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Aktuelle Meldungen aus der Forschung an der UR

Unfreiheit und Moderne

LWC-UR-Konferenz “Unfree Spaces in the Modern World: Resistant Responses, Empowering Acts”


27. Januar 2023

Unfreiheit in der modernen Welt, Akte des Widerstandes, Unbeugsamkeit, die Wehrhaftigkeit von Demokratie, Selbstbestimmung und Möglichkeiten ihrer Vergleichbarkeit, Beispiele ihrer Verflechtungen: Inhalte der hochkarätig besetzten Area-Studies-Konferenz Unfree Spaces in the Modern World: Resistant Responses, Empowering Acts, zu der die Wissenschaftlerinnen Dr. Birgit Hebel-Bauridl (American Studies)  und Professorin Dr. Sabine Koller (Slavisch-Jüdische Studien) internationale Kolleg*innen verschiedener Disziplinen und Forschungseinrichtungen von 19. bis 21. Januar nach Regensburg und Flossenbürg einluden. Leitfragen der knapp 70 Teilnehmenden: Wie wird Freiheit oder Unfreiheit im Raum erlebt? Wie ist Unfreiheit mit der Moderne verknüpft? Wie sehen Reaktionen darauf aus? Welche Formen von Empowerment und Widerstand entstehen (oder auch nicht), wann entstehen sie, warum und mit welcher Wirkung? Was sind die Vorteile, wo liegen die Grenzen vergleichender und verknüpfender Betrachtung?

Regensburger Area Studies

Der Universitätspräsident, Professor Dr. Udo Hebel, begrüßte in der Konferenz-Eröffnung „geschätzte Kolleg*innen und liebe Freund*innen“, unter anderem von den Universitäten Kansas und Michigan, aus den Niederlanden, Kroatien, der Ukraine und Israel, freute sich über ein „high-caliber program and excellent line-up of panels and individual scholars”. Eine multi- und transdisziplinäre Konferenz, sagte Hebel, „durchgeführt, organisiert in einem besonders gut geeigneten Rahmen, um das Thema Area Studies weiterzuführen. Systematisch institutionell überlappend über die letzten Jahre zeigen Konferenzen dieser Art, wie sich am Standort Regensburg in neuen Dimensionen entfaltet hat, was Area Studies sein können“.

UR-Präsident Prof. Dr. Udo Hebel bei der Eröffnung der Konferenz. Foto: Julia Dragan/UR

Insbesondere das 2017 gegründete CITAS (Center for International and Transnational Area Studies) verknüpft Leibniz-WissenschaftsCampus (LWC) und UR, darüber hinaus tun dies das Regensburg European American Forum (REAF) oder die Graduiertenschule Ost- und Südosteuropa (UR). CITAS trat in der Konferenz zum letzten Mal als Co-Veranstalter auf, denn neue Department-Strukturen sind entstanden: DIMAS, das neue, von vier Fakultäten getragen Department für Interdisziplinäre und Multiskalare Area Studies, mit sechs neuen Professuren aus der Hightech-Agenda Bayern, die alle besondere, transdisziplinäre Denominationen haben.

Konferenzchoreographie und Teilnehmende gingen mit den Themen und Räumen der Konferenz Hand in Hand, so der Universitätspräsident, die institutionelle Partnerschaft der Universität Regensburg mit der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg würdigend, an der die Wissenschaftler*innen am zweiten Konferenztag tagten. Die Kooperation mit dem Regensburger Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) und den letztlich alle Einrichtungen verknüpfenden Leibniz-WissenschaftsCampus Europe and America in the Modern World charakterisierte Universitätspräsident Hebel als besondere und bedeutende Möglichkeit zur Entwicklung gemeinsamer Ideen.

Professor Dr. Ulf Brunnbauer, wissenschaftlicher Direktor von IOS und LWC, dankte den Tagungsverantwortlichen für die besondere und passende Thematik ihrer Konferenz, welche die grundlegende Idee hinter dem WissenschaftsCampus aufgreife, nämlich „über den Zustand des Menschen in der globalen Welt nachzudenken“, darüber, „wie der Mensch in dieses ständige Wechselspiel zwischen menschlichem Handeln, zwischen dem Streben nach Freiheit und mächtigen Strukturen, die die Freiheit einschränken, verwoben ist. Unfreie Räume sind offensichtlich extrem, aber auch eine paradigmatische Arena, in der wir die Geschichte der Moderne mit all ihren inhärenten Widersprüchen und Ambiguitäten studieren können.“

Wissenschaftlicher Direktor von LWC und IOS, Prof. Dr. Ulf Brunnbauer. Foto: Julia Dragan/UR

Begegnungen mit Räumen und Schauplätzen

Die Konferenz tagte an drei Räumen und drei Orten: im IOS in der Regensburger Innenstadt, im Seminarzentrum der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und auf dem UR-Campus. Nicht zufällig: „Die einzigartige Kooperation zwischen der Universität und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg ebenso wie das Zentrum Erinnerungskultur an der Universität Regensburg - diese Zusammenarbeit gibt immer wieder Impulse für Projekte und Initiativen“, sagte Dr. Birgit Hebel-Bauridl, den Tagungsort Flossenbürg besonders hervorhebend, wo in den ehemaligen Räumen des SS-Kasinos auf dem Gelände der heutigen Gedenkstätte nun ein Seminarzentrum untergebracht ist. „Dort sind wir Teil der Neudefinition dieses Raumes. Wir werden unsere akademische Arbeit, die Wissensproduktion, den Austausch und das soziale Gespräch in den ehemaligen Räumen der Täter*innen fortsetzen.“  So erlebten die Teilnehmenden die Macht der Erinnerung, die Vergangenheit und Zukunft zusammenführe, zugleich „werden wir unserer eigenen Verantwortung in und zwischen Raum und Zeit bewusst“.

Leiteten die Tagung: Dr. Birgit Hebel-Bauridl und Prof. Dr. Sabine Koller. Foto: Julia Dragan/UR

Julius Scharnetzky, leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte, und Dennis Forster aus der Bildungsabteilung geben den Konferenzteilnehmer*innen vor Ort bewegende Einblicke und tauschen sich in einer Diskussionsrunde mit den Tagungsteilnehmer*innen intensiv über transnationale Dimensionen der Erinnerungsarbeit aus. Auch Professor Dr. Jörg Skriebeleit, Leiter der Gedenkstätte und Co-Direktor des Erinnerungszentrums, schließt sich den gemeinsamen Gesprächen an.

Professorin Dr. Sabine Koller erklärte, der LWC widme sich „interdisziplinären, transkomparativen, multiskalaren, transregionalen und kritischen Area Studies und konzentriert seine Aktivitäten und Forschungen auf die komplexen Verflechtungen mehrerer Regionen auf beiden Seiten des Atlantiks.“ Besonderen Fokus legten Slavistin Koller und Amerikanistin Hebel-Bauridl in ihrer Konferenz auf zwei der fünf interdisziplinären LWC-Forschungsmodule, an denen sie beide beteiligt sind bzw. die sie jeweils ko-koordinieren: Das Modul Towards Multi-Polar and Multi-Scalar Area Studies widmet sich unter anderem methodologischen und epistemologischen Fragen; das Modul Practices of Belonging, im Deutschen mit dem Begriff Verheimatlichung beschrieben, erforscht Arten von Zugehörigkeit und ihre sozialen, kulturellen und literarischen Praktiken in einer mobilen und vernetzten Welt. Die beiden Wissenschaftlerinnen verstehen den LWC „als eine Einladung und Gelegenheit zu interdisziplinärer Arbeit und Konversation, egal ob wir sie trans-, multi-, cross- oder interdisziplinär nennen“, sagte Koller. „Der ScienceCampus ermutigt uns nicht nur - im besten Sinne von Mieke Bal - unsere Konzepte zwischen unseren Disziplinen reisen zu lassen und Perspektiven, Wissen und Fragen auszutauschen. Im Idealfall ermöglicht er uns auch, gemeinsam zu reisen.“

„Wir wollen gemeinsam reisen“

Die gemeinsame Reise, die gegenseitige Vermittlung von Wissen und Erfahrungen und im Idealfall Schaffung neuen Wissens, neuer Erfahrungen – so beschrieben die Initiatorinnen der Konferenz ihre Vision. „Positiv konnotierte und meist weiße westliche Narrative präsentierten die Moderne als menschlich orchestrierte Entwicklung, als Fortschritt, als Innovation oder als von philanthropischen Dimensionen der Rationalität gerahmt.“ In diesem Projekt jedoch, und insbesondere im Kontext der Multidisziplinarität und Multivokalität des WissenschaftsCampus, „wollen wir die Herausforderungen, die Gegenentwürfe und die Neuerzählungen der Moderne hervorheben“.

Stimmen wie die von Ruth Wilson Gilmore, die an prominenter Stelle "Freiheit als zentralen Widerspruch der Moderne" beschwört, "präsentieren uns auf vielfältige Weise die Vielfalt der Kritiken und alternativen Versionen oder vielmehr Versionen, die nicht alternativ oder am Rande, sondern im Zentrum stehen“, sagte Hebel-Bauridl. „Wir laden Sie ein, die Erfahrung der Unfreiheiten der Moderne besonders am Schnittpunkt von Raum und kulturellen Gegenreaktionen zu diskutieren.“

Das von den Tagungsverantwortlichen bewusst offen gehaltene Konferenzprogramm blickte in drei Tagen auf die kulturelle Dynamik individueller und kollektiver materieller, sozialer, ökologischer, kultureller und virtueller Räume. Im Blickpunkt standen Interaktionen, Verflechtungen, Bewegungen zwischen Räumen, Zeitlichkeit des Raums und dieser innewohnenden Projektionen aus der und in die Vergangenheit. Zu den Themen der Konferenz gehörten der grundsätzliche Zugang zu Raum, die eigene soziale, kulturelle und politische Beziehung zum Raum. Fragen der Macht über Räume, in denen sich Menschen freiwillig oder gezwungenermaßen aufhielten oder bewegen. Vorträge, Lesungen, Gespräche thematisierten Sklaverei, Gefangenschaft, Lager, Migration, Vertreibung, Flucht, wirtschaftliche und ökologische (Un-)Gerechtigkeit, Kolonialismus, Segregation, den Krieg in der Ukraine als persönliches und kollektives Trauma wie auch als Einschnitt in die Wissensproduktion sowie das Erleben von wissenschaftlicher Unfreiheit in Russland.

 Bei der internationalen Konferenz "Unfree Spaces in the Modern World". Foto: Julia Dragan/UR

“Poetry is not a luxury”

Mehrere Konferenzbeiträge greifen auf, welch wichtige Funktion Literatur, Poesie und Kultur im Erleben von Unfreiheit übernehmen. So der Keynote-Vortrag „The Theme of Poetry Recital in Concentration-Camp Literature“ der in Vilnius geborenen Wissenschaftlerin Professorin em. Dr. Leona Toker. Sie lehrt englische Literatur an der Hebrew University of Jerusalem und am Shalem Academic College in Israel und publiziert einschlägig zu KZ- und GULAG-Literatur im Vergleich.

„Poesie ist kein Luxus“, zitiert Koller zu Tagungsbeginn und bei der Verabschiedung am letzten Tag die Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lord, die sie stattdessen als „existentielle Notwendigkeit“ begreift. Leona Toker erzählt von Intellektuellen, die in Konzentrationslagern und Gefängnissen inhaftiert waren und überlebten, um im Anschluss daran ihre Geschichte zu erzählen. Eine zentrale Rolle im Überleben von Gefangenschaft, sagt Toker, spielten Gedichte. Intellektuelle wie Alexander Solschenizyn oder Warlam Schalamow erfuhren Unfreiheit, Erniedrigung, Folter. Poesie übernahm in diesen Lebensabschnitten für sie eine besondere Funktion: Die Inhaftierten rezitierten auswendig gelernte Gedichte, zogen daraus die Kraft, ihren Alltag erträglicher zu machen.

Innere (Frei-)Räume entstanden; Gedichte ermöglichten die gedankliche, mentale, intellektuelle Flucht vor tyrannischen Regimen, in Räumen, die dazu geeignet sind, Poesie aus dem Bewusstsein des Subjekts gänzlich auszulöschen. Toker liest und analysiert Metrik und Inhalte der in den Lagern rezitierten Gedichte; sie bringt sie in Zusammenhang mit der künstlerischen Aufarbeitung von Gefangenschaft. Neben einer Vielzahl russischer Autor*innen, unter ihnen Evgenija Ginzburg, erinnert Toker an Jorge Semprún, der über sein Leiden als Häftling im KZ Buchenwald literarisch Zeugnis ablegte, an Primo Levi, der über seine Lagerhaft im KZ Auschwitz publizierte.

Prof. Leona Toker. Foto: Julia Dragan/UR

Letters to Martin

Unfreiheit und Demokratie, weißes und schwarzes Amerika thematisiert Randal Maurice Jelks am Abend des ersten Konferenztags. Jelks ist Professor für Amerikanistik sowie für African and African American Studies an der University of Kansas, Public Intellectual, Pastor und mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller. Er hat mit Letters to Martin: Meditations on Democracy in Black America unlängst eine Sammlung von zwölf literarischen Essays in der Form von Briefen an Martin Luther King Jr. veröffentlicht. In seinem Essay-Band thematisiert Jelks wirtschaftliche Ungleichheit, Versammlungsfreiheit, Polizeibrutalität, soziale und Klassenkonflikte – Themen in der amerikanischen Öffentlichkeit, mit globaler Geltung.

In Regensburg liest Jelks seinen Brief „We as a people “. Der Autor sucht den diskursiven Raum, nimmt sich viel Zeit für Fragen. Seine Forschung zu Religion in den USA und zur Geschichte sozialer Bewegungen fließen in den Abend ein. Das übliche Narrativ bei der Darstellung von Martin Luther King Jr. und seinem Wirken werde oft auf ein simples, gewaltfreies Moralspiel zwischen bösen weißen Südstaatlern und edlen Schwarzen reduziert, erzählt Jelks. Doch „Kings Traum war radikal demokratisch“. Ein Gespräch über „weness“ und „otherness“ entspinnt sich. Jelks nutzt es, um kulturelle Zusammenhänge aufzeigen, er analysiert die US-amerikanische Gesellschaft, stellt persönliche Überlegungen an - zu Teilhabe, zu Menschlichkeit, zu Demokratie. Welche Rolle kann die akademische Gemeinschaft übernehmen, fragt Hebel-Bauridl. “Go out to community groups and teach. We have to engage“, antwortet Jelks, der nachdrücklich in allen Lebenslagen das Zuhören empfiehlt. Die Menschen erlebten Vieles und Verschiedenes, nicht auf alles hätten die Universitäten Antworten. „Be humble!“

Prof. Randal Maurice Jelks und Dr. Birgit Hebel-Bauridl. Foto: Julia Dragan/UR

Revolution der Geduld

Möglichkeiten der Teilhabe treiben auch den Freiburger Slavisten Professor Dr. Heinrich Kirschbaum um. Er liest zum Abschluss der Konferenz aus seinem Buch Revolution der Geduld. Kirschbaum, UR-Alumnus, blickt auf Belarus, erzählt vom Sommer 2020 in Minsk. Dort gingen die Menschen auf die Straße, um für Demokratie und Freiheit zu kämpfen. Schnell war die Rede von einer Revolution, doch alles blieb, wie es war. Stille, ausdauernde Märsche durch die Hinterhöfe hat Kirschbaum beobachtet. Er berichtet von der Hilfsbereitschaft der an den Märschen Teilnehmenden und von der Unterstützung der belarussischen Diaspora in Berlin, die lauter zu sein schien als die Belaruss*innen in der Heimat.

Eine „Bricolage“ ist aus diesen Überlegungen und Beobachtungen entstanden, eine literarische Bastelei der Reflexionen. Kirschbaum erzählt von Sprachen, Geschichte, Poesie der Region. Er diagnostiziert eine Art Dauerrevolution, eine „Revolution der Geduld“. Er versteht die belarussischen Proteste nicht als singuläres Ereignis, sondern entdeckt in ihnen die Beharrlichkeit der Menschen in Belarus, die nach Veränderung und Selbstorganisation streben: Kirschbaum glaubt an die Entstehung einer Zivilgesellschaft jenseits sanktionierter Machtgefüge.

Prof. Dr. Heinrich Kirschbaum. Foto: Julia Dragan/UR

„Als wir diese Konferenz vorbereiteten, als wir über Fragen von freien oder unfreien Räumen in Europa, Russland, Amerika oder anderswo sprachen, waren wir fasziniert davon, wie oft wir in ein interdisziplinäres Gespräch über unterschiedliche und vielleicht gar nicht so unterschiedliche Reaktionen auf die Erfahrungen der Unfreiheit geraten würden“, konstatierten Professorin Dr. Sabine Koller und Dr. Birgit Hebel-Bauridl zu Beginn der Konferenz. Das Ziel, diese Reaktionen und ihre Dimensionen in ganz vielfältiger Hinsicht zu untersuchen, erreicht der akademische Diskurs. Eindeutig aber auch der Appell bei der Verabschiedung der internationalen Gäste: „Wir reisen gemeinsam weiter!“

Bei der internationalen Konferenz "Unfree Spaces in the Modern World". Foto: Julia Dragan/UR

twa.

Informationen/Kontakt

Zu den Biographien der vortragenden Wissenschaftler*innen und Abstracts ihrer Tagungsbeiträge
Kooperationspartner*innen und Sponsor*innen der Konferenz „Unfree Spaces in the Modern World“ des Leibniz-WissenschaftsCampus:  Universität Regensburg, KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, IOS, REAF, Slavisch-Jüdische Studien, CITAS, DIMAS, GS OSES (UR), Universitätsstiftung Hans Vielberth, German-American Center Stuttgart.

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