Am 17. Januar 2021 verstarb Giles Constable nach schwerer Krankheit im Alter von 91 Jahren in Princeton, wo er seit seiner Berufung an das Institute for Advanced Study im Jahr 1985 lebte. Seine Kolleginnen und Kollegen, akademischen Schülerinnen und Schüler und eine große Zahl von Mediävistinnen und Mediävisten aus aller Welt, die seiner Einladung an das IAS zwischen 1985 und 2003 gefolgt sind, trauern um einen der renommiertesten Vertreter der Mittelalterforschung, dessen offene und stets charmante, von konstruktiver Kritik geprägte Art des wissenschaftlichen Dialogs Brücken zwischen vielen Ländern, Menschen und mediävistischen Disziplinen geschlagen hat.
Die engen Beziehungen zu Frankreich und zur französischen Mediävistik lassen sich nicht nur an seinem Oeuvre ablesen. Im Jahr 2000 erwarb er mit seiner zweiten Ehefrau Patricia Woolf ein mittelalterliches Haus in Cluny, Burgund, wo er nach seiner Emeritierung im Jahr 2003 viele Monate verbrachte. Im Jahr 2015 schenkte Giles Constable der New Yorker „King Baudouin Foundation United States“ seine mehr als 13.000 Bände umfassende Privatbibliothek mit der Auflage, sie als Dauerleihgabe dem archäologisch-historischen Musée d’Ochier in Cluny zur Verfügung zu stellen, wo die Bibliothèque Constable im Oktober 2016 feierlich eröffnet wurde. Diese Büchersammlung vermittelt ein Abbild der unzähligen Forschungsgebiete und -interessen, insbesondere auch des über Jahrzehnte von ihm geprägten Forschungsfelds der cluniazensischen und monastischen Studien, auf denen er sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts bewegt hat. Seine Bemühungen um die französische Geschichte und Wissenschaft führten im Jahr 1994 zur ehrenvollen Aufnahme als Associé étranger in die Académie des Inscriptions et Belles-Lettres am Institut de France in Paris.
Geboren am 1. Juni 1929 in London, wuchs Giles Constable hauptsächlich in den Vereinigten Staaten auf, wo sein Vater im Jahr 1938 eine Stelle als Kurator am Museum of Fine Arts in Boston antrat. Zeitlebens hat er eine tiefe Verbundenheit mit seiner britischen Heimat bewahrt, die sich auch in seinem Akzent und Auftreten in humorvoller Freundlichkeit äußerte. An den Eliteuniversitäten von Harvard (A.B. 1950; Ph.D. 1957) und Cambridge, England (1952-53) zeigten sich schnell seine wissenschaftlichen Qualitäten und Interessen. Noch vor Abschluss seiner Dissertation berief ihn die University of Iowa zum Assistant Professor. Ein Jahr nach der bahnbrechenden Dissertation zum Thema „Monastic Tithes from their Origins to the Twelfth Century“ (erschienen 1964) kehrte er zurück nach Harvard, wo er zwischen 1958 und 1985 in verschiedenen Positionen als Professor lehrte. Von 1977 bis 1984 war er als Direktor der renommierten Dumbarton Oaks Research Library and Collection erfolgreich.
Mit der Berufung an das Institute for Advanced Study im Jahr 1985 begann der jahrzehntelange Aufbau intensiver Forschungsnetzwerke in den Medieval Studies, die seine Arbeit seither prägten. Dabei öffnete sich sein Fach am IAS auch Ländern, Themen und Kulturen, die bis dahin nicht im Fokus der amerikanischen oder europäischen Mittelalterforschung standen. Zahlreiche Gelehrte und NachwuchswissenschaftlerInnen etwa aus arabischen, lateinamerikanischen oder seit 1989 aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion folgten seiner Einladung nach Princeton und trugen so zu einer Eröffnung neuer internationaler Forschungskontakte und -perspektiven bei.
Durch grundlegende eigene Beiträge zur Forschung prägte er bis kurz vor seinem Tod wichtige Themen der französischen und europäischen Geschichte: Die monastischen Reformbewegungen in Frankreich beschäftigten ihn bereits in seiner Dissertation. Durch die Edition zentraler Texte legte er die Basis für eine vertiefte Kenntnis der Rolle Clunys und der entstehenden Ordens- und Regelvielfalt im Zeitalter der Kirchenreform. Mit der Briefsammlung des Petrus Venerabilis, Abt von Cluny (1122-1156), The Letters of Peter the Venerable, 2 vols. (Harvard Historical Studies, 78; Cambridge, Massachusetts, 1967), erschloss er nicht nur ein zentrales Textcorpus der Geschichte Clunys im 12. Jahrhundert, sondern mit dem Medium des Briefs auch ein bleibendes Forschungsfeld, dem er 1976 den methodischen Überblick Letters and Letter-Collections in der „Typologie des sources du Moyen Age Latin“, vol. 17 widmete. Weitere Editionen erschienen 1972 mit dem Libellus de diversis ordinibus et professionibus qui sunt in aecclesia (mit Bernard Smith) und 1975 mit den Consuetudines benedictinae variae im Rahmen des „Corpus Consuetudinum monasticarum“, vol. 6, in dem unter anderem die Statuten des Petrus Venerabilis enthalten sind. Im Jahr 1985 folgten zwei apologetische Brieftraktate: Apologiae duae: Gozechini epistola ad Walcherum, Burchardi, ut videtur, abbatis Bellevallis apologia de barbis in der Reihe „Corpus Christianorum: Continuatio mediaeualis“, vol. 62 (mit R.B.C. Huygens), und im Jahr 2008 Three Treatises from Bec on the Nature of Monastic Life (gemeinsam mit Bernard Smith).
Auf der methodischen Basis akribischer Textkenntnis und der hermeneutischen Spielregeln verschiedener Textgattungen zog er weitere Kreise um das Thema Cluny und Kirchenreform, bei denen er sich den normativen Grundlagen (Regeln, Consuetudines, Papstbullen) ebenso zuwandte wie dem Phänomen der Laien und Bürger im Umfeld von Cluny, den liturgischen und kommemorialen Zeugnissen Clunys, dem Wirken einzelner Äbte und Prioren und den Beziehungen zwischen den Orden der Cluniazenser, Zisterzienser und Kartäuser (vgl. den Sammelband The Abbey of Cluny, 2009, mit 29 Aufsätzen Constables). Dieser Band erschien ebenso wie der im Jahr 1998 gemeinsam mit Gert Melville und dem Verfasser dieses Nachrufs publizierte Band Die Cluniazenser in ihrem politisch-sozialen Umfeld in der Reihe „Vita regularis“, die stellvertretend für die engen Forschungskontakte genannt sei, die Giles Constable auch nach Deutschland unterhielt. Neben der Dresdner Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte und dem ordensgeschichtlichen Schwerpunkt an der FU Berlin stand er nicht zuletzt dem Institut für Frühmittelalterforschung der WWU Münster nahe.
Die intellektuelle Seite der Ordensreformen beschäftigte ihn seit den Studien über Petrus Venerabilis. Dieses Thema verdichtete er in einem ersten Sammelband Religious Life and Thought (11th-12th Centuries) im Jahr 1979, in dem unter anderem Beiträge zur zeitgenössischen Diskussion über Wallfahrten, über die Predigten Bernhards von Clairvaux oder über den Begriff der reformatio erschienen. Gemeinsam mit Robert Benson gab er 1982 den Band Renaissance and Renewal in the Twelfth Century heraus, der in interdisziplinärer Perspektive die intellektuellen Umbrüche des 12. Jahrhunderts beschreibt und damit einen bis heute wirksamen Topos der Wissensgeschichte etablierte. Diese Umbrüche begründete Constable unter anderem mit den neuen kulturellen Kontakten im Zeitalter der Kreuzzüge, denen er einen weiteren Forschungsschwerpunkt widmete. Dabei kam er auf das Scheitern des Zeiten Kreuzzugs und die Rolle des Byzantinischen Reichs und seiner Menschen in weiteren Publikationen immer wieder zurück (vgl. die Sammelbände People and Power in Byzantium: An Introduction to Modern Byzantine Studies (Washington, D.C., 1982) und Crusaders and Crusading in the Twelfth Century (Farnham and Burlington, VT; Ashgate 2008).
Weitere Bände und Editionen etwa zum spätmittelalterlichen Florenz: Sacrilege and Redemption in Renaissance Florence: The Case of Antonio Rinaldeschi (gemeinsam mit William Connel) oder zum wissenschaftshistorisch bedeutenden Briefwechsel zwischen dem Kunsthistoriker Bernard Berenson und dem Mediävisten Charles Henry Coster: The Letters between Bernard Berenson and Charles Henry Coster (with Elizabeth H. Beatson and Luca Dainelli) bezeugen die weit gefächerten Interessen Constables, die in über 300 Einzelbeiträgen aus mehr als sechs Jahrzehnten dokumentiert sind.
Als sein letzter Forschungsassistent in Princeton vor seiner Emeritierung im Jahr 2003 durfte ich miterleben, mit welcher Begeisterung Giles Constable neue Themen aufgriff und im Kreis der Princetoner Fellows diskutierte. Auch wenn die Lehre nicht zu seinen Aufgaben am IAS zählte, förderten diese Veranstaltungen einen charismatischen Universitätslehrer zutage, der an Meinungen, Begründungen und Widerspruch seitens seiner Gegenüber helle Freude hatte. Einladungen als Visiting Professor, unter anderem je zweimal an die Georgetown University (1982, 1997), Princeton University (1989, 1995) und Arizona State University (1992, 2005) nahm er gerne an, da sie ihm die Gelegenheit zur Lehre gaben.
Im Laufe seiner langen akademischen Tätigkeit hat Giles Constable zahlreiche Ehrungen und Aufgaben erhalten. Als Mitherausgeber prägte er nicht zuletzt durch eine unermüdliche Rezensionstätigkeit wichtige Zeitschriften wie Speculum (1958-1978), Journal of Ecclesiastical History (1964-75), Medievalia et Humanistica (1969- ), Revue Mabillon (1990- ), Mediterranean Studies (1991-2002), Le Moyen Age (1997- ) und Sacris Erudiri (1999- ). Seine Mitgliedschaften in internationalen Akademien waren ebenso zahlreich wie bedeutsam: Neben der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres gehörte er der Accademia Nazionale dei Lincei (Rom), der American Historical Association, der American Philosophical Society, der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der British Academy, dem Instituto Lombardo, der Accademia di Scienze e Lettere und nicht zuletzt der Royal Historical Society an. Ehrendoktorwürden erhielt er von den Universitäten Paris 1 (Sorbonne), dem Pontifical Institute of Medieval Studies in Toronto, der Georgetown University und der Longwood University.
Dass er diese Ehrungen nicht vor sich hertrug, sondern in seiner beeindruckenden, fast zwei Meter großen Erscheinung seinen Gesprächspartnern stets mit Offenheit, Neugier, Bescheidenheit, warmherziger Freundlichkeit und sprühendem Witz auf Augenhöhe begegnete, war ihm immer eine Selbstverständlichkeit. Wenn man die familiären Schicksalsschläge kennt, die ihn in seinem Leben nicht verschonten, war dies jenseits aller wissenschaftlichen Exzellenz eine besondere Gabe, an die sich alle KollegInnen, SchülerInnen, Fellows und Menschen aus seiner Umgebung dankbar erinnern werden.
Jörg Oberste
Professur für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften
Tel.: +49 941/943-3536