Zwei Männer an einem Abgrund, „On the Edge“, so der Titel der Plastik von Grisha Bruskin. Sie sind in der Bewegung festgehalten, in dem Moment, an dem sie die Felsklippe erreichen und in dem unklar ist, ob einer von ihnen hinunterstürzen wird, vielleicht auch beide. Der eine ist durch eine Brille mit dunklen Gläsern als Blinder gekennzeichnet, sein Blindenstock tastet bereits vor ihm ins Leere, sein rechter Arm ist suchend nach vorne ausgestreckt. Während ein Fuß noch fest auf dem Felsboden steht, schwebt der andere, den nächsten sicheren Tritt suchend, schon gefährlich weit über dem Nichts vor ihm. Der nächste Schritt führt in den Abgrund. An seiner Seite, mit einer Hand unter den linken Arm des Blinden greifend, ist ein zweiter Mann, der eine Gasmaske und eine Art Uniform trägt. Er scheint nicht in unmittelbarer Gefahr, zu stürzen, seine Bewegungen wirken kontrolliert. Seine Füße stehen fest auf dem Felsboden, sein linker Arm ist nach hinten gestreckt, wie zur Balance.
Das Verhältnis der Männer zueinander ist so uneindeutig wie die Geste des Maskierten am Arm des Blinden. Ist er der Blindenführer, der den anderen vorsichtig am Unterarm hält, ihn bremst, ihm signalisiert, er solle lieber einen Schritt zurücktreten? Der Soldat, der sich um den Zivilisten kümmert? Aber wie sind die beiden überhaupt an diese Stelle gekommen? Hat der Maskierte den Blinden an die Klippe geführt und geleitet ihn nun sanft in den Abgrund? Aber was ist sein Motiv? Befolgt er Befehle, oder handelt er eigenmächtig? Der Blinde und der Mann mit der Gasmaske haben etwas gemeinsam. In ihren Gesichtern, verdeckt von Brille und Maske, können wir nicht lesen. Der Zugang zu ihnen bleibt der Betrachterin verschlossen.
Prof. Dr. Susanne Leist, Dr. André Schüller-Zwierlein und Hans-Peter Riese enthüllen im Oktober 2020 die Vitrine mit der Plastik
Die Plastik ist Teil des Projektes H-Hour von Grisha Bruskin, in dem 80 Einzelfiguren, Figurengruppen und Objekte ausgestellt waren.[1] Sie zeigen Szenen inmitten eines unbestimmten Ausnahmezustandes: Gruppen von Flüchtenden mit ihren Habseligkeiten, Soldaten in einem Zelt, verhungernde Hunde, ein abstürzendes Flugzeug, eine tote Maus. Vor allem gibt es zahlreiche Szenen, die Gasmaskenträger in Interaktionen mit Hilfebedürftigen zeigen, mit Blinden, Bettlern, Verletzten. Ihre Rolle ist nicht eindeutig: sie rauben einen Zivilisten aus, strecken einem gestürzten Mann eine helfende Hand aus, verpassen einem anderen einen Faustschlag.[2] Sind sie Helfer oder Teil der Gefahr?
Die Plastiken sind ikonographisch angelehnt an sowjetische Zivilschutz-Plakate der 1950er und 1960er Jahre. H-Hour beleuchtet so die propagandistische Manipulation der Bevölkerung durch Zivil- und Katastrophenschutz in der Sowjetunion. Die Figuren und ihre Entgleisungen, so Hans-Peter Riese, enthüllen die „dunkle Seite“ der kommunistischen Mythologie von kollektiver Sicherheit. Individuen, auch die Funktionsträger in ihren Gasmasken und Uniformen, reagieren auf den Druck des Kollektivs nicht wie vom System vorgesehen.[3] Die Figuren wirken, wie Robert Storr schreibt, wie Figuren in einem Schachspiel, „uncanny icons“ im Freudschen Sinn: gleichzeitig vertraut und fremd.[4] Die Perspektive der Betrachterin ist dabei die eines Kindes ‒ Bruskin selbst im Moskau der 1950er Jahre, die Plakate betrachtend, wie er schreibt, das die Gefahr wahrnimmt, aber ihre Hintergründe noch nicht versteht.[5] Die Gefahr selbst wird nicht sichtbar, nur die Reaktionen auf sie. So wiederholt Grisha Bruskin in seinem kurzen Beschreibungen zu den Plastiken wie ein bedrohliches Mantra immer denselben kryptischen Satz: “The danger awaiting the hero in the H-Hour space.“[6] Die Figur des Feindes und die Figur des Helden stehen sich wie in einem Mythos immer wieder gegenüber. Es bleibt jedoch unklar, wer auf welcher Seite steht. Die von Bruskin suggerierten Rollen sollen sich nicht klar bestimmen lassen. Ist der Maskierte der Feind, oder doch der Blinde?
Zur Funktion von Masken schreibt der Theaterwissenschaftler Reinhard Weihe Sobald sie aufgesetzt ist, lässt sich die Maske als Paradox beschreiben: Sie zeigt, indem sie verbirgt.
[7] Auch Schutzmasken haben kommunikative Anteile: Sie verweisen auf die Gefahr, gegen die sie schützen, sie markieren eine Ausnahmesituation.[8] Die Maske verbirgt ihren Träger aber auch vor seinem Gegenüber und erschwert so die Perspektivierung des Geschehens vom Anderen her
, so der Sozialphilosoph Reinhard Olschanski.[9] Vergeblich suchen wir im Gesicht des Gasmaskenträgers nach Anhaltspunkten für seine Motive. Verdächtigen wir ihn zu Unrecht?
Die Darstellung von Blinden wiederum lässt sich in eine lange kulturhistorische Tradition einordnen. So kann Blindheit in der Antike einerseits eine Strafe der Götter für Verfehlungen, andererseits aber auch eine Gabe der Götter, verbunden mit der Fähigkeit der Weissagung, sein.[10] In der Neuzeit hingegen überwiegen Darstellungen der Blindheit als Verblendung oder blinder Gehorsam, wie z.B. in Käthe Kollwitz‘ Holzschnitt „Die Freiwilligen“ (1922/23), in dem junge Männer dem trommelnden Tod als Heeresführer in den Krieg folgen. Ihre Augen sind geschlossen oder zum Himmel gerichtet, blind.[11] Ist der Blinde in Grisha Bruskins Plastik ein Beispiel für diese Art von Verblendung, von blindem Autoritätsglauben?
In der christlichen Ikonographie wiederum finden sich häufig Blindenheilungen durch Jesus oder durch Heilige als Metapher für das Erkennen des wahren Glaubens. Einen Sonderfall stellt das Motiv des blinden Blindenführers dar, das auf das Matthäusevangelium zurückgeht. Jesus spricht zu den Jüngern über die Pharisäer: Lasst sie, es sind blinde Blindenführer. Und wenn ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in eine Grube fallen
(Matthäus 15,14). Die bekannteste Version dieses Motivs ist der „Blindensturz“ von Pieter Bruegel dem Älteren (1568), in dem eine Prozession Blinder, ein jeder mit der Hand auf der Schulter des Vordermannes, in den Graben stürzt, häufig gelesen als Sturz der religiös Irrenden in einer tragikomischen, buchstäblichen Parabel(form).[12] Dazu schreibt der Augenarzt und Kunsthistoriker Otto Käfer: [d]as blinde Vertrauen in einen Blindenführer kann nicht gut enden
.[13] In Bruskins H-Hour gibt es eine auf Bruegels Darstellung basierende Figurengruppe: „The Crowd“ zeigt eine Gruppe Blinder, mit dunklen Brillengläsern als solche markiert, die von einem ebenfalls Blinden mit Blindenstock angeführt werden.[14] Haben wir es auch im Fall des Gasmaskenträgers in „On the Edge“ mit einer Variation des blinden Blindenführers zu tun?
Die Plastik wirft in bester Weise mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Wie aber verhält sie sich zum Ort ihrer Aufstellung, der Bibliothek? Und was lässt sich, über den historischen Kontext der Sowjetpropaganda hinaus, mit ihrem Motiv über die Gegenwart sagen? Grisha Bruskin selbst verweist auf den ständigen Ausnahmezustand, der ihm, von Moskau bis New York, zunehmend zum Normalzustand zu werden scheint.[15] Tatsächlich scheint diese Frage nie so aktuell wie in der Covid 19-Pandemie, in der weltweit temporär Grundrechte eingeschränkt wurden und das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes Teil unseres Alltags geworden ist. Wie lange wird dieser Ausnahmezustand anhalten? Und wie wird die Rückkehr zum Normalzustand aussehen? All diese Fragen gilt es zu beobachten und kritisch zu erörtern, von wissenschaftlichen Fachcommunities genauso wie von einer demokratischen Öffentlichkeit. Damit sei der Bogen geschlagen zur Rolle der Bibliothek.
Eine Hauptaufgabe von Bibliotheken ist es, Publikationen der Öffentlichkeit verfügbar zu machen. Dabei geht es um den aktuellen Stand der Wissenschaft, aber auch das Wissen der Vergangenheit, das in ihren Sammlungen bewahrt ist. Der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar schreibt dazu passend: Die lebendige Vergangenheit gleicht dem Schwert und den schweren Ballasttanks eines großen Segelschiffs. Versteckt unter der Meeresoberfläche verleihen sie dem Boot Stabilität, wenn der Wind in die Segel greift. Eine vergangenheitsblinde Kultur wäre den Stürmen schutzlos ausgeliefert
(eigene Hervorhebung).[16] Dieser Gedanke entspricht auch Grisha Bruskins Kunstverständnis. Seine Darstellungen von Mythen der Sowjetpropaganda sollen als Metaphern den aktiven Betrachter zu Überlegungen über seine eigene Zeit und Umstände anregen.[17] Wie zentral diese Aufgabe für unser Gesellschaftsverständnis ist, zeigt sich auch darin, dass eine andere Arbeit Grisha Bruskins, das Triptychon „Leben über alles“, im Clubraum des Deutschen Bundestages hängt und dort den Betrachter „im Spiegel russischer totalitärer Mythen ihm vertraute Details der eigenen Geschichte entdecken“ lassen soll.[18]
Bibliotheken können dabei helfen, mit dem Wissen der Vergangenheit auf die Gegenwart und in die Zukunft zu blicken. Insbesondere in Zeiten der ‚Informations-Pandemie‘,[19] die eine Verbreitung von fake news und scheinbar einfachen Antworten auf komplexe Fragen befördert, eine große und verantwortungsvolle Aufgabe. Der Zugang zum Wissen der Vergangenheit und Gegenwart soll den Benutzerinnen der Bibliothek Forschung und Studium, aber eben auch die informierte Teilhabe an der Demokratie ermöglichen. Michael Knoche verweist hier auf die „gesellschaftlich integrative Rolle“ von Bibliotheken: Die Bibliothek zeichnet sich als eine Arena aus, in der gesellschaftlicher Pluralismus erfahren und die Einübung von Respekt vor Andersheit eingeübt werden könne.
[20] Die Bibliothek nicht nur als Bewahrerin, sondern auch als Begegnungsort, kann dazu beitragen, die Perspektive des anderen einzunehmen ‒ hinter die Maske zu blicken ‒, und somit eine gesellschaftlich zentrale Rolle einnehmen in der Verhandlung des Verhältnisses von Kollektiv und Individuum.
Hans-Peter Riese schreibt, Bruskins Figuren hätten die besondere Fähigkeit, sich ihrem vorgegebenen Raum anzuverwandeln
.[21] Die Plastik „On the Edge“, so ist zu hoffen, wird das in diesem Sinne ebenfalls mit den Räumen unserer Bibliothek tun. Sie kann Mahnung an die Bibliothek sein, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden, und gleichzeitig Signal an die Benutzer, Studierende und Wissenschaftlerinnen, dass es besser ist, neue Fragen aufzuwerfen als einfache Antworten zu geben.
Lea Marquart, 25.03.2020
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[1] Erstausstellung im Multimedia Art Museum, Moskau, 3.9.-3.10.2012. Vgl. Patricia Donegan (Hrsg.). Grisha Bruskin: H-Hour. Bielefeld: Kerber, 2013.
[2] Siehe z.B. “Robbery” (https://fineartbiblio.com/artworks/grisha-bruskin/43060/robbery), “Beggar” (https://fineartbiblio.com/artworks/grisha-bruskin/43069/beggar), “Fistfight” (https://fineartbiblio.com/artworks/grisha-bruskin/43076/fistfight).
[3] Riese, Hans-Peter. “Working on the Mythology of Life.” H-Hour. S. 61.
[4] Storr, Robert. „A Hard Rain‘s A-Gonna Fall.” H-Hour, S. 13-24.
[5] Bruskin, Grisha: “H-Hour” H-Hour, S. 79.
[6] https://fineartbiblio.com/artworks/grisha-bruskin/43062/on-the-edge
[7] Weihe, Richard. Die Paradoxie der Maske.Fink, 2004, S. 14.
[8] Olschanski, Reinhard. Maske und Person. Vandenhoeck und Ruprecht, 2001, S. 63.
[9] ibid, S. 67.
[10] Käfer, Otto.Blindheit in der Kunst. Gebr. Mann Verlag, 2016, S. 31f.
[11] ibid, S. 173.
[12] ibid., S. 79ff.
[13] ibid., S. 338.
[14] Vgl. https://fineartbiblio.com/artworks/grisha-bruskin/43057/the-crowd
[15] Bruskin, “H-Hour”, S. 80.
[16] Ranga Yogeshwar: Nächste Ausfahrt Zukunft. Geschichten aus einer Welt im Wandel. Kiepenheuer & Witsch, 2017, S.274, zitiert aus: Knoche, Michael. Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft. Wallstein, 2018, S. 89.
[17] Bruskin, „H-Hour“, S. 81.
[18] https://www.bundestag.de/besuche/kunst/kuenstler/bruskin/bruskin-199142
[19] Der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, sprach bereits am 15. Februar 2020 auf der Münchner Sicherheitskonferenz von einer „infodemic“: https://www.who.int/dg/speeches/detail/munich-security-conference
[20] Knoche, S. 117.
[21] Riese, Hans-Peter: „Die Dialektik von Zeit und Raum im Werk von Grisha Bruskin.“ Von der Avantgarde in den Untergrund. Wienand, 2009, S. 135.
Bruskin, Grisha: „H-Hour.“ Donegan, Patricia (Hrsg.). Grisha Bruskin: H-Hour. Bielefeld: Kerber, 2013, S. 79-90.
Donegan, Patricia (Hrsg.). Grisha Bruskin: H-Hour. Bielefeld: Kerber, 2013.
Käfer, Otto. Blindheit in der Kunst. Gebr. Mann Verlag, 2016.
Knoche, Michael. Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft. Wallstein Verlag, 2018.
Olschanski, Reinhard. Maske und Person. Vandenhoeck und Ruprecht, 2001.
Riese, Hans-Peter. „Die Dialektik von Zeit und Raum im Werk von Grisha Bruskin.“ Von der Avantgarde in den Untergrund. Wienand, 2009. S. 135-139.
Riese, Hans-Peter. „Working on the Mythology of Life.” Donegan, Patricia (Hrsg.). Grisha Bruskin: H-Hour. Bielefeld: Kerber, 2013, S.51-78.
Storr, Robert. „A Hard Rain‘s A-Gonna Fall.” Donegan, Patricia (Hrsg.). Grisha Bruskin: H-Hour. Bielefeld: Kerber, 2013, S. 13-24.
Weihe, Richard. Die Paradoxie der Maske. Fink, 2004.