Zu Hauptinhalt springen

Mitteilungen der Universität Regensburg

Liegt die Zukunft der Zeitzeugenschaft im Digitalen?

Podiumsdiskussion am Zentrum Erinnerungskultur der Universität Regensburg zu den Herausforderungen für historisches Erinnern im digitalen Zeitalter


28. Juni 2024
Nur noch wenige, hochbetagte Überlebende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft können heute von ihren Erfahrungen berichten. Wie lässt sich die Lücke, die Zeitzeug*innen nach ihrem Tod hinterlassen, füllen? Können volumetrische Projektionen oder Virtual-Reality-Anwendungen, die den direkten Kontakt mit Überlebenden simulieren, die unmittelbare Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ermöglichen? Darüber diskutierten am 20. Juni an der Universität Regensburg die Deutschdidaktikerin Professorin Dr. Anja Ballis (LMU München), der Historiker Professor Dr. Wulf Kansteiner (Aarhus University, Dänemark) und Professor Dr. Jörg Skriebeleit, Direktor des Zentrums Erinnerungskultur an der Universität Regensburg (UR) und Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, die mit der UR und ihren Wissenschaftler*innen vielfältig zusammenwirkt.

Podiumsdiskussion des Zentrums Erinnerungskultur an der Universität Regensburg mit (v. l.) Prof. Dr. Juliane Tomann, Prof. Dr. Wulf Kansteiner, Prof. Dr. Anja Ballis und Prof. Dr. Jörg Skriebeleit. Foto: Anna-Elena Schüler / Universität Regensburg

Die Moderatorin der Podiumsdiskussion im H24 des Vielberth-Gebäudes, UR-Juniorprofessorin Dr. Juliane Tomann (Public History), erinnerte zu Beginn der Veranstaltung daran, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft zentral ist. Essentiell für die Geschichtsvermittlung war bislang der direkte Austausch zwischen Überlebenden und den nachgeborenen Generationen. Doch Zeitzeug*innen sterben. Wie mit ihren Zeugnissen künftig umgehen? Können bestehende Formate ins Digitale überführt werden? Wie lässt sich ein Übergang vom Analogen ins Digitale gestalten? Braucht es gar eine neue Erinnerungskultur?

Zivilgesellschaftlicher Exkurs: Die vergessenen Frauen von Aichach

In einer Reihe von UR und Leibniz-WissenschaftsCampus zu Intersektionalität und Area Studies spricht am Tag der Podiumsdiskussion Jacoba Zapf vom Frauenforum Aichach-Friedberg an der UR über die Geschichte der fast 2000 Frauen, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs aus politischen, religiösen, sozialen, medizinischen oder kulturellen Gründen als kriminell konstruiert, in der nationalsozialistischen Strafanstalt Aichach eingesperrt und teilweise zwangssterilisiert wurden. Viele von ihnen wurden nach Auschwitz gebracht und dort ermordet. Zapf ist eine der Initiatorinnen einer Bürgerinitiative, die den „vergessenen Frauen von Aichach“ ein Denkmal setzt und initiierte, ihre Geschichte aufzuarbeiten und zu dokumentieren.

Am Ort der Erinnerung in Aichach steht ein Mahnmal, das analoge und digitale Elemente vereint – eine Textbotschaft, für deren Lektüre es notwendig ist, den Erinnerungsort zu betreten und genau zu betrachten; zugleich enthält das Kunstwerk selbst QR-Codes zur Webseite des Projektes, das die historische Dokumentation des Ortes voranbringen und zukünftigen Generationen zugänglich machen will: Alle Interessierten können sich an einer Sammlung von Materialien und Bildern beteiligen und damit direkt dazu beitragen, den misshandelten und getöteten Frauen eine Stimme zu geben.

Blick in die Ausstellung "Ende der Zeitzeugenschaft?" an der Universitätsbibliothek Regensburg. Foto: Julia Dragan / Universität Regensburg

Wie gehen wir zukünftig mit Zeitzeugnissen um?

Wie gibt man den Zeitzeug*innen auch künftig eine Stimme? Wulf Kansteiner, der viele Jahre an US-amerikanischen Hochschulen tätig war und innerhalb der Geschichtswissenschaften die Subdisziplin Memory Studies vertritt, erinnert zu Beginn der Diskussion an die große Herausforderung, Interviews so zu führen, dass sie als Quelle brauchbar sind. Zudem stelle sich die Frage, wie man grundsätzlich mit den Aufzeichnungen umgehe. Eine digitale Komponente finde sich zwischenzeitlich in allen Medien, sagt Kansteiner, die bei der Arbeit mit den Quellen stets berücksichtigt werden müsste. Aktuell befinde man sich an einem Wendepunkt: Fragen zur sozialen Konstruktion von Erinnerung würden aufgeworfen, „die wir so vor einigen Jahren nicht gehabt hätten“. Dass viele Fragen offen seien – darüber herrscht Einigkeit.

Bei den (möglichen) Antworten wird es schon schwieriger. Juliane Tomann lädt das Podium eingangs ein, von Projekten zu berichten, die analoge in digitale Zeitzeugenschaft überführen. Didaktikerin Anja Ballis setzt auf die vielfältigen Möglichkeiten von Virtual Reality (VR). Sie entwickelt mit ihrem interdisziplinären Team volumetrische Projekte, um Chancen und Grenzen von interaktiven 3-D-Zeugnissen für die Vermittlungs- und Bildungsarbeit auszuloten. Im Projekt „LediZ – Lernen mit digitalen Zeugnissen“ seine zwei Holocaustüberlebenden jeweils ca. 1000 Fragen gestellt worden. Bei der Beantwortung dieser Fragen seien die Zeitzeug*innen von zwei Spezialkameras stereoskopisch gefilmt worden. Das Rechenzentrum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften speichere die so gewonnenen Daten, erzählt Ballis. Die daraus entstehenden Zeitzeug*innen-Hologramme würden mit einer Spracherkennungssoftware trainiert, um die Interaktion mit dem digitalen Zeugnis zu ermöglichen. Werde das Hologramm der Zeitzeugin von Usern befragt, erfolge ein Abgleich mit der vorhandenen Datenbasis. Sei eine passende Antwort vorhanden, würde sie als Video ausgespielt.

Quellen und Medien

Jörg Skriebeleit, Historiker und Gedenkstättenleiter, der die aktuell in der Universitätsbibliothek Regensburg gezeigte Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“ mitkuratierte, sieht in solch digitalen Projekten große Herausforderungen für die Geschichtsvermittlung. Verknüpfung von Digitalität und Zeitzeugenschaft – in seinen Augen grundsätzlich ja, aber immer in einem reflektierten Kontext. Skriebeleit will keine „pädagogische Vernutzung“, ist irritiert von so manchen Anfragen an das Archiv der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg zur Nutzung von Interviews mit Zeitzeug*innen für digitale (Schul-)Projekte. Es gebe problematische Erwartungshaltungen, berichtet Skriebeleit. Sei dies der Fall, lehne das Flossenbürger Archiv Nutzungsanfragen ab: „Für uns ist es eine sehr grundlegende überdisziplinäre Frage, wie wir mit Zeugnissen, die Menschen uns zu einem Zeitpunkt x gegeben haben, umgehen“. Eindringlich fordert Skriebeleit, sich mit dem archivierten Material klug und ethisch legitim auseinanderzusetzen, künstliche Intelligenz aber auf Recherchezwecke zu reduzieren.

Aus der Sicht von Anja Ballis hingegen ist es nicht mehr möglich, digitale Erinnerungsformate durch Institutionen, etwa Schulen, zu „zähmen“. Aktuell lebe man bereits in der Postdigitalität, daran lasse sich nicht mehr rütteln. Sie untersuche u. a. toxische Sprache im Internet und arbeite daran, mit digitalen Ansätzen beispielsweise Antisemitismus im Netz zu begegnen. VR sei dabei „ein scharfes Schwert“, biete die Möglichkeit, Lehrkräfte und Schüler*innen bei der Aufklärungsarbeit mitzunehmen und zugleich mehr über Wirkungsweisen von Algorithmen zu verstehen. So lasse sich auch „in radikale Bereiche“ vordringen.

Im Gespräch bei der Ausstellungseröffnung: Universitätspräsident Prof. Dr. Udo Hebel (r.) mit Mitarbeitern der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Julius Scharnetzky (M., Leiter Ausstellungskonzeption & Kommunikation) und Johannes Lauer (l., Leiter Digitale Projekte & Neukonzeption Steinbruch). Foto: Julia Dragan / Universität Regensburg

Rettung? Recht?

Kansteiner vermutet, dass die Versuche, die Zeitzeugenschaft der NS-Zeit auf digitalem Weg in zukünftige Generationen zu retten, funktionieren könnten. Doch gebe es auch „digitale Welten, in denen genau gegenteilige Momente verfolgt werden. Wir haben versucht, im Sinne von Humanisierung zu arbeiten, zugleich passiert Brutalisierung“. Doch werde zunehmend versucht, klare Grenzen zu setzen – der Wissenschaftler erinnert an das EU-Gesetz über digitale Dienste, das Web-Nutzer*innen schützen und sichere digitale Räume schaffen soll.
Ballis bezweifelt, dass ein solcher „Rettungsaspekt“ in den heutigen medialen Räumen tatsächlich noch zentral sei. Vielmehr gehe es darum, die Geschichten der Überlebenden in anderen Formaten weiterzuerzählen. Sie berichtet zudem von Überlebenden, die ihre Geschichte in medialen Formaten, kuratiert von Familienmitgliedern, selbstbestimmt erzählten. „Stellt das nicht auch uns in Frage?“ fragt die Wissenschaftlerin, die fordert, „dort hinzugehen, wo die jungen Menschen sind“.

Skriebeleit hingegen pocht darauf, dass digitale Informationen mit Personenbezug nicht dauerhaft im Netz zur Verfügung stehen dürfen, und äußert große Bedenken, dass the right to be forgotten nicht länger respektiert werde. Er berichtet von Zeitzeug*innen, die die Nutzung ihrer Interviews wieder zurückgezogen hätten, weil sie den vielfältigen digitalen Verwertungsansätzen skeptisch gegenüberständen.
Ballis entgegnet, dass riesige Interview-Sammlungen, etwa der USC Shoa Foundation, heute digital verfügbar und neue Dokumente auf Grundlage frei verfügbarer Quellen einfach zu konstruieren seien. Was das eine Archiv nicht bereitstelle, hole man sich beim anderen – wer bestimmte Absichten verfolge, werde in jedem Fall fündig. Skriebeleit lehnt diese pragmatische Sichtweise „gerade im wissenschaftlichen Kontext“ ab. Man dürfe die wissenschaftlichen und ethischen Standards im digitalen Raum nicht fallen lassen, die man im analogen Raum garantiere – das ist die tiefe Überzeugung des Historikers.

Deutlich macht die Diskussion, dass es auch in diesem Bereich keine schnellen und einfachen Lösungen für die Dilemmata digitaler Entwicklungen gibt. Einig ist man sich dahingehend, dass Zuhören immer und überall zu den wichtigsten Tugenden gehört. Dass Diskriminierung niemandem gleichgültig sein darf. Aber deutlich wird auch, dass der Blick auf Zeitzeugenschaft selbst sich in einem tiefgreifenden Umbruch befindet – und mit dem Blick verändern sich die Formen, Bedingungen, Möglichkeiten und Wirkungen historischen Erinnerns. Es gab viele nachdenkliche Gesichter an diesem Abend.  

twa.

Informationen/Kontakt

Die Podiumsdiskussion wurde von Dr. Philipp Bernhard organisiert und gehört zum Begleitprogramm der Ausstellung "Ende der Zeitzeugenschaft?", derzeit zu sehen an der Universitätsbibliothek Regensburg.

Zum Zentrum Erinnerungskultur an der Universität Regensburg

Zur KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Über das Projekt „Die vergessenen Frauen von Aichach“
Dimensionen der Erinnerung – Beiträge zu Flossenbürg

Über das Projekt LediZ

Kommunikation & Marketing

 

Anschnitt Sommer Ar- 35_