Imre Tóth kam 1971 nach Regenburg an die neu gegründete Universität. Er wurde auf den gerade eingerichteten Lehrstuhl für Allgemeine Wissenschaftsgeschichte berufen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Als rumänischer Jude ungarischer Abstammung erlebte er die Gräuel des Holocausts, durch den er beinahe seine gesamte Familie verlor. Nach dem Krieg, den er zu einem Großteil als kommunistischer Widerstandskämpfer inhaftiert und mit Zwangsarbeit verbrachte, folgte sein Studium in Mathematik und Physik. Im Anschluss begann mit seiner Dissertation in Bukarest seine akademische Karriere. Positive Äußerungen bezüglich des ungarischen Volksaufstandes hatten jedoch den Ausschluss aus der Kommunistischen Partei Rumäniens zur Folge, was Imre Tóths Karriere enorm erschwerte. Das veranlasste ihn dazu, von einer Reise nach Deutschland nicht nach Rumänien zurückzukehren. Nach mehreren Gastprofessuren kam er so 1971 auf den Lehrstuhl in Regensburg. Seinem Geburtsland hatte er hiermit den Rücken zugekehrt.
Manuskript "Matematica si dialectica"
Durch all diese Erlebnisse erlangte der Begriff ‚Heimat‘ eine besondere Bedeutung für ihn. Einerseits war er ein Kosmopolit und konnte sich überall heimisch fühlen, doch auf der anderen Seite suchte er sein Leben lang nach dem Gefühl, angekommen zu sein. In Regensburg sollte er schließlich bis 1989 bleiben. In dieser Zeit heiratete er ein zweites Mal, gründete eine Familie und etablierte den Lehrstuhl für Allgemeine Wissenschaftsgeschichte. Dennoch konnte ihm die Stadt eines nicht bieten: das Lebensgefühl einer Metropole. Er war viel auf Reisen und knüpfte zahlreiche Kontakte – da er mindestens acht Sprachen fließend sprach, war die Verständigung vor Ort kein Problem. Einer dieser Kontakte sollte ihm sogar dazu verhelfen, zum Ehrenbürger der Platonstadt Syrakus auf Sizilien ernannt zu werden.
Objectivites chimiques
Wie sehr ihm die Großstadt fehlte, zeigt sich darin, dass er bereits kurz vor seiner Emeritierung nach Paris zog. In seiner neuen Wahlheimat bezog er eine kleine Wohnung, in der er häufig und gerne Gäste empfing. Mehrere Wochen im Jahr verbrachte er zudem in Italien, wo er seinen Forschungstätigkeiten weiterhin nachging. Nach seinem Tod im Jahr 2010 erfuhr seine Familie, dass der eigentlich sehr liberal eingestellte Tóth in Paris einer orthodoxen jüdischen Gemeinde beigetreten war. In Paris scheint er endlich das gefunden zu haben, was er gesucht hatte: einen Ort, an dem er bleiben konnte.
Dans le Salons du Grand Hotel Waldorff-Astoria
Wenninger, Eleyne (2021): Imre Tóth: Collage eines Lebens, in: Becker, Andreas und Christian Reiß (Hrsg.): Imre Tóth (1921–2010) und die Institutionalisierung der Wissenschaftsgeschichte an der Universität Regensburg (Schriftenreihe des Universitätsarchivs Regensburg, Bd. 3), Regensburg: Universitätsverlag Regensburg.