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Das Stück und die Bearbeitung

von Lea Marquart


The Tempest wurde 1611 am Hof Jakobs des I. zum ersten Mal aufgeführt. In dem komplexen Stück aus Shakespeares Spätwerk treffen Romanzenmotive wie ein Schiffbruch auf einer abgelegenen Insel und typische Komödienszenen auf Reflexionen über Kolonisierung und die Utopie einer gewaltfreien Gemeinschaft. Eine einzelne Textvorlage gibt es nicht, als Quellen gelten unter anderem zeitgenössische Berichte über den realen Schiffbruch des Schiffes Sea Venture auf den Bermuda-Inseln 1609–10, aber auch Michel de Montaignes Essay Of the Cannibals, der 1605 ins Englische übersetzt wurde.[1] Einerseits lädt das pastorale Setting des Stückes zur Exotisierung ein: eine ferne Insel, „full of noises, sounds and sweet airs“, auf der einst die Hexe Sycorax und nun der Zauberer Prospero über den Geist Ariel und das halbmenschliche Wesen Caliban – im First Folio von 1623 eingeführt als „savage and deformed slave“ – herrschen. Andererseits werden im Stück sehr grundlegende menschliche und gesellschaftliche Beziehungen verhandelt. Zwischen Vater und Tochter, König und Untertanen, Herrn und Sklaven offenbaren sich Dynamiken von Autorität und Tyrannei, Macht und Intrigen, Gehorsam und Rebellion, Rache und Vergebung. Darüber hinaus zeichnet sich The Tempest durch doppelte Theatralität aus. Alles, was auf der Insel geschieht, ist von Prospero inszeniert, gleichsam zahlreicher Stücke im Stück, vom Schiffbruch über die Mordkomplotte Antonios und Sebastians sowie Stephanos, Trinculos und Calibans bis hin zur Liebe zwischen Miranda und Ferdinand. Prospero kontrolliert die Handlung mit Hilfe seiner magischen Kräfte, die er am Ende, vor seiner Rückkehr als rechtmäßiger Herzog von Mailand, jedoch freiwillig aufgibt – ein Verzicht, der häufig als Shakespeares eigener Abschied von der Bühne gedeutet worden ist.[2]

So divers wie die Quellenlage ist auch die Aufführungspraxis. Die Rezeption des Stückes wird vor allem von seinen kontroversen Charakteren bestimmt. Verstehen wir Prospero als gutmütigen Magier oder autoritären Tyrannen? Ist Caliban ein Monster, das keine Reue über seine versuchte Vergewaltigung Mirandas empfindet, oder steht er, der von Prospero versklavt wurde, für die globalen Opfer von Imperialismus und Unterdrückung? Postkoloniale und feministische Inszenierungen des 20. und 21. Jahrhunderts stellen nicht nur Caliban, sondern auch Ariel und Miranda in den Mittelpunkt.[3] In der Beziehung dieser Nebenfiguren zu Prospero rückt die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft in den Blick. Wessen Abhängigkeit ist stärker, die Ariels und Calibans von Prospero, dem sie dienen müssen, oder die Prosperos von seinen Knechten, die ihm ihre magischen und physischen Kräfte leihen? Und wie sind diese Charaktere durch Schuld, Gewissen und Vergebung miteinander verbunden?


Zeichnung CalibanDie vorliegende Bearbeitung von Nele Heaslip inszeniert The Tempest mit den gestalterischen Mitteln der Graphic Novel.[4] So wird die Leser:in in den ersten Panels von der vollen Dramatik des Schiffbruches regelrecht erfasst – Unwetter, Wellen, die Schieflage, das Bersten des Schiffes und schließlich Ferdinand, der scheinbar in den Tiefen des Meeres versinkt. Auch im weiteren Verlauf eröffnet die Form der Graphic Novel interessante Spielräume im Umgang mit Raum und Zeit. Rückblenden ermöglichen Blicke auf die Vergangenheit, zum Beispiel auf Mirandas Kindheit und Prosperos früheres Leben in Mailand. Szenen, die sich gleichzeitig an verschiedenen Schauplätzen auf der Insel abspielen, werden nebeneinander gezeigt und machen so Parallelen zwischen den Handlungssträngen sichtbar, zum Beispiel wenn sich Prosperos eigene Gewissensbisse in denen der Schiffbrüchigen widerspiegeln, an denen er gerade Rache übt. Ausdrucksstarke Gestik und Mimik, nicht unähnlich der von Schauspieler:innen auf einer Bühne, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Charaktere und ihre Emotionen und Motive, allen voran, auch in dieser Inszenierung, auf Caliban als zentrale Figur. Es sind vor allem die Pausen in textlosen Panels – bedeutungsvolle Blicke, die zwischen Miranda und Caliban getauscht werden, ein sichtbares Zögern, bevor Prospero sich für Vergebung statt Rache entscheidet –, die Text und Bild in eine produktive Spannung zueinander bringen.

In diesem Spiel mit den Lücken im Text kommt die Form der Graphic Novel einer Inszenierung auf der Bühne näher als eine Romanadaption das könnte. Auch deshalb sind Bearbeitungen klassischer Dramen als Graphic Novels zu einem gerne genutzten Mittel im fremdsprachigen Unterricht geworden.[5] Sie sollen, häufig in vereinfachter Sprache und gekürzter Form, Schüler:innen und Studierenden den Zugang zum Text erleichtern.[6] Die vorliegende Bearbeitung übernimmt den Originaltext hingegen weitgehend ungekürzt. Die Graphic Novel kann aber nicht nur den Zugang zum Blankvers Shakespeares erleichtern und so Leseinteresse fördern, sondern verlangt auch weitere Lesekompetenzen. Neben dem reinen Leseverstehen sind Seh- und (kulturelles) Bildverstehen genauso wie Filmverstehen, zum Beispiel im Nachvollziehen von Bildsequenzen und Perspektivenwechseln, sowie Verstehensstrategien für Erzählungen und Erzählwissen beteiligt.[7] Graphic Novels wie die vorliegende Bearbeitung von The Tempest erfordern und vermitteln also den Umgang mit sehr unterschiedlichen Literalitäten und können so ein wichtiger Baustein in der Leseförderung sein. Nicht zuletzt eröffnen sie den Zugang zu und erwecken Interesse an komplexen Charakteren und Geschichten.


Lea Marquart
Bibliotheksreferendarin an der UB Regensburg 2019/2020


[1] Virginia Mason Vaughan und Alden T. Vaughan, „Introduction.” The Tempest, von William Shakespeare. The Arden Shakespeare. Revised Edition. London: Bloomsbury, 2011 [1999], S. 54ff.

[2] Mason Vaughan und Vaughan, „Introduction”, S. 74.

[3] Vgl. Mason Vaughan und Vaughan, “Introduction”, S. 73ff.

[4] Randy Duncan und Matthew J. Smith, “How the Graphic Novel Works.” The Cambridge Companion to the Graphic Novel. Cambridge: Cambridge University Press, 2017, S. 10–14.

[5] Siehe z.B. das Themenheft der Zeitschrift Der fremdsprachliche Unterricht Englisch zu Graphic Novels (Heft 117, 2012).

[6] So z.B. der britische Verlag Classical Comics, der Bearbeitungen zahlreicher Shakespeare-Stücke in drei Versionen – mit Originaltext, mit vereinfachtem Prosatext und in gekürzter Form – anbietet.

[7] Wolfgang Hallet, „Graphic Novels. Literarisches und multiliterales Lernen mit Comic-Romanen.“
Der fremdsprachliche Unterricht Englisch, Heft 117, 2012, S. 7.

Caliban


The Tempest

William Shakespeare
The Tempest

illustrated by Nele Heaslip


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