer Countryband schnell fest, es musste, konnte nur ein Stück dieses oft verpönten und belächelten Genres sein.

Einer der für mich ersten Countrysongs und gleichzeitig eine der schönsten Balladen der Countrymusik stammt von Alan Jackson, einem der erfolgreichsten Country-Musiker der letzten 30 Jahre: Remember When. In diesem autobiographischen Song reflektiert Jackson die Etappen seiner Beziehung mit Ehefrau Denise, die bereits im Teenageralter begann. Eine einfache Melodie, ein wunderschöner, ehrlicher Text, die warme Stimme dieses Künstlers und das Zusammenspiel von traditionellen Countryelementen, den warmen Streichern und den modernen, aber unaufdringlichen Elementen der Popmusik im Hintergrund berühren mich auch heute noch.

Vor einigen Jahren besuchte ich eine große Countrymusik-Veranstaltung mit Cowboys und -girls jeden Alters. Bei den ersten Takten dieses Liedes beobachtete ich damals fasziniert, wie plötzlich alte Haudegen mit Cowboyhut aufstanden, ihre Damen an sich drückten und eng umschlungen zu diesem Song tanzten. Damals wie heute ein sehr bewegender Moment für mich, der dieses Lied für mich zu etwas ganz Besonderem gemacht hat.“

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14.-20.6.2021: ausgesucht von Andreas Wehrmeyer

Arnold Schönberg, Phantasy for Violin with Piano Accompaniment op. 47
(Yehudi Menuhin, Glenn Gould)

„Dieses Stück, Schönbergs letztes abgeschlossenes Kammermusikwerk, entstand 1949 auf Anregung des Geigers Adolph Koldofsky, der es auch am 13. September 1949 (aus Anlass von Schönbergs 75. Geburtstag) uraufführte.

Die autographen Quellen belegen, dass Schönberg zuerst die Violinstimme ausarbeitete, der Klavierpart kam eine Woche später hinzu. Dem Pianisten Eduard Steuermann erklärte er: ‚Ich möchte dich […] [darauf] aufmerksam machen, dass das Klavier wirklich nur als Begleitung gespielt werden sollte. Das ist kein Duo, sondern ein Stück für Solo Geige mit Begleitung, die sich niemals durch Selbständigkeit vordrängen darf.‘ Dem entspricht auch der auffällige Titel ‚… with Piano Accompaniment‘.

Der Violinpart entfaltet sich in bevorzugt eruptiv-expressiven Gesten und Abläufen, dem das Klavier, in vorwiegend akkordischem Satz, zur Seite tritt, ohne aber ‚Begleitung‘ im Engeren zu sein; eher dient es der Komplementierung und Verdeutlichung. Insgesamt ergibt sich der Eindruck eines beziehungsreich gefügten Ganzen mit dialogischen Strukturen.

Das Stück ist ein (auch nostalgischer) Reflex der großen klassischen Musiktradition mit viel ‚Wiener espressivo‘. Eindrucksvoll durchdringen sich freie Impulse (Phantasy) und Bindekräfte des guten Alten, etwa in der Formgebung mit den Umrissen eines viersätzigen Sonatenzyklus, in der Aufstellung und Durchführung von Themen, dem Wachrufen vertrauter Satzcharaktere u. a.

Ich lernte das Stück kennen, als ich mich (in meiner Berliner Studienzeit) zum ersten Mal ausgiebiger mit dem Werk Schönbergs befasste. Das Opus 47 schlägt die Brücke zum ‚hitzigen‘ Expressionismus des frühen Schönberg; es war mir (im Unterschied zu anderen Werken des Spätwerks) sofort sympathisch, leuchtete mir ein; und dabei ist es bis heute geblieben.

Hinweisen möchte ich noch auf die bei YouTube eingestellte (Video-)Aufnahme des Stücks durch (ich zitiere) ‚Glenn Gould & Yehudi Menuhin - Schoenberg, Phantasy for Violin and Piano‘ (!) – mit einführendem Small talk der beiden Musiker.“

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⇒ Tracks #9 und 10

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7.-13.6.2021: ausgesucht von Sophie Pichler

Richard Wagner, Siegfried-Idyll
(Columbia Symphony Orchestra, Bruno Walter)

„‚Wie ich aufwachte, vernahm mein Ohr einen Klang, immer voller schwoll er an, nicht mehr im Traum durfte ich mich wähnen, Musik erschallte, und welche Musik! Als sie verklungen, trat R. mit den fünf Kindern zu mir ein und überreichte mir die Partitur des Symphonischen Geburtstagsgrußes –, in Tränen war ich, aber auch das ganze Haus; auf der Treppe hatte R. sein Orchester gestellt und so unser Tribschen auf ewig geweiht!‘ (Karl-Maria Guth (Hrsg.), Cosima Wagner: Die Tagebücher in drei Bänden. Bd. 1: 1869–1873, 2015, S. 245.)

So erinnert sich Cosima Wagner an die Erstaufführung des Siegfried-Idylls (WWV 103), damals noch Tribschener Idyll, am 25. Dezember 1870 in ihren Tagebüchern. Es ist ihr 33. Geburtstag, anlässlich dessen Richard Wagner seiner Frau im Schweizer Exil dieses wunderbare Stück komponiert hat. Wenn ich es höre, habe ich immer das gleiche Bild vor Augen: Im Vordergrund das stattliche Haus der Familie Wagner, umgeben von einem großen, einladenden Garten. Im Hintergrund erstrahlen die pittoresken Alpen, die vom letzten warmen Sonnenschein des Spätsommerabends ganz in rotes Licht getaucht sind. Es ist ein friedliches Bild, wenn auch bei genauem Hinsehen nicht alles perfekt ist – aber in diesem einen Moment könnte es schöner nicht sein.“

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⇒ Track #2


31.5.-6.6.2021: ausgesucht von Lukas Fröhlich

Globus, Aeternae
(Album Epicon)

„Die extreme Ansicht, dass E-Musik die einzig wahre Kunst sei, während es sich bei U-Musik um minderwertigen Schund handele, wird wohl nur von Wenigen vertreten, und noch ungewöhnlicher dürfte es sein, wenn ein Kind diese Ansicht vertritt. Aber es gibt sie, diese Kinder; das weiß ich aus Erfahrung – denn ich war eines davon. Seit Disneys Fantasia 2003 meine Begeisterung für Musik geweckt hatte, hörte ich ausschließlich klassische Musik und stand allem Anderen reichlich skeptisch bis ablehnend gegenüber. Das änderte sich erst 2012, als mir die Band Globus empfohlen wurde, und ich vollkommen überwältigt von dieser Musik feststellte, dass meine bisherige Einstellung womöglich doch nicht ganz richtig war. Die letztendliche Konsequenz dieser Feststellung war ebenjene völlige Offenheit für jede Art von Musik, die gewissermaßen Grundvoraussetzung für ein Studium der Musikwissenschaft ist. Ohne Übertreibung würde ich Globus als eine der Ursachen dafür nennen, dass ich jetzt hier bin (und ein „Musikstück der Woche“ vorstelle), daher kann ich gar nicht anders, als für meinen ersten Beitrag zu dieser Rubrik ein Stück dieser Band zu wählen. Ich entschied mich dabei für das Stück Aeternae vom ersten Album der Band (Epicon aus dem Jahr 2006). Deutlich hörbare Grundlage ist Händels berühmte Sarabande aus der Suite in d-Moll HWV 437, und es ist interessant, was mit deren Thema im Laufe des Stücks passiert; nicht umsonst trägt es den zunächst womöglich etwas irritierenden Beinamen Sarabande Suite. Der Text ist, wie für Globus nicht unüblich, dreisprachig und sehr interpretationsoffen, die Musik gewohnt episch und stark von Orchester und Chor geprägt, alles andere dürfte durch Hören klarer werden als durch meine Erklärungen. Ich wünsche also viel Vergnügen dabei.“

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24.-30.5.2021: ausgesucht von Johannes Schäbel

Alexander Skrjabin, Sonate Nr. 4 in Fis-Dur, op. 30
(Konstantin Semilakovs, Klavier)

»In leichtem Schleier, durchsichtigem Nebel
Strahlt weich ein Stern, weit weg und einsam.
Wie schön! Das bläuliche Geheimnis
Seines Glanzes winkt mir zu, wiegt mich ein.
Bring mich zu dir, ferner Stern!«

„So beginnt das im Original französische Gedicht (Übersetzung Sigfried Schibli), das Alexander Skrjabin als sprachliches Element zu seiner vierten Klaviersonate verfasste. Ich habe es erst geraume Zeit nach meiner ersten Begegnung mit dem Stück kennengelernt. Vor einigen Jahren kam ich ganz zufällig bei einem Musikabend am Regensburger Institut für Musikpädagogik in den Genuss, Eugen Dietrich beim Spielen der Sonate zuzuhören. Ich kann mich noch genau an einzelne Gesten des Pianisten erinnern und bin heute wie damals begeistert, wie sehr diese Musik dazu einlädt – vielleicht sogar dazu auffordert – nicht nur innerlich, sondern mit dem ganzen Körper in sie einzutauchen.

Jahre später beschäftigte mich das Stück wieder, weil ich einen Text zu einer Skrjabin gewidmeten CD von Konstantin Semilakovs schreiben durfte. Kurze Zeit vorher konnte ich sie auch ein zweites Mal live erleben – diesmal in der wieder sprachlos machenden Interpretation von Semilakovs. Sprachlos zu sein half mir leider so gar nicht bei dem Vorhaben, im Rahmen des CD-Projektes etwas zu Skrjabins Musik zu sagen. Nach einiger Zeit der Vertiefung in die Welt des Komponisten habe ich ein paar Worte gefunden, daneben auch ein paar wissenswerte Details: Wussten Sie, dass der große Mystiker und sich selbst oft zum Gott überzeichnende Skrjabin ganz verrückt nach Kringeln (Süßgebäck) war?

Zum süßlichen Anfang der vierten Sonate könnte man sich doch gut ein zauberhaftes, mit funkelndem Besteck lockendes Teezimmer mit allerlei Kringeln und Klingeln der zum Tisch bittenden Fee vorstellen. Der nahtlos anschließende zweite Satz lässt uns dann entzückt weiterfliegen – »volando« heißt es in der Satzüberschrift – hin zum im Gedicht am Ende verschlungenen, fern glänzenden Stern. Es bleibt abzuwägen, ob der sagenhafte Zuckerrausch in ekstatischer Höhe endet und uns – wie es später im Gedicht heißt – »im Wahnsinn des Verlangens« mit dem fernen Stern verschmelzen lässt oder nach ein bisschen Übelkeit belehrt, dass man vielleicht doch zuviel gegessen hat! Mir scheint die Sonate jedenfalls eines der zugänglicheren Werke Skrjabins zu sein. Der ganze Zauber dieser Musik entfaltet sich bestimmt vor allem in einer Live-Aufführung, aber dem leuchtenden Fis-Dur-Gewitter am Ende kann ich mich auch in der Aufnahme nie ganz entziehen.

Weitere Ideen und Hintergründe zur Musik Skrjabins sind in meinem Text zur CD Skrjabin. Couleurs Sonores von Konstantin Semilakovs festgehalten, der auf seiner Homepage frei zugänglich ist und auch ein Interview mit ihm umfasst. Darin geht es unter anderem um synästhetische Phänomene, die für Skrjabin und oft auch seine Interpreten eine wichtige Rolle spielen. Über die Beschreibung Ihrer Erlebnisse im »Kringelsalon« würde ich mich sehr freuen, falls Sie etwas davon teilen möchten.“

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⇒ Tracks #25 und 26


17.-23.5.2021: ausgesucht von Franziska Weigert

John Adams, Hallelujah Junction, 1st movement
(Nicolas Hodges und Rolf Hind, Klaviere)

„Wenn ich Sommerurlaub brauche, aber keinen Urlaub habe, schaue ich gerne Call Me By Your Name. Wenn ich keine zwei Stunden Zeit für den Film habe, höre ich John Adams Halleluja Junction, das dort als Filmmusik eingesetzt wird. Und schon fahre ich geistig sieben Minuten lang mit einem alten, klapprigen Fahrrad durch die Lombardei. Allen, die den Film (noch) nicht kennen, mag beim Hören diese Assoziation nicht ersichtlich sein. Nichtsdestotrotz, tolle Musik – unbedingt mit Kopfhörern hören, dann werden die zwei Klaviere plastisch!“

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⇒ Track #4


10.-16.5.2021: ausgesucht von Arn Goerke

Richard Wagner: Vorspiel aus Lohengrin
(Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan)

„Seit ich diese zarten, leisen, in sich ruhenden, an Schönheit und Glanz reich strahlenden A-Dur-Klänge des Lohengrin-Vorspiels zum ersten Mal gehört habe, seinerzeit in der Deutschen Oper Berlin, bin ich davon ergriffen. Mit den zweimaligen Flageolett-Akkorden der 4 Sologeigen, die jeweils nach den ersten beiden Einsätzen der Flöten und Oboen ‚übrig bleiben‘, gehört der Anfang dieses wunderbaren Musikstückes zum Leisesten und Behutsamsten, was Richard Wagner geschrieben hat. Über die sich anschließende Steigerung zum Fortissimo des Höhepunktes hat Richard Strauss gesagt, dass sie nie übertroffen worden und wahrscheinlich unübertrefflich sei …
Und es hat mich immer schon fasziniert, und begeistert mich mit fortschreitendem Alter zunehmend, dass eben dieses Fortissimo, beim ersten der Beckenschläge, ein – dem Subjekt, der ‚wunderwirkenden Niederkunft des Grales im Geleite der Engelschar‘ (wie Wagner selbst es beschreibt) angemessenes – ‚innerliches Fortissimo‘ ist, und somit die möglicherweise ebenfalls mit fortschreitendem Alter wachsende Ahnung des Menschen von dem, worum es gehen könnte, noch unterstreicht.
Es gibt einen wunderbaren Ausschnitt aus einer Radiosendung von 1954, in der Thomas Mann zum Lohengrin-Vorspiel spricht (lässt sich bei YouTube finden, sehr empfehlenswert!): Aus seinem, Thomas Manns, Munde zu erfahren, dass er das Lohengrin-Vorspiel für den ‚Gipfel der Romantik‘ hält und dass es ja kein Wunder sei, dass die Romantik ihren Gipfel nicht im Sprachlichen, nicht in der Dichtung, sondern in der Musik, in Tönen erreicht hat, adelt dieses Stück und überhaupt die Musik zusätzlich sehr.

Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der musikalischen Gralssuche und hoffe, dass auch Ihnen das Vorspiel zum Lohengrin ans Herz wachsen wird.“

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⇒ Track #1


3.5.-9.5.2021: ausgesucht von Peter Thoma

Benny Golson: Whisper Not
(Benny Golson’s New York Scene)

„Der Tenorsaxophonist Benny Golson (* 25.01.1929) gehört seit den 1950er Jahren zu den absoluten Superstars des amerikanischen Jazz. Er ist einer der stilbildenden Schöpfer des Hardbop und vertritt eine eher lyrische Form dieser Stilistik. Durchschlagende Erfolge erlangte er nicht nur durch sein Saxophonspiel, sondern auch durch seine Tätigkeit als Komponist und Arrangeur. Viele seiner Kompositionen wurden zu Standards im Jazz-Repertoire (Whisper Not, Along Came Betty, The Blues March, u. v. m.). Ich selbst hatte die große Ehre, als Mitglied der Peter Herbolzheimer European Masterclass Big Band bei einem Konzert mit ihm als Gaststar aufzutreten.
Vorstellen möchte ich das Stück Whisper Not, eine seiner bekanntesten und schönsten Kompositionen. Bemerkenswert bei dieser Aufnahme aus dem Jahr 1957 ist die Verwendung des Waldhorns, einem Instrument, das im Jazz nach wie vor eher selten zu hören ist. Das Arrangement stammt von dem heute 92-jährigen Golson selbst.“

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⇒ Track #2


26.4.-2.5.2021: ausgesucht von Michael Braun

Antonio Vivaldi, Konzert in C-Dur RV 114, 3. Ciaccona
(Venice Baroque Orchestra, Andrea Marcon)

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Vivaldi allzu lange gebraucht hat, um diesen Satz zu schreiben: die geläufige Bassfigur der Chaconne, darüber eine einfache dreistimmige Streichertextur mit klaren Rollenverteilungen der Einzelinstrumente, die sichere Kenntnis der Fähigkeiten seines eingespielten Mädchenorchesters im Pietà-Waisenhaus – vermutlich hat er das mehr oder weniger aus dem Ärmel geschüttelt. Aber weil Vivaldi nun mal Vivaldi ist, klingt es eben trotzdem hinreißend, frisch und energiegeladen. Dabei aber bloß nicht auf die Solovioline warten! Die kommt nicht. Stattdessen brilliert Andrea Marcons Venice Baroque Orchestra mit einer für mich kongenialen Einspielung auch ohne Virtuosenpartie. Nur schade, dass der Spaß nach gut drei Minuten auch schon wieder vorbei ist.“

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⇒Track #15


19.-25.4.2021: ausgesucht von Rebecca Wolf

Conlon Nancarrow, Study for Player Piano No. 3a
(auf CD aufgenommen 1988, gespielt auf einem Ampico Reproduktionsklavier)

„Mit dem Stück der Woche schlagen wir dieses Mal die Brücke zwischen Jazz und Klassik. Es geht um Conlon Nancarrows ersten Teil der Study for Player Piano No. 3, auch bekannt als Boogie-Woogie-Suite. Nancarrow (1912–1997), zunächst ausgebildeter Jazz-Trompeter, komponierte ab 1949 über 50 Stücke für das selbstspielende Klavier. Er komponierte direkt ins Medium, indem er die Notenrollen stanzte – eine zeitaufwändige Praxis (⇒ Illustration). Seine Studies wurden berühmt für irrwitzige Tempi, Polyrhythmen und Tonfolgen, die von Menschenhand kaum zu spielen sind. Die Musik soll geradezu mechanisch klingen – und doch ist sie auch Tanzmusik!“

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⇒ Track #1


12.-18.4.2021: ausgesucht von Katelijne Schiltz

Jean Mouton, Nesciens mater
(Theatre of Voices, Ltg.: Paul Hillier)

„Diese Motette habe ich Anfang der 1990er Jahre kennengelernt: Ich hatte gerade das erste Jahr meines Musikwissenschaftsstudiums in Leuven hinter mir und habe in den Sommerferien an einer Masterclass für Alte Musik teilgenommen. Spätestens nachdem wir Jean Moutons Nesciens mater gesungen hatten, wusste ich: DAS ist die Art von Musik, über die ich mehr wissen will. Das Werk übt auf mich eine einzigartige Faszination aus: es ist achtstimmig, aber nur vier Stimmen sind notiert – die anderen vier müssen mittels der Technik des Kanons aus den geschriebenen Stimmen abgeleitet werden. Das Erstaunliche ist, dass diese enorme, ja fast mathematische Komplexität kaum hörbar ist: Das Ergebnis ist ein wunderbar transparentes, sich allmählich entfaltendes und berührendes Stück Polyphonie.“

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⇒ Track #1



  1. Fakultät für Philosophie, Kunst-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften

Musikstück der Woche

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